Ein überzeugter Europäer – Jürgen Trittin über Helmut Kohl als demokratischen Gegner

Helmut Kohl – Was bleibt? © Thomas Tröster
Helmut Kohl – Was bleibt? © Thomas Tröster

Von Jürgen Trittin

Wenn ich gebeten werde, etwas zu Helmut Kohl zu schreiben, gilt es vorab die eigene Befangenheit offenzulegen. Ja, auch ich habe über Hans Traxlers Figur der Birne gelacht.

Vor allem aber: Ich habe viele Jahre meines politischen Lebens aktiv darauf hingewirkt, Helmut Kohls Kanzlerschaft zu beenden. Helmut Kohl hätte dafür Verständnis gehabt. Er verstand Demokratie als Kampf – als Kampf um demokratische Mehrheiten.

Demokrat

Obwohl Helmut Kohl 16 Jahre lang zunächst die alte Bundesrepublik Deutschland und dann die neue regierte, wusste er, dass Macht in der Demokratie immer nur zeitlich begrenzt ist. Das hatten ihn nicht zuletzt die vielen Versuche aus seiner eigenen Partei gelehrt, ihn zu stürzen.

Kohl hatte fast eine prophetische Ahnung davon, dass er eines Tages von Gerhard Schröder abgelöst werden würde. Anfang der 90er Jahren hatten es in Niedersachsen Grüne und Sozialdemokraten geschafft, sich gegen den langjährig regierenden Ernst Albrecht von der CDU durchzusetzen. An einem der Standardtermine zur Hannover Messe verkündete Kohl dann beim Aperitif, dass „ihr das machen werdet“ und blickte auf Schröder und seinen grünen Europaminister, mich.

Wir haben uns alle Mühe gegeben Kohls Erwartung gerecht zu werden. Wir blockierten seine große Steuerreform mit der Mehrheit von SPD und Grünen im Bundesrat. Wir lieferten ihm einen Dauerkonflikt um die Atomenergie. Aber zunächst vergebens. 1994 gelang es den Grünen zwar wieder in den Bundestag zurückzukehren. Aus dem hatten sie sich durch eigene strategische Zerstrittenheit 1990 rausgekegelt. Die SPD aber verlor die Bundestagswahl krachend.

Ich verlegte mein Tätigkeitsfeld von Niedersachsen nach Bonn in den Bundesvorstand der Grünen. Zusammen mit Krista Sager und später Gunda Röstel wollte ich unsere Partei so fit machen, dass 1998 endlich die Ära Kohl beendet werden konnte. Wir hatten gute Gründe dafür.

Die geistig-moralische Wende, die Kohl beim Wechsel der FDP von der SPD zur Union versprochen hatte, hatte weniger getragen als der sehr weitgehende Ausverkauf öffentlicher Dienstleistungen. Es gibt heute Wirtschaftswissenschaftler, die meinen belegen zu können, dass die ökonomische Liberalisierung unter Kohl in Deutschland weiterging als in Maggie Thatchers Großbritannien.

Vor allem aber türmte sich unter Kohl in der Gesellschaftspolitik und in der Energiepolitik ein riesiger Modernisierungsstau. Ein Jahrzehnt nach der Erschütterung durch die Deutsche Einheit verlangte das Land nach Veränderung. Und so behielt Kohl recht.

1998 wurde Kohl von einer rot-grünen Mehrheit abgewählt. Und die Öffentlichkeit erlebte einen ungewohnten Kanzler. Bei der Elefantenrunde am Wahlabend beglückwünschte er Schröder und mich aufrecht und selbstbewusst zum Wahlsieg. Kohl zögerte nicht eine Minute, seine Wahlniederlage anzuerkennen.

Das mag selbstverständlich erscheinen. Aber wir leben nicht mehr in selbstverständlich demokratischen Zeiten. Heute erleben wir einen US-Präsidenten wie Donald Trump. Der hatte schon bei der letzten Wahl keine Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern, sondern nur eine unter den Wahlfrauen und –männer. Nun setzt er alles daran, eine mögliche Niederlage schon im Vorfeld für illegitim zu erklären. Trump könnte da von Kohl lernen.

Kämpfer

Doch vor Sieg und Niederlage stand für Kohl der demokratische Kampf. Und der bestand für ihn vor allem im Kampf gegen die Sozen – ein Wort, das er wie Sozzen aussprach. Es war ein Kampf, bei dem er in der Wahl der Mittel nicht wählerisch war.

Die Dualität der beiden großen Volksparteien prägte seine Welt, seine Konflikt- und seine Gefühlslage. Die oder wir, das war seine Ausgangsposition. Und so sprach er über die SPD als Gegner auch im kleinen Kreis, etwa als Gunda Röstel und ich 1997 dem damaligen CDU-Vorsitzenden im Kanzleramt einen Antrittsbesuch abstatteten.

In Kohls Kampf ging es weniger um Ideologie. Kohl konnte, das zeigen seine Verhandlungen mit Gorbatschow, realpolitisch äußerst flexibel mit Kommunisten umgehen. Die Ideologie war für ihn Mittel zur Macht – nicht Glaubenssache. Welche Volkspartei hat die Nase vorn. Das war für ihn wichtiger als die Frage rechts oder links.

In diesem Kampf schreckte er auch vor robusten Mitteln nicht zurück. Das Bild von seiner Watschenattacke gegen Demonstranten in Halle ist legendär. Ich frage mich, wie Kohl wohl auf jene PEGIDA Demonstranten reagiert hätte, die vor einigen Jahren die zentrale Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden mit Angela Merkel wüst attackierten.

Doch für ihn rechtfertigte der politische Kampf auch Mittel jenseits der Legalität. Das beginnt mit der Bräsigkeit, mit der Kohl versuchte, Hans-Christian Ströbele daran zu hindern, die Parteispendenaffäre aufzuklären, die Otto Graf Lambsdorff das Amt kostete und eine Verurteilung einbrachte.

Und es endete mit der Weigerung jene angeblichen Parteispender zu nennen, von denen er 1,5 bis 2 Millionen D-Mark angenommen hatte. Er stellte die Verschleierung von Parteieinnahmen höher als das Recht – und war bereit, dafür 300.000 DM Strafe zu bezahlen. Doch im demokratischen Machtkampf steht niemand über dem Gesetz. Der Parteispendenskandal wirft einen großen und dunklen Schatten auf sein Wirken.

Europäer

Helmut Kohl hat mit seinem politischen Instinkt und seinem Machtbewusstsein beim Zerfall der DDR sofort jenes Vakuum gesehen, das die Runden Tische der Bürgerbewegung nicht zu füllen vermochten. Er schob deren politischen Prozess zugunsten eines Vereinigungsdiskurses harsch beiseite.

Genauso erkannte er die Gelegenheit, die sich aus der Schwäche der Sowjetunion ergab. Er forcierte eine Einheit, die im Ergebnis der Anschluss der DDR an System und Staat der alten Bundesrepublik war. Als Umfragen ihm dafür Unterstützung versprachen, führte er gegen den Rat unzähliger Experten fast über Nacht die DM in der DDR ein. Die Folge waren massive gesellschaftliche Brüche, Konkurse, Abwanderung und Arbeitslosigkeit. Eine gesellschaftliche Vereinigung fand auf dieser Grundlage nicht statt. Der Prozess vom Zusammenwachsen ist bis heute nicht abgeschlossen.

Aber Kohl wurde der Kanzler der Einheit. Doch paradoxerweise war der Kanzler der Einheit nicht jener Nationalist, als den ihn Viele zur Linken kritisierten. Angesichts massiven Widerstands gegen eine deutsche Vereinigung – gerade aus Großbritannien – wusste er, dass die Vereinigung nur im Schulterschluss mit Frankreich zu erreichen war. Deutschland musste sich unwiderruflich in das gemeinsame Europa einbinden.

Kohl war bereit, dafür das einzige nationale Symbol der alten Bundesrepublik zu opfern – jene D-Mark die er gerade zum Anschluss der DDR genutzt hatte. Die Einführung des Euro war der Preis der Einheit. Der Euro war von Beginn an vor allem ein politisches Projekt, auch wenn Deutschland in den folgenden Jahren vom Ende der innereuropäischen Auf- und Abwertung von Währungen massiv profitierte.

Nicht erst heute sind die Defizite einer Währungsunion ohne Finanz- und Wirtschaftsunion offensichtlich. Sie waren damals schon bekannt. Heute geht es darum diese Defizite zu beheben, statt den Euro aufzugeben. Wenn Europa in Folge der Coronarezession erstmalig Anleihen auf den Euro ausgibt, zeigt uns dies eine Angela Merkel auf den Spuren Helmut Kohls. Nicht nur einmal hatte der Bimbes-Kanzler Kohl Konflikte in der EU mit Geld kalmiert.

Die Deutsche Einheit und der Vertrag von Maastricht sind nicht voneinander zu trennen. Helmut Kohl ist sich dabei treu geblieben. Als junger Mann riss er an der deutsch-französischen Grenze Schlagbäume ein, um für ein gemeinsames Europa zu streiten.

Als ehemaliger Hausbesetzer kann ich ihm dafür nur Respekt zollen. Helmut Kohl war ein überzeugter Europäer.

Titelbild:

© Thomas Tröster

Helmut Kohl – Was bleibt?

ISBN-13: 978-3-96940-465-2
2. überarbeitete Auflage 2023

Engelsdorfer Verlag
Preis: 18,00 Euro

Über Jürgen Trittin 1 Artikel
Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2009-2013 war er Fraktionsvorsitzender der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. In den Jahren 2005-2009 arbeitete er als Koordinator des Arbeitskreises Internationale Politik und Menschenrechte der grünen Bundestagsfraktion. Trittin war von 1998-2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 1994-1998 Sprecher des Bundesvorstands der Bündnis 90/ Die Grünen. In den Jahren 1990-1994 war Trittin Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in Niedersachsen.