Neustart oder Fehlstart? Fünf Erkenntnisse nach knapp 100 Tagen

Bundestagskuppel, Quelle: SGL

Neustart oder Fehlstart? Nach knapp 100 Tagen, die die neue Bundesregierung nun im Amt ist, mag man zu unterschiedlichen Antworten auf diese Frage kommen. Klar ist nur: Jedwede Regierung hätte es schwer, eine stringente und konsequente Politik zu machen, denn die Welt ist komplex und die Lage mehrdeutig. Einfache und eindeutige Lösungen gibt es nicht. Was heute richtig scheint, kann morgen schon falsch sein. Die Merz-Regierung ist daher – nicht überraschend – mit ungefähr den gleichen Problemen konfrontiert ist wie die Ampel, die bereits Geschichte ist, weil sie trotz allen Ambitionen nicht die Kraft dazu hatte, das erforderliche Maß an Veränderungen und Reformen durchzusetzen. Im Kanzleramt wird jetzt zwar mehr Außenpolitik gemacht, im Wirtschaftsministerium zieht wieder mehr Ordnungspolitik ein und im Finanzministerium geht es neben dem Sparen auch um Investitionen. Doch man muss bereits jetzt konstatieren, dass sich die Probleme auch nicht einfach durch eine neue Regierung und schon gar nicht mit nur mehr Geld lösen lassen. Fünf Erkenntnisse lassen sich nach 100 Tagen dennoch – auch als Ausblick auf die kommenden Monate – ziehen.

Erstens: Politik gewinnt keine Kulturkämpfe

Der tiefe ökonomische Strukturwandel fällt in eine Zeit ebenso tiefer gesellschaftlicher Konflikte. Politik sollte die Kulturkämpfe nicht selbst befeuern, denn die politische Kompromissfähigkeit und damit die gesellschaftliche Akzeptanz von Politik wird dadurch lediglich herabgesetzt. Politik sollte möglichst wenig in die Lebensentwürfe der Menschen eingreifen. Vielfalt und Emanzipation sind in einer offenen und liberalen Gesellschaft nie das Problem, werden aber von Populisten gerne zu Kulturkämpfen gemacht, wenn es zu Konflikten kommt. Aus der Mitte der Gesellschaft – und somit von Demokraten – sollten niemals Kulturkämpfe geführt werden; sie zerstören Gesellschaft.

Zweitens: Schulden sind noch keine Investitionen    

Die neue Bundesregierung hat sich enorme zusätzliche Ausgaben- und Verschuldungsspielräume geschaffen. Doch die „Investitionen“ in die Verteidigung und in die Klimaneutralität erhöhen das volkswirtschaftliche Produktionspotenzial nicht. Sie führen daher entweder zu einer Verringerung des volkswirtschaftlichen Konsums oder sie gehen, was langfristig noch schlimmer wäre, zu Lasten anderer wichtiger Investitionen. Die Politik muss daher sehr genau darauf achten, was wirklich investive und was eigentlich konsumtive Ausgaben sind, wenn sie die fiskalischen Spielräume verantwortungsvoll nutzen will. Das Problem ist jedoch: Je später die Politik im Strukturwandel dran ist, desto kurzfristiger und somit konsumtiver werden ihre Motive. Der laufende Haushalt wird konsumtiver, während Investitionen ins Sondervermögen verschoben werden. Politischer Mut bedeutet nicht, mehr Schulden zu machen, sondern vor allem, wieder langfristig zu handeln.

Drittens: Soziale Probleme lassen sich nicht allein durch Umverteilung lösen

Eine unbequeme, aber wichtige Erkenntnis ist: Soziale Probleme lassen sich nie vollständig durch (unbestritten erforderliche) Umverteilung lösen. Es geht nicht zuallererst darum, Reichtum zu begrenzen, sondern darum, Armut zu beseitigen. Ein Sozialstaat ist, damit er überlebensfähig ist, notwendig einer, in dem das Leistungsprinzip gelten muss. Denn sonst kommt es infolge sich verstärkender Fehlanreize zu einer Überforderung. Das gilt auch für die Renten, die zu einem fiskalischen Damoklesschwert geworden sind. Man kann mit einer konstanten Zahl an Erwerbsjahren nicht eine immer längere Phase der Rente finanzieren.

Viertens: Bürokratieabbau ist nicht genug

Alle reden zurecht von den überbordenden Lasten der Bürokratie. Diese müssen natürlich deutlich und schnell abgebaut werden. Doch es geht um weit mehr, nämlich um einen generellen institutionellen Wandel. Entscheidungsträger sind zu Bedenkenträgern geworden, Routinen zu Fortschrittsbarrieren und Privilegierte zu Verteidigern des Status quo. Kreativität und Produktivität lassen sich nur dann entfalten, wenn genügend Raum dafür ist und Wettbewerb herrscht. Im Moment behindern sich Staat und Markt gegenseitig, indem der Staat unternehmerische und der Markt administrative Aufgaben übernimmt. Der Staat zwingt zudem die Unternehmen durch die kleinteilige Regulierung in inkrementelle Produktinnovationen, wo eigentlich radikale Geschäftsmodellinnovationen nötig wären. Damit lässt sich kein neues Unternehmertum begründen und auch kein Risikokapital anziehen.

Fünftens: Transformation nicht stoppen

Wenn es heißt, es werde wieder mehr Ordnungspolitik im Bundeswirtschaftsministerium gemacht, dann ist das gut, es darf aber nicht heißen, die begonnene Transformation abzubrechen. Es muss um einen anderen – stärker marktwirtschaftlichen – Weg zum Ziel gehen, nicht um ein anderes Ziel. Transformation ist sowohl ein Steuerungsproblem als auch ein Entdeckungsverfahren. Industriepolitik gilt politisch oft zu Unrecht als progressiv, denn gerade sie konserviert bestehende Strukturen oder sozialisiert Risiken. Die Ordnungspolitik gilt politisch oft zurecht als konservativ, aber eigentlich ist sie ein Prinzip des permanenten Wandels. Jetzt die Transformationsprozesse politisch zu stoppen, wäre fatal. Es geht darum, sie in neue Bahnen zu lenken.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass die ersten 100 Tage der neuen Bundesregierung noch nicht den spürbaren Umschwung gebracht haben, den sie selbst angekündigt hatte. Politik hat sich in sich selbst verstrickt. Weniger Politik ist daher mehr. Sie muss ihre Grenzen erkennen, damit sie wieder wirksamer sein kann. Je tiefer sie in Wirtschaft und Gesellschaft eingreift, desto unwirksamer und somit teurer wird sie. In dem Maße, wie sich Politik immer weiter ausgedehnt hat, hat sie andere Bereiche der Gesellschaft verdrängt. Gerade jetzt aber braucht es unternehmerische und kulturelle Freiräume, in denen sich Dinge abseits von Politik entwickeln können. Wir leben in einer „Schumpeter-Hayek-Welt“: Altes muss Neuem weichen und das Wissen über die Zukunft ist unvollständig. Wandel ist ein Such- und Korrekturprozess. Politik muss wieder Freiräume und Verantwortung zurückgeben, damit sie selbst wieder wirksamer werden kann.

Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik