Vor 80 Jahren begann in Nürnberg vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Prozess gegen den NS-Verbrecher und Juristen Arthur Seyß-Inquart (1892 – 1946). Zu seinen prominentesten Opfern gehörte die katholische Ordensfrau, Philosophin und Jüdin Edith Stein. Von Benedikt Vallendar.
Beide verfolgten akademische Karrieren. Und beide endeten tragisch. Er am Galgen, sie in der Gaskammer. Der eine als promovierter Jurist, die andere als Philosophin und „Patronin Europas“, zu der sie der damalige Papst Johannes Paul II. 1998 gekürt hat. Als in der Nacht zum 16. Oktober 1946 Arthur Seyß-Inquart, ehemaliger Reichsstatthalter Hitlers in den besetzten Niederlanden mit hinkendem Bein die Stufen zum Schafott bestieg, war sein mit bekanntestes Opfer, die katholische Ordensschwester, Hochschullehrerin und Jüdin Edith Stein schon vier Jahre tot; deportiert nach Auschwitz und wahrscheinlich am 9. August 1942, zusammen mit Millionen anderen eines grausamen Todes gestorben; allesamt Opfer, die Seyß-Inquart und die anderen Angeklagten zu verantworten hatten. In der historischen Fachliteratur wird auch der 10. August 1942 als Todestag Edith Steins genannt, da die NS-Bürokratie bemüht war, Spuren ihrer Verbrechen zu verschleiern.
Ähnliche Sozialisation
Gehenkt wurde Arthur Seyß-Inquart für vieles. Auch für den Mord an Edith Stein, einer Frau, der er nie persönlich begegnet ist. Fast ein Jahr war gegen ihn und seine Mitangeklagten verhandelt worden. Am Ende standen zwölf Todesurteile. Von denen elf tatsächlich vollstreckt wurden, weil sich Herrmann Göring, lange Zeit Hitlers zweiter Mann, wenige Stunden zuvor mit einer Giftkapsel das Leben genommen hatte.
Der Mörder Seyß-Inquart und sein Opfer Edith Stein waren fast gleichaltrig, sie geboren 1891 in Breslau, er 1892 im damaligen Mähren. Beide stammten aus bürgerlichen Verhältnissen und beide wurden ähnlich sozialisiert. Auch charakterlich sollen sie sich geähnelt haben; introvertiert, abwartend, analytisch und wenig zugewandt; zugleich in ihren Fachrichtungen anerkannt und beruflich ambitioniert; sie als Dozentin, er als erfolgreicher Fachanwalt für Arbeitsrecht; beide aufgewachsen in einem Umfeld, in dem Bildung, Beziehungen und Begegnungen für gewöhnlich als Koordinaten für ein gelingendes Leben gelten. Seyß-Inquarts Vater hatte es bis zum Direktor eines Gymnasiums gebracht und galt als Haustyrann, während Edith Stein den ihrigen schon im Kleinkindalter verloren hatte und von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde.
Die Adoleszenzjahre Arthur Seyß-Inquarts und Edith Steins waren geprägt von Obrigkeitsdenken und sozialer Enge, tradiertem Denken in seinem undefinierten Verhältnis zur technischen Moderne; umgeben von einer fragilen Sicherheitsarchitektur, die im Sommer 1914 in die Katastrophe des ersten Weltkrieges gemündet war. Und dreißig Jahre später mitverantwortlich war für das größte Verbrechen in der Geschichte der modernen Zivilisation. Es lässt sich nur erahnen, welchen Weg sie gegangen wären, wären sie einander begegnet; ob sich der als intelligent beschriebene Arthur Seyß-Inquart von seiner verbrecherischen Gedankenwelt hätte abbringen lassen, wäre er der feinsinnigen Edith Stein persönlich über den Weg gelaufen. Immerhin, noch auf der Nürnberger Anklagebank machte der gefallene Politiker durch gute Manieren und Eloquenz auf sich aufmerksam, zudem durch gepflegte Erscheinung und freundlichen Umgangston; auch mit den jungen US-Wärtern, die ihn und die Mitangeklagten rund um die Uhr im Auge behielten. Nach Hitlers Willen hätte Seyß-Inquart Außenminister werden sollen, als Ersatz für Joachim von Ribbentrop, einen ehemaligen Sektverkäufer und Lebemann, der in Nürnberg wiederholt zum Schrubben seiner verwahrlosten Zelle verdonnert wurde und bereits als Botschafter in London gezeigt hatte, wie wenig diplomatisches Taktgefühl er besaß. „Arthur Seyß-Inquart verstand es meisterhaft, sein teuflisches Inneres mit Eloquenz und rhetorischem Geschick zu übertünchen“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin.
Hohe kriminelle Energie
Arthur Seyß-Inquart und Edith Stein wurden von Zeitgenossen als spröde, unnahbar und wenig zugänglich geschildert; er ein Karrierist, sie eine Frau, die sich nach zwei enttäuschten Liebesbeziehungen in einen Kokon aus Büchern, Briefen und Manuskripten geflüchtet hatte; ihre eigene, hochkomplexe Gedankenwelt, in der es keineswegs so gesellig zugegangen sein dürfte wie in den bierseligen Zirkeln ihres späteren Mörders. Kaum einer in Nürnberg wollte und konnte glauben, welch ungeheuerlicher Verbrechen Arthur Seyß-Inquart, der harmlos wirkende Mitfünfziger mit Nickelbrille bezichtigt wurde. Massendeportationen in Konzentrationslager, Erschießungen und die systematische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in fünf Jahren deutscher Besatzung standen in der Anklageschrift; ebenso die systematische wirtschaftliche und kulturelle Ausbeutung eines Landes, auf dessen Kunstschätze es die NS-Bürokratie besonders abgesehen hatte. Keiner der Prozessbeobachter hätte Arthur Seyß-Inquart, dem einst erfolgreichen Wiener Advokaten zugetraut, was in den Akten stand. Den Einmarsch Hitlers in Österreich im März 1938 hatte er politisch vorbereitet, als Innenminister gedient und zwei Tage lang von Hitlers Gnaden das Amt des Bundeskanzlers bekleidet. Österreich an das Deutsche Reich anzugliedern, alle Deutschen unter einem „Führer“ zu vereinen, sei sein Lebenstraum gewesen, berichtete er 1945 seinem amerikanischen Vernehmer. Hitler dankte es ihm mit hoch dotierten Posten, als stellvertretender Statthalter im besetzten Polen und ab 1940 als sein erster Mann in den Niederlanden, wo schon kleinste Formen des Aufbegehrens mit drakonischen Maßnahmen unterdrückt wurden. In Seyß-Inquarts Amtszeit fiel auch das Schicksal der Anne Frank, jenem jüdischen Mädchen, das sich mit der Familie nach Amsterdam geflüchtet hatte, verraten wurde und später durch sein posthum erschienenes Tagebuch internationale Bekanntheit erfuhr.
Keine Reue
Seyß-Inquarts Wunsch, in den Anwaltsberuf zurückzukehren, hatte Hitler 1938 mit einem Ministeramt ohne Geschäftsbereich unter den Linden in Berlin beantwortet. Was abzulehnen, Seyß-Inquart wahrlich schwergefallen wäre, da auch Eitelkeit zu seinen großen Schwächen gehörte. Das Nürnberger Tribunal befand ihn am 30. September 1946 in drei von vier Anklagepunkten für schuldig, darunter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bis zum Schluss zeigte der Angeklagte keine Reue, vergötterte weiter seinen „Führer“ und verlor sich in Selbstmitleid und Verharmlosung der eigenen Rolle in der Tötungsmaschinerie des NS-Staates.
Aufgewachsen in Wien deutete zunächst nichts darauf hin, dass sich der junge Arthur Seyß-Inquart zu einem Kriegsverbrecher entwickeln würde. Aus dem Weltkrieg zurückgekehrt als Oberleutnant der Reserve, verdingte er sich zunächst in seinem erlernten Beruf, um sich, seine Ehefrau Gertrud und die drei gemeinsamen Kinder durch die wirtschaftlich instabilen zwanziger Jahre zu bringen. Gertrud hielt ihm den Rücken frei, gefiel sich in der Rolle der deutschen First Lady in den besetzten Niederlanden und hielt noch zu ihm, als ihr Gatte in seiner Nürnberger Zelle einem ungewissen Schicksal entgegensah. Nach Kriegsende versuchte Frau Seyß-Inquart in mehreren Interviews dessen Rolle im Holocaust herunterzuspielen. Sein juristisches Doktorexamen hatte der 1917, während eines Fronturlaubs quasi nebenbei absolviert, sich an der Front mit tollkühnen Einsätzen einen Namen gemacht und fleißig Kriegsorden gesammelt. Und während die zunächst überzeugte Atheistin Edith Stein in ihren Dreißigern eine Hinwendung zum Katholizismus vollzog, suchte der Vereinsmeier Seyß-Inquart schon früh den Anschluss an deutsch-nationale Kreise, Debattierclubs, in denen das katholisch Sein oft nur als Feigenblatt fungierte, um sich aus Intoleranz, Gewalt und Dogmenhörigkeit ein neues Lebensgefühl zu basteln; ein Lebensgefühl, das ab Ende der zwanziger Jahre, ähnlich wie heute immer mehr, vor allem junge Wähler in den Bann zog. Und einmal mehr die Annahme nährte, dass sich die faschistischen Bewegungen Europas, allen voran der deutsche Nationalsozialismus als Bewegungen der Jugend verstanden; begehrten Zielgruppen, die es – damals wie heute – für das vermeintlich „Neue“ zu begeistern galt.
Die Vita des Arthur Seyß-Inquart offenbart in erschreckender Weise, wie einfach es sein kann, christliche Prägung mit kriminellem Denken und Tun in Einklang zu bringen. Analogien zu italienischen und südamerikanischen Drogenbossen werden hier deutlich. Bis zum Schluss hat der Katholik Seyß-Inquart brav seine Kirchensteuer bezahlt. Und zugleich Gefallen daran gehabt, Deportationslisten zu erstellen und Erschießungsbefehle zu erteilen. In einer privaten Unterhaltung mit SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte er durchblicken lassen, dass das „Christentum keine Irrlehre“ sei. Denn wenn ein Volk tausend Jahre lang geirrt hätte, dann wäre es in „seinem Kern doch ohne Wert“, ganz abgesehen vom positiven Einfluss, der vom Christentum auf die Entwicklung der deutschen Nation ausgegangen sei. Woraufhin sich Himmler wohlwollend über jede „Gottgläubigkeit“ geäußert haben soll, und dass in der SS „Platz sei für jede individuelle Überzeugung“ mit Ausnahme des Atheismus.
So unterschiedlich die Lebenswege Arthur Seyß-Inquarts und Edith Steins auch gewesen sein mögen, so sehr dürfte sich bei beiden in der Übergangsphase zum Erwachsenwerden ein Paradigmenwechsel, will sagen: eine Verschiebung normativer Axiome mit unterschiedlicher Zielrichtung vollzogen haben. Denn während der eine zum Anhänger einer mörderischen Weltanschauung mutierte und seine christliche Prägung als bürgerliche Fassade missbrauchte, vollzog die andere den Bruch mit ihren jüdischen Wurzeln, fand ihr Seelenheil in Jesus Christus und folgte dem Ruf des Karmeliterordens, einer Gemeinschaft, die obendrein für ihre Strenge bekannt ist. Am 31. Dezember 1938 war Schwester Edith Stein von Köln ins Kloster Echt in den Niederlanden übergesiedelt, da sich die Lage für Juden in Deutschland nach der Reichskristallnacht immer weiter zugespitzt hatte. Dort wurde sie Anfang August 1942 von der Gestapo verhaftet, als Reaktion auf die Renitenz der katholischen Obrigkeit in den Niederlanden gegen Maßnahmen der deutschen Besatzer.
In ihren frühen Zwanzigern erlebten Edith Stein und Arthur Seyß-Inquart dasselbe wie vieler ihrer Zeitgenossen. Dass das Vergangene an Bedeutung verliert und Werte in Frage zu stellen sind. Damals wie heute: junge Menschen auf der Suche nach Halt und Orientierung in unsicheren Zeiten; nicht wenige geblendet von der Fassade des aufkeimenden Nationalsozialismus und seines rhetorisch kongenialen „Führers“; zugleich beseelt vom Wunsch nach Vergeltung für den als Erniedrigung empfundenen Versailler Vertrag von 1919; oft getragen von der Mission, den Enkeln Zeugnis abzulegen, von dem, was als „nationale Revolution“ in die Annalen der deutschen Geschichte eingehen würde. „Hitlerjugend“, „Pimpfe“ und ein „Bund deutscher Mädel“ galten dabei keineswegs als antiquierte Formen gesellschaftlicher Partizipation, sondern oft genug als Inbegriff gesellschaftlichen Fortschritts, hinter der die diktatorische Programmatik des NS-Regimes zunächst verborgen blieb. In der Rückschau enthüllen die höchst unterschiedlichen Lebenswege der Ordensschwester Edith Stein und des Hitler-Verehrers Seyß-Inquart einmal mehr, dass auch die katholische Kirche nie eine Einheitskirche war, sondern weit mehr das Abbild heterogener Gesellschaften ist, die damals wie heute im Zustand fortwährender Selbstsuche verharren.
Selbstfindung im Fin de siècle
Bei näherem Hinschauen entpuppen sich die Biografien Arthur Seyß-Inquarts und Edith Steins als Blaupausen einer Ära, die später als „Fin de siècle“ in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen ist; den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, den v.a. junge Menschen als einengend, verstörend und verwirrend empfunden haben, und der erklärt, warum so viele den Ausbruch des Weltkrieges als Befreiung sahen, warum sich im Sommer 1914 ganze Abiturientenjahrgänge mit Begeisterung in gegnerisches MG-Feuer warfen; darunter der Schriftsteller Ernst Jünger (1895 – 1998), der diesem Zeitgeist ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Auch die späteren Lebensjahre Edith Steins und Arthur Seyß-Inquarts waren geprägt vom Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung und diffuser Zukunftsangst, von Regression, Endzeitstimmung und Lebensüberdruss; ebenso Weltschmerz, Todessehnsucht und Vergänglichkeit, eine allgemeine Krise, die maßgebende Gesellschaftsschichten ergriffen hatte, weil Grundwerte des sozialen Lebens nach dem verlorenen ersten Weltkrieg aus den Fugen geraten waren. Und kluge Geister prophetisch vorausahnten, dass Heilsversprecher vom Schlage Stalins, Maos und Mussolinis die Menschheit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an den Rand der Apokalypse führen würden; eine historisch-soziale Genese ihresgleichen, an der sich Arthur Seyß-Inquart aktiv beteiligte, während Edith Stein den Weg der inneren Emigration beschritt, der in Auschwitz ein grausames Ende gefunden hat.