Der Baseball-Messias oder Zu leben heißt zu kämpfen

„Was für ein langweiliges Spiel! Ein Spieler warf einen Ball, ein anderer fing ihn, ein dritter hielt einen Schläger in der Hand. Der Rest stand in der Gegend herum.“ Baseball, diese uramerikanische Sportart mit den überaus seltsamen Regeln und Finessen, ist für Neulinge kein leichtes Spiel und für nicht eingeweihte Zuschauer ein nicht nachvollziehbares Rätsel. „Pitcher“, „Batter“, „Base Hit“, „Home Run“ oder „Shortstop“ klingen für Unkundige eher nach dem Trainingsparcours einer Hundeschule als nach Geschichte, Tradition und Kultur einer ganzen Nation, ja, dem Symbol des „American Way of Live“ schlechthin. Doch genau das zeichnet diese Sportart aus. Selbst Hemingways „alter Mann“ Santiago ließ die „New York Yankees“ die Stärke und Kultur Amerikas verkörpern.

Jeden Sommer aufs Neue zieht der Mythos Baseball Millionen von Amerikanern in ihren Bann. Dieser „national pastime“, dieser „Zeitvertreib der Nation“, spielt eine entscheidende Rolle im in den USA vielbeachteten und gefeierten Debüt von Chad Harbach. „Die Kunst des Feldspiels“ ließ die dortige Presse, aber auch Schriftstellerkollegen wir Jonathan Franzen, Bret Easton Ellis und John Irving zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Aber können über 600 Seiten eines Buches, in dem sich ein Großteil der Handlung um Baseball dreht, auch die Leser in einem Land mitreißen, die dieser Sportart völlig ignorant, bestenfalls „nur“ verständnislos gegenüberstehen? Doch, sie können. Und das sogar ganz und gar formidabel. Der amerikanische Autor, der als Redakteur der literarischen Zeitschrift n+1 arbeitet und zehn Jahre an seinem Erstling schrieb, verwebt die Rahmenhandlung zwar untrennbar mit dem Geschehen auf einem In- und Outfield und geizt auch sonst nicht mit dem für nicht Eingeweihte recht rätselhaften Fachjargon, doch der Roman verfolgt einen weit tieferen Sinn. Chad Harbach zeigt auf eindrückliche Art und Weise was uns ausmacht: die Fehler wie die Obsessionen und was es bedeutet, hier und heute ein Mensch zu sein. Denn letztendlich ist es völlig egal, um welchen Sport es geht. „Man liebte ihn, weil man ihn für eine Kunstform hielt: ein auf den ersten Blick sinnloses Unterfangen, das Leute mit einer speziellen Begabung betrieben, das sich jedem Versuch, den eigenen Wert in Worte zu fassen, verwehrte und trotz allem auf eine Weise irgendetwas Wahres oder gar Entscheidendes über das Menschsein an sich zum Ausdruck zu bringen schien. Wenn man Menschsein grob so fassen wollte, dass wir alle am Leben waren und so etwas wie Schönheit kannten, sie mitunter gar selbst hervorbrachten, bis wir eines Tages starben und Schluss damit war.“

Diese Aussage stammt von Mike Schwartz, einem Studenten am fiktiven Westish College im Nordosten von Wisconsin, am Ufer des Lake Michigan. Als Kapitän der „Harpooners“, des hiesigen Baseballteams, rekrutiert Schwartz den schüchternen, aber hochtalentierten Henry Skrimshander, der ob seines übernatürlichen Talents schon bald zum Shooting-Star aufsteigen soll. Eine enge, fast symbiotische Freundschaft entwickelt sich zwischen den körper- und charakterlich so verschiedenen Beiden. Diese bildet das Rahmengerüst von Harbachs Roman. Um sie herum siedelt der Autor noch eine Handvoll Leute an, die alle mehr oder weniger miteinander vernetzt sind und agieren. Da ist zum einen Pella, die Tochter des College-Präsidenten Guert Affenlight, die mit Mitte Zwanzig psychisch bereits am Ende angekommen zu sein scheint. „Sie war so schnell vorgeprescht, dass es sie aus der Kurve getragen hatte und sie nun weit hinter den anderen zurücklag. (…) Das echte Leben hatte sie eingeholt und war an ihr vorbeigezogen.“ Ihr Kampf, wieder in ihre Jugend zurückzufinden steht konträr zum souveränen Vater, der im Gegenzug Hals über Kopf in eine verhängnisvolle Affäre schlittert, an der der intellektuelle Owen Dunne, homosexueller Mitbewohner von Henry, nicht ganz unbeteiligt ist. Der Skrimmer wiederum, wie Henry von seinen Freunden genannt wird, kämpft von heute auf morgen mit einer mentalen Blockade, die ihn völlig aus der Bahn wirft.

Chronologisch, mit eingestreuten Rückblenden, begleitet der Leser die Protagonisten über deren gesamte Studienzeit und ihren persönlichen Reifeprozess. Dies klingt nach altbewehrtem Strickmuster typisch amerikanischer Collegeromane. Doch „Die Kunst des Feldspiels“ wächst weit über dieses Genre hinaus. Virtuos verwebt Chad Harbach die einzelnen Biografien miteinander. Er erzählt vom Gewinnen und Verlieren, vom Lernen und Lieben, von zu hoch gesteckten Zielen, verborgenen Sehnsüchten und dem Ringen mit sich selbst und seinem Leben, das mitunter „zwangsläufig derselbe unveränderliche Haufen Mist blieb, nichts anderem geschuldet als der eigenen Anwesenheit“ und mitunter gar eines rigiden Bruches bedurfte. Immer wieder findet man Reminiszenzen an Hermann Melvilles Opus Magnum „Moby Dick“. Das Westish College hat eine besondere Beziehung zu dem großen Schriftsteller. Die Verbindungen lässt der amerikanische Autor virtuos und latent in seine Handlung einfließen.

„Einen Satz zu schreiben war einfach, wollte man hingegen ein Kunstwerk erschaffen, so wie Melville, musste jeder einzelne zu dem vorangegangenen passen und zu dem ungeschriebenen, der darauf folgen würde.“, sinniert der junge Guert Affenlight im Buch.
Chad Harbachs Roman steht zwar noch nicht auf einer Stufe mit diesem großartigen Schriftsteller, aber ein beachtliches Zeichen hat er gesetzt. „Die Kunst des Feldspiels“ ist flüssig zu lesend, tiefsinnig, intelligent und ungemein fesselnd. Der amerikanische Autor überrascht mit einem raffinierten und sorgfältig verschachtelten Plot und hervorragend gezeichneten Protagonisten. Stilistisch und kompositorisch folgt er damit seinem literarischen Vorbild David Forster Wallace. Sein Werk atmet im wahrsten Sinne des Wortes Seele, die sich im Laufe des Lesens mehr und mehr durch die Versuche und Irrtümer seiner „Helden“ herausbildet. Dass diese Seele spürbar wird, ist gleichfalls zu einem nicht unerheblichen Anteil den beiden Übersetzern Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass zu verdanken, die das englischsprachige Original ohne Brüche ins Deutsche übertragen haben.
Die Kritiker-Ikone der „New York Times“ Michiko Kakutani urteilte über Chad Harbach, er habe „die seltene Fähigkeit, mit einem ehrlichen und tief empfundenen Gefühl zu schreiben, ohne jemals in Sentimentalität abzudriften, und eigenwillige, verletzliche und runde Charaktere zu schaffen, die sich sofort in unserem Herz und Hirn niederlassen“. Ein völlig unangestrengtes Debüt ohne vorauskalkulierte Erwartungen… vielleicht gerade deshalb so gut.

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller)

Chad Harbach
Die Kunst des Feldspiels
Titel der Originalausgabe: The Art of Fielding
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass
DuMont Buchverlag, Köln (August 2012)
607 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3832196269
ISBN-13: 978-3832196264
Preis: 22,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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