Die absolute Relativität und damit Leichtigkeit des Seins im Idealismus

Foto: Stefan Groß

Menschliches Wissen
Weil du liesest in ihr, was du selber in sie geschrieben,
Weil du in Gruppen fürs Aug ihre Erscheinungen reihst,
Deine Schnüre gezogen auf ihrem unendlichen Felde,
Wähnst du, es fasse dein Geist ahnend die große Natur.
So beschreibt mit Figuren der Astronome den Himmel,
Dass in dem ewigen Raum leichter sich finde der Blick,
Knüpft entlegene Sonnen, durch Siriusfernen geschieden,
Aneinander im Schwan und in den Hörnern des Stiers.
Aber versteht er darum der Sphären mystische Tänze,
Weil ihm das Sternengewölb sein Planiglobium zeigt?
(Friedrich Schiller)

Als einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gilt Martin Heidegger. Mit seinen 1951/52 gehaltenen Vorlesungen und dem darauf gründenden Buch „Was heißt denken?“ thematisiert er eine existenzielle Gefahr der menschlichen Entwicklung, indem er die von der modernen Naturwissenschaft hervorgebrachte Technik als etwas Unheilvolles ansieht, das in den Untergang führt. Als Rettung vor diesem drohenden Untergang verkündet er in Rückgriff auf die Metaphysik von Friedrich Nietzsche ein im Absoluten vorhandenes Ursein, dessen metaphysische Ableitung und „denken“ er für die Vollendung der antiken griechischen Philosophie hält. Doch warum ist diese philosophische Lösung heute gänzlich vergessen, obwohl der von Heidegger verwendete Praxisbezug der Gefahren der weiteren menschlichen Entwicklung durch eine immer ausuferndere Technik tatsächlich existenzbedrohende Formen angenommen hat? Die hier gegebene Antwort dazu und These als Kritik an Heidegger und allgemein der Philosophie: Das eigentliche Problem liegt in einer asymmetrischen Konsequenz der neuzeitlichen Aufklärung. Die Naturwissenschaft ist durch eine radikale Verbannung der Metaphysik zur modernen Naturwissenschaft geworden, wobei ihre überwältigenden technischen Fortschritte mit einem Realismus einhergehen. Die Philosophie seit Kant und dem Idealismus der Aufklärung hat sich (durch die Erfolge der Naturwissenschaft?) ebenfalls zu einem Realismus entwickelt, und im Fall von Heideggers metaphysischen Realismus ist sie sogar wieder tief in die Metaphysik vor der Aufklärung zurückgefallen. Gerade Heideggers Philosophie eines realen Urseins als Absolutsetzung vor allem des menschlichen Seins (genauso wie die Verewigung und darin Vergöttlichung des menschlichen Seins in den religiösen Theologien) ist jedoch als dieses Selbst- und Weltverständnis nicht die Lösung der menschlichen Probleme, sondern in dieser Anthropozentrik ganz im Gegenteil die eigentliche Ursache dafür. Heidegger hat mit seinem metaphysischen Realismus die griechische Philosophie und ihre Renaissance als neuzeitliche Aufklärung im Idealismus nicht vollendet, sondern ganz im Gegenteil wieder zunichte gemacht. Zwischenzeitlich hat sich auch in der so erfolgreichen Naturwissenschaft besonders in der Quantenphysik der Realismus nur noch als hypothetisch erwiesen. Allgemein ist daher die idealistische völlige Relativierung des Seins als letztendliche bloße und vergängliche Erscheinung eine Befreiung von der Sorge nach der letztlich stets illusionären Absolutheit des Seins und Ewigkeit der Existenz im Realismus. Diese Relativierung des Seins im Idealismus ist nicht als eine wie es Heidegger nennt „weltverneinende Haltung“ anzusehen, sondern ganz im Gegenteil ermöglicht nur das neuplatonisch-idealistische Selbstverständnis der Aufklärung die eigentliche größtmögliche Entfaltung der geistig-kulturellen Evolution ähnlich der so erfolgreichen technischen Evolution – und darin endlich den richtigen Umgang mit der Technik als spielerische geistige Leichtigkeit des Seins.

 

Eine wissenschaftliche Untersuchung zur aktuellen Entwicklung des Menschen

Die Philosophie sollte nicht als das Bauen abgehobener, völlig erfahrungs- und weltfremder Ideengebäude verstanden werden, sondern sie sollte versuchen, aufgrund einer tieferen Kenntnis von Sein und Welt die menschliche Existenz im jeweiligen Entwicklungsstadium zu ergründen, zu deuten und darin eine praktisch verwendbare Orientierung zu geben. Diese Aufgabe fordert die Philosophie besonders in der heutigen Zeit heraus, denn in der menschlichen Entwicklung ist seit ca. 200 Jahren ein Umbruch im Gange, der alle bisherigen Umbrüche der Menschheit wie dem der neolithischen Revolution weit in den Schatten stellt, der darin noch lange nicht abgeschlossen ist und mit einem völlig offenen Ende sowohl zu einem Paradies auf Erden als auch zum Untergang der Menschheit führen kann. So sieht es zumindest der Archäologe und Historiker Ian Morris, der die gesellschaftliche oder kulturelle Entwicklung des Menschen seit der letzten Eiszeit systematisch untersucht und in dem folgenden Diagramm sowohl für den Osten (China) als auch den Westen dargestellt hat (vgl. Ian Morris, „Wer regiert die Welt“, Frankfurt/M. 2011, S. 166). Die Kurve der technisch-materiellen Entwicklung explodiert seit der Befreiung der Ideen in der Aufklärung, der Entstehung der modernen Naturwissenschaft und der industriellen Revolution vor ca. 200 Jahren geradezu – genauso wie die der Bevölkerungsentwicklung, beide Kurven sind in dem gewählten Zeitraum von ca. 16.000 Jahren praktisch identisch.

 

Die gesellschaftliche Entwicklung seit 14000vuZ

Heideggers Buch „Was heißt denken?“

Mit seinem Buch „Was heißt denken?“ beruft sich Heidegger auf Friedrich Nietzsche, der den Beginn der oben dargestellten explosiven Entwicklung als industrielle Revolution praktisch hautnah miterlebt und die Konsequenzen insofern sofort richtig eingeschätzt hat, da er nach Heidegger den „geschichtlichen Augenblick [..] als erster klar erkannte“ (Martin Heidegger, „Was heißt denken?“, Stuttgart 2015, S. 40), „da der Mensch sich anschickt, die Herrschaft über die Erde im ganzen zu übernehmen“ (Heidegger 2015, S. 40). Doch weiter sagt Heidegger über diesen „geschichtlichen Augenblick“, dass Nietzsche ihn „als einziger bisher in der ganzen Tragweite metaphysisch durchdachte“ (Heidegger 2015, S. 40). Die Antwort und Lösung, die auch Heidegger auf das wuchtige, tsunamiartige Hereinbrechen der neuen, von der Technik bestimmten Welt gibt, ist eine ausdrücklich metaphysische Antwort, d.h. er versteht unter dem Denken, nach dem er in seinem Buchtitel fragt, ein metaphysisches Denken und entsprechendes Ursein, das er mit diesem Denken postuliert. Es ist darin jedoch genau das metaphysische Denken, das die Aufklärung und besonders die moderne Wissenschaft mit ihrem großen Erfolg radikal verbannt hat. Konsequenterweise sagt Heidegger daher: „Die Wissenschaft denkt nicht“ (Heidegger 2015, S. 10).

Die zweifellos immensen aber eben metaphysischen Denkprozesse Heideggers reduzieren sich letztlich auf den metaphysischen Kern des von ihm formelhaft wiederholten Willens zur ewigen Wiederkehr des Gleichen, so wie sich eine ausufernde Theologie auf den metaphysischen Glauben an einen personalen Gott reduziert. Der metaphysische Wille als ewige Wiederkehr des Gleichen setzt das voraus, wovon diese Wiederkehr ausgeht, nämlich das von Heidegger postulierte reale Ursein als Teil und Eigenschaft des Absoluten. Dadurch wird die idealistische Relativität, Erscheinungshaftigkeit und Vergänglichkeit des Seins natürlich genauso wie beim Glauben an einen personalen, das menschliche Sein rettenden Gott scheinbar überwunden. Das in der Welt offensichtlich vergängliche Sein des Menschen wird bei Heidegger nur nicht mehr durch den christlichen Gott und dessen Sohn gerettet, insofern hat sich Heidegger vom religiösen Glauben gelöst, sondern philosophisch durch Nietzsches Übermenschen, über den Heidegger sagt: „Der Übermensch geht über den bisherigen Menschen hinaus, indem er in den Bezug zum Sein eingeht, das als Wille der ewigen Wiederkehr des Gleichen ewig sich selber will und nichts außerdem.“ (Heidegger 2015, S. 72). Nur dieser Übermensch mit seinem ihn definierenden Bezug zum Ursein kann für Heidegger mit den Problemen des modernen Menschen umgehen und sie lösen. (vgl. Heidegger 2015, S. 43).

Die Entdeckung und Verkündung eines realen Urseins sollte eigentlich entsprechend der Substanz und Realität dieses Absoluten mit einem klaren Denken und einer nicht bezweifelbaren und objektiven Erkenntnis einhergehen, die die vorhandenen Widersprüche insbesondere zwischen der Philosophie, Religion und Naturwissenschaft als darin objektive Wahrheit überwindet und die umfassend praktisch anwendbar ist. Doch genau das ist wie schon im Fall der Religion und ihrer vielfältigen Widersprüche und Spaltungen auch hier nicht der Fall. So stellt Heidegger über den „Gipfel“ als Erkenntnis des metaphysischen Urseins fest: „Aber dieser Gipfel ragt nicht in klaren und festen Umrissen in die Helle des durchsichtigen Äthers. Dieser Gipfel bleibt in schwere Wolken gehüllt – nicht nur für uns, sondern für Nietzsches eigenes Denken. […] Die Sache selbst, die mit dem Titel »Die ewige Wiederkehr des Gleichen« genannt wird, ist in ein Dunkel gehüllt, vor dem sogar Nietzsche zurückschrecken mußte.“ (Heidegger 2015, S. 75). Trotz der fehlenden theoretischen Klarheit und vor allem der praktischen Bestätigung und Anwendbarkeit hält Heidegger genau wie die Religionen mit all ihren Widersprüchen an der Hoffnung der Realität des Seins und Ewigkeit der Existenz fest.

Kritik an Heideggers Denken

Heidegger hat sich zwar als Folge der Aufklärung von den Inhalten des christlichen Glaubens entfernt, aber nicht von der Denkweise des religiösen Glaubens. Seine philosophische Lehre von einem realen und absoluten Ursein ist genauso metaphysisch wie der Glaube an einen personalen, ewig seienden Gott. Die Verkündigung eines realen und absoluten Urseins beruht genau wie ein religiöser Glaube allein auf eben diesem Glauben oder Willen, der in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist der höchste Triumph der Metaphysik des Willens“ (Heidegger 2015, S. 70).

Interessant ist dabei, wie sich dieses Denken als „Metaphysik des Willens“ von Kant und seinem Idealismus der Aufklärung aus zu einem gegensätzlichen Realismus gewandelt und entwickelt hat. Bei Kant ist das Absolute als „Ding an sich“ genau wie im Neuplatonismus absolut transzendent, so dass dem weltlichen Sein in diesem Absoluten keine Entsprechung zukommt. Dadurch besitzt alles weltliche Sein einschließlich des Menschen ein relatives, erscheinungshaftes Wesen, was für viele Menschen wie auch für Heidegger jedoch eine „weltverneinende Haltung“ (Heidegger 2015, S. 61) darstellt.

Gemäß Kant wissen wir genau wie im Neuplatonismus nichts über dieses Absolute und werden darüber niemals etwas wissen. Diese zentrale (Nicht)Erkenntnis der Aufklärung hat sich aber nicht lange gehalten, denn kurz nach Kant hat Arthur Schopenhauer mit seiner Philosophie gemeint, diese scheinbare Lücke oder das Nichtwissen in Kants Erkenntnis schließen zu müssen, um so Kant scheinbar zu vollenden. Schopenhauer hat Kants angebliche Lücke mit einem weltschaffenden Willen ausgefüllt, nämlich mit dem aus der fernöstlichen Religion des Buddhismus stammenden Drang nach Sein. Schopenhauer sieht den nach Dasein drängenden Willen als das bislang unbekannte Ding an sich von Kant an, bleibt in diesem Verständnis aber noch Idealist.

Nietzsche wiederum glaubt nun Schopenhauer und damit auch Kant als „höchsten Triumph der Metaphysik des Willens“ dadurch zu überbieten, indem er zwar bei Schopenhauer den das Sein der Welt schaffenden Willen als das „Ding an sich“ von Kant anerkennt, aber Nietzsche will die idealistische Erscheinungshaftigkeit und Vergänglichkeit des Seins und den damit verbundenen Pessimismus von Schopenhauer überwinden. Das wird für ihn dadurch möglich, indem er dem die Welt schaffenden Willen von Schopenhauer noch etwas zufügt, und zwar „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‘Es war’“ (Heidegger 2015, S. 63) oder als „des Willens Widerwille gegen die Zeit und das heißt: gegen das Vergehen und dessen Vergangenes“ (Heidegger 2015, S. 64). Nietzsche bezeichnet das mit dem Begriff der „Rache“. Wie der Ausdruck der „Rache“ zu verstehen ist, deutet Heidegger folgendermaßen nur an: „Inwiefern hinter diesen Aussagen Nietzsches über Rache und Strafe, Rache und Leid, Rache und Erlösung von der Rache die unmittelbare Auseinandersetzung mit Schopenhauer steht und mittelbar diejenige mit allen weltverneinenden Haltungen, ist hier nicht zu erörtern“ (Heidegger 2015, S. 61).

Als Ergebnis aller dieser metaphysischen Konstruktionen zur Ausfüllung des scheinbar mangelhaften Unwissens über das Absolute bei Kant gilt letztlich bei Heigegger: „Die Erlösung von der Rache ist der Übergang zum Ursein alles Seienden“ (Heidegger 2015, S. 70). Dem rein metaphysischen weltschaffenden Willen von Schopenhauer wird durch Nietzsche also zusätzlich noch ein Widerwille angedichtet, um die Realität und Wiederkehr des Gleichen und des Seins nicht im Einklang mit der Erfahrung, sondern gerade entgegen der existenziellen Erfahrung der Vergänglichkeit allen Seins zu behaupten.

Heidegger erwähnt in seinem Buch als Schopenhauerzitat zwar das „Problem vom Verhältnis des Idealen zum Realen“ (Heidegger 2015, S. 27) als Grundproblem der Philosophie, begründet den durchgeführten Wechsel von Kants Idealismus zu seinem metaphysischen Realismus aber nicht als Ableitung und Ergebnis eines logischen, differenzierenden und kritischen Denkens und einer entsprechenden Widerlegung von Kant. Für Heideggers Denken gilt vielmehr: „Das Dichten ist darum das Gewässer, das bisweilen rückwärts fließt der Quelle zu, zum Denken als Andenken. Solange wir freilich meinen, darüber, was Denken sei, gäbe uns die Logik einen Aufschluß, solange werden wir nicht bedenken können, inwiefern alles Dichten im Andenken beruht.“ (Heidegger 2015, S. 14). Hier erklärt sich Heideggers Verachtung für die Wissenschaft, denn er bezieht sich allein auf die Dichtung von Friedrich Hölderlin und Nietzsches Zarathustra. Von diesem „Denken“ aus, das naturwissenschaftlich gesehen viel mehr dem emotionsgebundenen Sehnen der Instinkte entspricht und darin auch dem logischen Denken der Philosophie widerspricht, schaltet Heidegger das Grundproblem der Philosophie ohne weitere Diskussionen in einer den Emotionen entsprechenden Einseitigkeit zu einem metaphysischen Realen hin gleich, wobei er kurzerhand nicht nur Platon, Heraklit, Parmenides und Plotin (vgl. Heidegger 2015, S. 32 und 66), sondern in der Neuzeit auch Kant, Fichte und Hegel in seinen metaphysischen Realismus mit einbezieht (vgl. Heidegger 2015, S. 58).

Dadurch hat mit Heidegger ein Prozess seinen Abschluss erreicht, bei dem die Aufklärung als Überwindung und Verbannung des metaphysischen Denkens in der Philosophie faktisch rückgängig gemacht und das metaphysische Denken wieder eingeführt und etabliert wird – nur jetzt nicht im metaphysischen Glauben an einen personalen, das menschliche Sein rettenden Gott, sondern im philosophischen Willen zu einem metaphysischen Ursein, das es in Kants Aufklärung gar nicht gibt und das darin wie in der Religion das Wesen des Seins seit der Aufklärung wieder vernebelt.

Die neuplatonisch-idealistische Philosophie als Aufklärung

Während Heidegger metaphysisch ein Ursein im Absoluten postuliert, das die Realität und Ewigkeit des Seins und die Wiederkehr ermöglicht, „indem es das Gegangene wiederbringt“ (Heidegger 2015, S. 69), sagt Kant abschließend über das Absolute als „die Dinge an sich“: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann“ (Immanuel Kant, „Kritik der Reinen Vernunft“, B332-333).

Im Idealismus sind die weltlichen Dinge oder das Sein nur Erscheinungen, was sich empirisch letztlich in jedem Sein in der Vergänglichkeit oder im Tod offenbart. Das Dilemma für den Menschen liegt darin, dass er als erscheinungshaftes Sein in der Welt weder das Absolute noch (damit zusammenhängend) seine eigene völlige Relativität wesenhaft erkennen kann. Der erscheinungshafte Mensch kann in den relativen Strukturen der Welt nicht eine Position oberhalb der Welt und des Absoluten beziehen, von der aus er die Beziehungen zwischen dem Absoluten und der Welt in den Strukturen der Welt als dann real erkennen kann, auch wenn er das auf metaphysische und fantasievolle Weise laufend versucht.

Das metaphysische Denken einer Verbindung des weltlichen Seins in den weltlichen Strukturen zu einem wie auch immer definierten, benannten und verehrten Absoluten hat sich nicht erst in der modernen Wissenschaft als Folge der neuzeitlichen Aufklärung als illusionär und irrig erwiesen, sondern wurde schon weit früher im neuplatonischen Denken als falsch erkannt. Doch diesem aufgeklärten Denken wurde unter dem christlichen Kaiser Justinian zugunsten der christlichen Metaphysik ein Ende bereitet. Im Jahre 529 wurde die Akademie Platons, die über 900 Jahre bestanden hatte, von Justinian endgültig geschlossen (vgl. Jens Halfwassen, München 2004, S. 164). Festzuhalten ist bei diesem historischen Paradigmenwechsel, dass das Christentum genau wie später Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger das Absolute oder Göttliche in einer metaphysischen Weise zu kennen glaubt und über diese scheinbare Kenntnis wie bei Heidegger das menschliche Sein im Absoluten zu verorten, zu retten und als real zu erweisen sucht. Erst ca. 1000 Jahre später erlebte die verbotene griechische Philosophie in der Aufklärung zwar eine Renaissance, bzw. metaphysikverbannende Aufklärung und moderne Naturwissenschaft waren direkte Folgen der Epoche der Renaissance, doch die neuzeitliche Aufklärung ist philosophisch schnell wieder in das metaphysische Denken einer Bestimmung des Absoluten und der damit verbundenen Rettung des Seins zurückgefallen.

Der Philosoph Jens Halfwassen stellt dagegen in seinem Buch „Plotin und der Neuplatonismus“ (das den Neuplatonismus erklärt aber nicht vertritt) zur Kenntnis des Absoluten in der griechischen Philosophie fest: „Das Absolute muss als reine Einheit gedacht werden. Wird reine Einheit aber konsequent gedacht, dann weist sie jedwede Bestimmung strikt von sich ab, weil jede überhaupt denkbare Bestimmung sie in die Vielheit hineinziehen würde. Als das aus aller Vielheit und aller Bestimmtheit Herausgenommene ist das Eine selbst darum reine Transzendenz: jenseits von Allem schlechthin“. (Halfwassen 2004, S. 43).

Von daher wird im Neuplatonismus das Sein so bestimmt, dass von diesem Einen „schon die Aussage falsch ist, dass Es Eines ist, von dem es <keine Aussage und keine Erkenntnis> gibt und von dem deshalb auch gesagt wird, dass Es <jenseits des Seins> ist“ (Halfwassen 2004, S. 43). Während Heidegger im Absoluten ein Ursein zu etablieren sucht und darin die griechische Philosophie zu vollenden meint, ist für Plotin als dem letzten großen Vertreter der tatsächlichen griechischen Philosophie das Sein gerade nicht Teil des Absoluten. Das in Zeit und Raum getrennte Sein stellt im Neuplatonismus vielmehr die Grundstruktur der Welt dar, bei der es aber in dieser Struktur keinerlei Verbindung zu einem Absoluten gibt. Genauso ist im ursprünglichen Buddhismus der Drang nach Sein Teil der Welt und darin größtes Hindernis in Hinsicht auf ein Absolutes. Der Wille oder Drang zum Sein ist nicht Eigenschaft des Absoluten oder gar das Absolute selbst wie bei Schopenhauer. Schopenhauer hat einfach das jenseitige Absolute mit dem weltlichen Drang oder Urinstinkt nach Sein verwechselt.

Es stellt sich allerdings die Frage, wodurch sich die Metaphysik des Neuplatonismus oder Idealismus von der Metaphysik des Realismus unterscheidet. Der Unterschied liegt darin, dass die Metaphysik des Absoluten im Neuplatonismus und Idealismus auf einer strikten Trennung der Strukturen beruht, so dass es (zumindest von weltlicher Seite aus) keinerlei Verbindung und Bezug zum dadurch rein transzendenten Absoluten gibt, wodurch das weltliche Sein als Grundstruktur der Welt nur eine relative und vergängliche Erscheinung ist und bleibt. Die Metaphysik im Realismus versucht dagegen laufend (als Folge eines Drangs oder Urinstinkts nach Sein), das weltliche Sein innerhalb der weltlichen Struktur mit dem Absoluten zu verbinden, um so dem weltlichen Sein Realität und Ewigkeit zu verleihen. Da sich diese Versuche aber nie umfassend und widerspruchsfrei durchgesetzt haben, am wenigsten im Fall von Heidegger, zeigt das umgekehrt, egal ob in Philosophie oder Religion, wie stark der Urinstinkt nach Realität und Erhalt des Seins ist.

Die neuplatonisch-idealistische Philosophie behauptet nicht, dass es ein Absolutes oder eine Realität gar nicht gibt, aber sie lehrt die völlige und bleibende Transzendenz des Absoluten oder Realen für das weltliche Sein und die weltliche Struktur, wodurch der weltlichen Struktur keine letztendliche Realität zukommt. Das Verhältnis von Absoluten und Welt gleicht in der neuplatonisch-idealistischen Philosophie daher einem sogenannten Vexierbild, in dem zwei völlig verschiedene Deutungen ein und derselben Zeichnung erkannt werden können. Beide Deutungen schließen sich gegenseitig aus, d.h. der Deutungswechsel findet stets blitzartig und vollständig statt, so dass nie ein Teil der einen Deutung in der anderen existieren kann. Innerhalb der einen Deutung existiert die jeweils andere nicht und hat dort auch nie existiert. Für uns in der Welt heißt das, dass wir nicht einmal wissen und es nie wissen werden, ob es ein Absolutes überhaupt gibt, ob es überhaupt ein Sein hat, geschweige denn, dass wir als weltliches Sein dahin gerettet werden. Das ist keine Lücke und kein Mangel im Wissen, sondern die (Nicht)Erkenntnis des eigentlichen Wesens von Sein und Welt. Nur die völlige Relativität und Vergänglichkeit des weltlichen Seins weist auf ein zu den weltlichen Strukturen jenseitiges Absolutes hin und vereint darin gleichzeitig wieder mit und in diesem Absoluten.

Diese griechische Philosophie der Relativität des Seins ist jedoch wie erwähnt von dem an die Macht gelangten Christentum im Römischen Reich verboten worden. Nur in Form der sogenannten „negativen Theologie“ (Halfwassen 2004, S. 42f) hat die neuplatonische Philosophie unter dem Deckmantel christlicher Begriffe noch bis ins Mittelalter überlebt. So sagt Meister Eckhart, der der Inquisition zum Opfer gefallene letzte bedeutende Vertreter der christlichen negativen Theologie, dass „Gott etwas ist, das notwendig über dem Sein sein muss. Was Sein hat, Zeit oder Statt, das rührt nicht an Gott; er ist darüber“ (J. Quint (Hrsg.), Meister Eckehart – Deutsche Predigten und Traktate -, Zürich 1979, Pred. 10, S. 195). Die christliche negative Theologie ist im Grunde neuplatonische Philosophie, in der der Gott keine Person, sondern das seinslose „einige Eine“ (Quint 1979, S. 164) ist, über das praktisch als Definition der negativen Theologie gesagt wird: „Es ist das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit und ist unerkannt und ward nie erkannt und wird nie erkannt werden. Gott bleibt dort in sich selbst unerkannt“ (Quint 1979, S. 261). In der negativen Theologie ist das Absolute oder Göttliche nicht erkennbar, ist daher keine Person, ist nicht gut, nicht weise, besitzt kein Sein usw.

Der Idealismus als der letztendlich wahre Realismus

Der Quantenphysiker Anton Zeilinger fragt in einem Interview: „Was ist Realität?“ (Spektrum der Wissenschaft Interview vom 14.03.2011, online unter: www.spektrum.de/alias/interview/interview-anton-zeilinger-die-suche-nach-dem-fundamentalen/1066262). Er bittet hier ausdrücklich die Philosophen um Hilfe, denn die Physiker können zwar pragmatisch mit ihren Versuchen umgehen, aber je tiefer sie in die Materie eindringen, umso rätselhafter und paradoxer wird die Frage nach der Realität schon des materiellen Seins. Das Sein eines Teilchens scheint sich aufzulösen oder in einem unbestimmten Schwebezustand zu befinden, aus dem es erst durch eine Messung bzw. Beobachtung in einen eindeutigen Zustand in Zeit und Raum hin als Sein manifestiert wird bzw. überhaupt erst entsteht. Das Gedankenexperiment „Schrödingers Katze und Wigners Freund“ beschreibt dieses seltsame Verhalten der Quanten.

Mit einem Realismus ist das nicht vereinbar, sehr wohl aber mit einem neuplatonisch-idealistischen Verständnis. Denn darin ist die Struktur des in Zeit und Raum separierten Seins nicht Teil der eigentlichen Realität, sondern genau wie im Fall der Farbwahrnehmung ist diese Struktur oder Eigenschaft allein durch unser Erkennen, Bewusstsein und Denken bestimmt. Um es mit Schillers einleitenden Gedicht zu sagen, wir selbst haben (in der Evolution als relative Entstehung des Erkennens und Bewusstseins mit dem Tier) die weltliche Struktur in etwas uns völlig Unbekanntes hineingeschrieben, bzw. wir sehen darin das Absolute in Form der weltlichen Struktur (ähnlich der Farbwahrnehmung aufgrund elektromagnetischer Strahlung), nicht aber, wie das Absolute an sich ist. Bei der Farbwahrnehmung können wir die zugrundeliegende Ursache der elektromagnetischen Strahlung mit unserem Sehen nicht direkt als solche erkennen, und im Fall der Grundstruktur der Welt können wir das zugrundeliegende Absolute in keiner Weise erkennen oder uns auch nur vorstellen. Das ist die Kernaussage der neuplatonisch-idealistischen Philosophie, die in den Quantenversuchen auf technische Weise bestmöglich empirisch bestätigt wird.

Die Versuche der Quantenphysik sind daher nicht eine mangelhafte, unvollständige Erkenntnis, wie es uns aus der Perspektive des Realismus erscheint. Sie stellen vielmehr auf technische Weise die bestmögliche Art dar, das letztendliche Wesen des Seins zu erkennen und es empirisch zu verifizieren. Doch die Naturwissenschaftler erkennen die Ergebnisse ihrer Versuche als empirische Widerlegung des Realismus und Bestätigung der neuplatonisch-idealistischen Theorie und Philosophie nicht an. Sie halten ideologisch am Realismus fest, nennen ihn aber ehrlicherweise nur noch „hypothetischer Realismus“. Dieser Dogmatismus ist genau wie in der Religion und Philosophie Ausdruck des Urinstinkts nach Sein und zeigt gleichzeitig, dass selbst der scheinbar metaphysikfreie Realismus der modernen Naturwissenschaft latent immer noch etwas Metaphysisches enthält. Denn er projiziert in die Dinge oder das Sein etwas (Reales) hinein, obwohl sich diese Eigenschaft physikalisch oder eben physisch nicht belegen lässt und genau deswegen meta-physisch ist.

In ähnlicher Weise legt auch der Biologe Konrad Lorenz an der Stelle seines Buches „Die Rückseite des Spiegels“, an der er die großen konstruktivistischen Leistungen unseres Gehirns beschreibt (die ebenfalls einen Idealismus belegen), großen Wert auf die Feststellung, dass „die reflektierende Er­kenntnis des eigenen Seins, die Descartes in die Worte »Cogito, ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) gefaßt hat, immer noch die am wenigsten bezweifelbare von allen [ist]“ (Konrad Lorenz, „Die Rückseite des Spiegels“, München 1987, S. 12) und an unserer Überzeugung, „daß alles, was unser Erkenntnisapparat uns meldet, wirklichen Gegebenheiten der außersubjektiven Welt entspricht, halten wir unerschütterlich fest.“ (Lorenz 1987, S. 18). Doch wo ist dieses angeblich so reale und „am wenigsten bezweifelbare“ Sein des Ichs nach dem Tod? Und die „unerschütterliche“ Überzeugung, dass „alles, was unser Erkenntnisapparat uns meldet, wirklichen Gegebenheiten der außersubjektiven Welt entspricht“, daran scheitert gerade die Quantenphysik als Bestätigung des Realismus.

Dieselbe Problematik zeigt sich in der weiteren Entwicklung oder Evolution des Menschen. Zunächst ist der Mensch in seiner völligen Relativität das Produkt des Evolutionsprozesses, der anfangs nicht auf objektive Erkenntnis ausgerichtet war, sondern seit der Urzelle auf Hervorbringung von Sein sowie Wachsen und Erhalt dieses Seins. Entsprechend seinem Instinktsystem als animalisches Erbe versucht der Mensch bis heute im Paradigma des Realismus, in dem er „unerschütterlich“ an die Realität seines Seins glaubt, dieses Sein mit Hilfe der modernen Technik immer weiter zu perfektionieren, genauso wie die Quantenphysik trotz gegenteiliger Versuchsergebnisse unbeirrt weiter versucht, das materielle Sein endgültig als real und absolut zu bestimmen. Konkret heißt das, dass der Mensch trotz der Begrenztheit und heutigen Überbevölkerung seines Lebensraumes seinen Lebenssinn weiterhin in dem durch die moderne Technik ermöglichten, immer exzessiveren „Jagen und Sammeln“ von materiellen Werten sieht (was sich darin als ein weiteres animalisches Instinktverhalten zeigt).

Mit dem falschen Seins-, Selbst- und Weltverständnis kommt es in der weiteren Evolution des menschlichen Seins daher zu genauso paradoxen Ergebnissen wie in den Versuchen in der Quantenphysik, d.h. statt des erhofften Paradieses auf Erden verwirklicht der Mensch letztlich eher eine Hölle auf Erden. Die weitere Entwicklung des Menschen mit den enormen Möglichkeiten der Technik in dem begrenzten und überbevölkerten Lebensraum der Erde kann daher analog zu den Versuchen der Quantenphysik als ein klassischer naturwissenschaftlicher Versuch zur Verifizierung bzw. Falsifizierung der Ideen, Theorien oder Weltbilder von Idealismus und Realismus angesehen werden.

Der neuplatonisch-idealistischen Philosophie nach wird der Mensch durch noch so viel technische Erfolge, selbst als beliebige gentechnische Veränderung seiner selbst, nicht einen substantiellen Frieden im Sein erreichen, sondern er wird in den Strukturen seiner vergänglichen Welt definitionsgemäß immer ein Getriebener bleiben, der nach Realität im Sein lechzt. Der Unterschied zu den Versuchen der Quantenphysik besteht jedoch darin, dass der Mensch in seiner weiteren Entwicklung das Scheitern seines Realismus nicht mehr einfach und beliebig ignorieren kann, da es existenzielle Konsequenzen beinhaltet, die sich irgendwann ganz konkret bemerkbar machen. Dann wird er auf animalische Weise zu einer Erkenntnis gezwungen werden, zu der er heute geistig offensichtlich nicht fähig oder gewillt ist.

Der von vornherein geistige, philosophische Weg und das geistig-kulturelle Wachstumsideal (statt des materiellen) zur Erkenntnis und Kultivierung des letztendlichen Wesens von Sein und Welt ist dagegen der eindeutig elegantere und humanere Weg. Die neuplatonisch-idealistische Philosophie ermöglicht diese existenzielle Erkenntnis, vor allem auch als objektive Wahrheit in der Überwindung der Widersprüche zwischen Philosophie, Religion und moderner Naturwissenschaft. Das damit verbundene Bewusstsein ist darin die weitere geistig-kulturelle Evolution als spielerische Leichtigkeit des Seins. Ja, in dieser Relativität des Seins kann die Getriebenheit geradezu in ein seinsmäßiges „Fliegen“ entgegen der „Gravitation“ des Urinstinkts nach Erhalt und realer Zementierung des Seins gewandelt werden. Dieses geistige (nicht emotionale) „Fliegen“ liegt in der speziellen Natur des Menschen, wobei selbst und gerade ein „Absturz“ das letztendliche Wesen des Seins offenbart.

In das wesenhaft Reale oder Absolute „gerettet“ wird der Mensch letztlich auf jeden Fall (aufgrund der gesetzmäßigen Relativität und Vergänglichkeit des Seins), darum muss er sich keine Sorgen machen, wie etwa die Religionen es tun oder Heidegger in seinem SPIEGEL-Interview mit dem Titel „Nur noch ein Gott kann uns retten“ (Der SPIEGEL 23/76 vom 31.05.1976, S. 193-219). Denn die wahre „Rettung“ besteht in der Einsicht, dass das Sein als solches nicht gerettet werden kann, es kann als Illusion nur in etwas nicht Erkennbaren, Realen und Einen hin aufgelöst werden bzw. löst sich dorthin letztlich stets gesetzmäßig wieder auf. Diese wortwörtliche Ein-Sicht in das absolut relative Wesen des Seins dient unter den besonderen heutigen Lebensumständen als objektive Wahrheit paradoxerweise dem Erhalt des Seins.

 

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Über Ehlert Bernd 23 Artikel
Bernd Ehlert ist Mitglied im Humanistischen Verband Deutschlands sowie in der Meister-Eckhart-Gesellschaft. Er tritt für eine Überwindung der Widersprüche zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und damit für ein einheitliches Weltbild ein. Ehlert ist auch Autor der Tabvla Rasa, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken.

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