Ein „österreichischer Schriftsteller“ in der Mark Brandenburg Franz Fühmann zum 100. Geburtstag

100, Geburtstag, Quelle: banino, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Das 70. „Frankfurter Buntbuch“ ist – nüchtern betrachtet – gar kein Buch, sondern ein 32-Seiten Heft –  aber was für eines! Diese „Buntbücher“ werden vom Kleist-Museum Frankfurt/Oder herausgegeben. Federführend agieren Anette Handke und Wolfgang de Bruyn, der Sohn des „Preußen-Schriftstellers“ Günter de Bruyn.

Bevor der Leser ins Lesen gerät, wird er durch die großartige Gestaltung in Bann gehalten. Der Covergestalter nutzte einen Holzschnitt von HAP Grieshaber. Überraschenderweise enthalten die Innenklappen keinen Text. Nimmt man das Umschlag-Kunstwerk jedoch ab, findet man auf den Innenseiten eine Landkarte von Märkisch-Buchholz und vor allem die Cover etlicher Fühmann-Bücher, die im Brandenburgischen entstanden sind: Die Palette reicht von dem Kinderbuch „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ bis zu dem grandiosen Trakl-Buch „Vor Feuerschlünden“.

Im Jahre1958 schuf sich der Dichter ein mehr als bescheidenes, im Wald verstecktes Schreib-Domizil bei Märkisch-Buchholz. Schon mancher Literaturfreund scheiterte bei dem Versuch, die Schreibklause des Dichters zu orten. An einem Regentage, nach Fühmanns Begräbnis, war auch für seine Kollegen Volker Braun und Richard Pietraß die Suche nach dem Dichter-Haus vergeblich. Das vorliegende Büchlein sorgt dafür, dass solche Misserfolge künftighin ausbleiben könnten. Die besagte topographische Karte, „eine vertrauliche Dienstsache“ aus dem Innenministerium von 1974 (!!), sowie ein beigelegter unveröffentlichter und faksimilierter Brief, der eine verbale Wegbeschreibung sowie eine mehrfarbige Skizze Fühmanns liefert, können Abhilfe schaffen.

Bereits im Titel „Ein ,österreichischer Schriftsteller‘ im Brandenburgischen“ bringt der Autor Paul Alfred Kleinert sein Anliegen und gleichermaßen  Fühmanns Lebensproblem auf den Punkt. Kleinert erinnert an Fühmanns Scheitern mit dem Projekt „Auf Fontanes Spuren“. Berlin-Brandenburg, begriff der Poet, war sein Lebensmittelpunkt, keineswegs aber seine Heimat. Nach einem Besuch im heimatlichen Riesengebirge notiert Fühmann: „Das Blau der großen Glockenblumen wie der Klang von Kirchenglocken tief.  Nicht denkbar auf einer preußischen protestantischen Wiese…“ (S.5)

Fühmann, sich selbst einen „österreichischen Schriftsteller“ nennend, formulierte kurz vor seinem Tode, dass „Heimkehr…letzten Endes das Grundthema dessen“, was er schreibe „auf die allgemeinste Formel gebracht“ sei. (S.5)

Erst nach der Klärung dieser Prämisse geht Kleinert, einer der Begründer des international wirkenden Fühmann-Freundeskreises, dazu über, die Lebenszeugnisse des Autors zu Märkisch-Buchholz mit dem Blick auf das Gesamtwerk zusammenzubringen.

Am liebsten arbeitete der Dichter zurückgezogen in seiner „Garage“ oder er stöberte in Antiquariaten. Dennoch war er den Menschen – vornehmlich den Kindern im Brandenburgischen – zugewandt. Oft las er in Schulen, diskutierte mit den Jüngsten. Davon erzählt auch die Fühmann-Begegnungsstätte in Märkisch-Buchholz, vor der eine Dichter-Stele steht. Geschaffen hat sie der Freund Wieland Förster. Einer der Schüler Fühmanns war der spätere Puppenspieler Joachim Damm, für den Fühmann eigens ein kleines Stück geschrieben hatte.

Bei Kleinert erfährt der Leser, dass der Schriftsteller, von Berlin kommend,  seine Fahrt an den Arbeitsort nicht selten unterbrach, um in Fürstenwalde Kinder mit geistiger Behinderung zu besuchen. Ein postum erschienenes Buch – versehen mit Fotos von Dietmar Reimann – erinnert an diese Begegnungen.

Der Böhme Fühmann war zugleich ein begnadeter Nachdichter tschechischer, aber auch ungarischer Lyrik. Im Rückblick auf das verstörende Prager Jahr 1968 unternahm er einen Gedankenspaziergang. „Wäre ich, sagen wir, 1968 gestorben, wäre ich in die Grube gefahren als der, der ich ja noch heute in der Literaturgeschichtsschreibung meines Landes fortlebe: als der ,Vergangenheitsbewältiger mit der schönen Sprache und den lieben Kinderbüchern und den treffenden Nachdichtungen‘  –  hätte es nicht eben jene Erschütterung vom August 1968 gegeben mit dem Willen: ,jetzt möchte ich sehen, was ist‘, um mit Rosa Luxemburg zu sprechen. Damit fing das Eigentliche an.“ (S.15) Ein Großteil seines – hoffentlich bleibenden – Werkes entstand mit und nach dem Ungarntagebuch 1973.

Auf den wenigen Seiten konnte und wollte Kleinert nicht alle Aspekte des vielfältigen Werkes in den Blick nehmen. Unter den editorischen Leistungen Fühmanns hob Kleinert namentlich dessen Bemühungen um Siegmund Freud hervor.  Mit dem Band „Trauer und Melancholie“, der 1982 wesentliche Freud-Essays vorstellte, stieß Fühmann für DDR-Leser ein Tor auf: Freud, so Kleinert, „galt der DDR-Nomenklatura doch als persona non grata.“ (S.25)

Es fällt auf, dass in Kleinerts Buntbuch das –freilich oft zitierte – Testament  Franz Fühmanns nicht vorkommt. Hier hatte er sich als doppelt Gescheiterter gesehen: „In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ Der Dichter Uwe Kolbe, um den sich Fühmann ganz besonders gekümmert hatte, sprach in Märkisch Buchholz letzte Worte.

Die letzten Worte des Mentors etlicher Dichterinnen und Dichter lauteten: „Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens die Wahrheit erwählt haben.“ (Vgl. Gunnar Decker, 2009, S. 410)

Die „Frankfurter Buntbücher“ sind in der Mitte und im Süden Deutschlands wohl noch wenig bekannt. Nicht nur das reich bebilderte und mit Dokumenten versehene 70. Heft hätte es verdient, in der ganzen Bundesrepublik wahrgenommen zu werden.

Paul Alfred Kleinert, Ein „österreichischer Schriftsteller“  im Brandenburgischen – Franz Fühmann in Märkisch Buchholz. Verlag für Berlin-Brandenburg / 978-3-96982-032-2, 32 Seiten.

Finanzen

Über Ulrich Kaufmann 34 Artikel
PD. Dr. Ulrich Kaufmann wurde 1951 in Berlin geboren u. lebt seit 1962 in Jena. Hier hat er nach dem Abitur 1970 Germanistik und Geschichte studiert. 1978 wurde er in Jena über O.M.Graf promoviert u. 1992 über Georg Büchner hablitiert. Von 1978 bis 1980 war Kaufmann als Aulandsgermanist im polnischen Lublin tätig.Von 1999 bis 2016 Gymnasiallehrer für Deutsch u. Geschichte. Er hat 10 Bücher über die deutsche Literatur verfasst.