Eva Völler – Helle Tage, dunkle Schuld – Das Interview zum Kriminalroman

1. Liebe Eva Völler, warum nach Ihren SPIEGEL-Bestsellern der „Ruhrpottsaga“ sowie der „Dorfschullehrerin“ nun ein Kriminalroman?

Der Aufhänger der Geschichte, um die sich der Roman dreht, war ein reales Verbrechen. Für mich hat sich deshalb schnell herauskristallisiert, dass sich diese Geschichte am besten in der Form eines Kriminalromans erzählen lässt.

2. In „Helle Tage, dunkle Schuld“ befinden wir uns wenige Jahre nach Kriegsende in Essen. Dort begegnen wir Carl Bruns, der während der NS-Zeit nicht als Polizist arbeiten durfte und erst seit dem Ende des Nazi-Regimes wieder im Dienst ist. Mit welchem Fall bekommt er es zu tun?

Mit einem Mord, der zunächst nach einem ganz alltäglichen Verbrechen aussieht. Doch bei seinen Ermittlungen kommt Carl einer grauenhaften Bluttat auf die Spur, die Jahre zurückliegt und ein dunkles Kapitel der Nachkriegsgeschichte widerspiegelt. Ehe er sich versieht, wird er dabei in den Sog eines Geschehens hineingezogen, das auch sein eigenes Leben komplett auf den Kopf stellt. In einem Satz zusammengefasst: Es geht um unaufgeklärte Verstrickungen in Naziverbrechen und die menschlichen Tragödien, die damit einhergegangen sind.

3. Ihre Geschichte basiert auf einem wahren Fall. Auf welches Ereignis nehmen Sie Bezug?

Auf ein Massaker, das einige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Essen verübt wurde und bei dem mindestens 35 Zwangsarbeiter von örtlichen Polizeikräften erschossen wurden.

4. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Gräueltaten ist bis heute nicht abgeschlossen. Inwiefern möchten Sie mit Ihrem Roman zur Aufklärung beitragen? 

In Deutschland hat eine intensivere, von der Bevölkerung mitgetragene Auseinandersetzung mit Naziverbrechen erst vergleichsweise spät begonnen, teils erst nach Jahrzehnten, oftmals gegen Widerstände aus Politik und Gesellschaft. Die Bereitschaft, der Wahrheit in das verstörend hässliche Antlitz zu blicken, war in Deutschland lange kaum vorhanden, denn das hätte womöglich bedeutet, sich dem eigenen Versagen und der eigenen Schuld zu stellen. Erst die nachfolgende, an Nazi-Unrecht erwiesenermaßen nicht beteiligte Generation mochte sich auf dieses dünne Eis wagen – was bekanntlich in dem erbitterten, auch auf anderen Ebenen ausgetragenen Gesellschaftskonflikt der Sechzigerjahre mündete. Für die noch später geborene Generation bis hin zu den Millennials wurde Nazideutschland in der Folge immer abstrakter, fast zu etwas, das sich auf einem anderen Planeten abgespielt haben könnte. Dabei gerät leicht ins Abseits, dass wir – generationenübergreifend und alle miteinander – auf den Schultern einer Geschichte stehen, die auch unser heutiges Leben und unsere Wertvorstellungen bis in die Tiefen durchdringt. Es gibt in Wahrheit keine „Gnade der späten Geburt“, jedenfalls nicht als Freibrief zum Vergessen. Mein Anliegen als Autorin ist es, hier eine Art Brücke zu schlagen, die Vergangenheit aus trockenem Geschichtswissen in ein emotional anfassbares Drama zu verwandeln und so für den Leser eine Ebene zu schaffen, sich bestimmter Geschehnisse zu erinnern, auch wenn man sie selbst weder erlebt noch mit eigenen Augen gesehen hat.

5. Ab den 1948er Jahren durchdringen ehemalige Nazis Polizei und Justiz. Wie ist es dazu gekommen? Und wurde das jemals aufgearbeitet?

Man muss zunächst einmal zwischen den einzelnen Besatzungszonen unterscheiden. In der sowjetisch besetzten Zone wurde die Entnazifizierung am strengsten betrieben, hier wanderten NS-Belastete massenhaft hinter Gitter und verschwanden in Lagern. Auch in der amerikanischen Besatzungszone bemühte man sich gewissenhaft, die stärker Belasteten von den Mitläufern zu trennen. In der britischen Zone ging man eher pragmatisch vor und war dabei bestrebt, die nötigen Verwaltungsstrukturen am Laufen zu halten. Ein Problem speziell bei der Polizei bestand darin, dass Bedienstete, die nicht mit der Nazi-Ideologie konform gingen, schon bald nach Hitlers Machtübernahme entlassen wurden. Es blieben folglich die überwiegend Gesinnungstreuen im Dienst, von denen zusätzlich viele – das war so gewünscht – der SS beitraten. Im Zuge der Entnazifizierung haben sich bei der Polizei die Reihen stark gelichtet, entsprechend ausgedünnt war die Personaldecke in der ersten Zeit nach dem Krieg. Nach dem Ende der Entnazifizierung wurde in den Westzonen aus schierer Notwendigkeit so manches Auge zugedrückt und auch NS-Belastete wiedereingestellt. Die Regierung der im Jahr 1949 neu gegründeten Bundesrepublik tat nichts, um diesen Trend umzukehren – im Gegenteil: Anfang der 1950er Jahre bekamen NS-belastete Beamte sogar einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung. Zusätzlich schützten Amnestie-Gesetze Täter vor einer Bestrafung. Man wollte einen Schlussstrich ziehen. Wirtschaft und Behörden mussten ins Laufen gebracht werden, auf Fachkräfte und erfahrenes Personal wollte man nicht verzichten. An rückhaltloser Aufarbeitung bestand zu jener Zeit kaum Interesse, Aufbau und Wohlstandsgewinn gingen vor. Erst mit dem Beginn der Ausschwitz-Prozesse setzte in den 1960er Jahren eine stärkere, auch in der Öffentlichkeit ausgetragene Vergangenheitsbewältigung ein. Die Entwicklung hin zu einer Erinnerungskultur, verbunden mit einer allgemeinen Akzeptanz detaillierter Aufarbeitung, dauerte jedoch noch Jahrzehnte.

6. Im Buch beschreiben Sie sehr eindrücklich die Nachkriegszeit in Essen: die Zerstörung jeglicher Infrastruktur, die Not und den Hunger sowie tiefgreifende seelische Traumata innerhalb der Bevölkerung. Wie viel Recherche haben Sie für Ihr Buch betrieben? 

Ich bin als Kind der 1950er Jahre gewissermaßen damit groß geworden. In der Familie hatte jeder sein Trauma, und es wurde oft darüber gesprochen. Meine Eltern wurden ausgebombt, von Tieffliegern beschossen, sie mussten hungern. Mein Großvater wurde im Krieg verwundet und saß in Gefangenschaft. Meine Großmutter ging auf Hamsterfahrt, um die Familie durchzubringen. Über all das gab es viele Geschichten, ich musste nur zuhören und mich später erinnern. Im Laufe der Jahre hat mir vor allem meine Mutter viel von damals erzählt, und auch mit anderen Zeitzeugen habe ich Gespräche geführt.

7. Ihr Roman spielt in Essen. Welchen Bezug haben Sie zur Ruhrpott-Metropole? 

Der Kohlenpott liegt mir ein bisschen im Blut. Meine Eltern stammen aus Essen, meine Großeltern und Urgroßeltern ebenfalls. Ich selbst wäre – wie meine Geschwister – um ein Haar ebenfalls in Essen zur Welt gekommen, aber da lag das Velberter Krankenhaus etwas näher. Aufgewachsen bin ich dann quasi in Spuckweite von Heidhausen im Süden von Essen.

Vielen Dank für dieses Gespräch, liebe Eva Völler.