Die Schlafwandler der Berliner Republik

Bundestag Berlin

Regierungen können am bösen Willen einzelner Beteiligter oder an fehlender Übereinstimmung in zentralen Fragen scheitern. Aber ihr Sturz kann auch ausgelöst werden durch eine Melange aus Inkompetenz, handwerklichem Ungeschick, politischer Diffusität und fehlendem Gespür für die Spannungen der Zeit, wie sie bei der Bundesregierung gerade zu beobachten ist.

Es darf davon ausgegangen werden, dass christdemokratischer Bundeskanzler Friedrich Merz und sozialdemokratischer Vizekanzler Lars Klingbeil wissen, dass es sich bei ihrer Koalition um das vielleicht letzte Aufgebot der demokratischen Parteien handelt. Scheitern sie, wird sich das politische Gefüge Deutschlands grundlegend wandeln. Markus Söder sprach gar ein wenig pathetisch von „der letzten Patrone der Demokratie“.

Aber beiden Vorsitzenden gelingt es nicht, ihre Parteien vom historischen Ernst dieser Lage zu überzeugen. Die Sozialdemokraten schwächten ihren Parteivorsitzenden zum Start der neuen Regierung mit einem katastrophalen Wiederwahl-Ergebnis. Zu viele Christdemokraten folgen ihrem Vorsitzenden und Kanzler nicht bei den Wahlvorschlägen von Richterinnen für das Verfassungsgericht. Beide Vorsitzende verstehen es bislang nicht, ihre Parteien politisch zu führen, in entscheidenden Situationen mitzunehmen und sie auf eine gemeinsame Koalition „einzuschwören“.

Das Richterinnen-Wahl-Desaster bescherte dem sowieso nicht allzu beliebten Unions-Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn Medien übergreifend und zu Recht heftige Kritik. Das sollte die Sozialdemokraten nicht beruhigen. Sie haben – zum Auftakt der gemeinsamen Koalition – mit Frauke Brosius‑Gersdorf eine zweifelsohne renommierte Kandidatin vorgeschlagen, von der sie aber wissen mussten, dass sie beim Koalitionspartner auf grosse Vorbehalte stösst. Dazu bestand keinerlei Notwendigkeit.

Die SPD könnte jetzt, wie es auch die CDU schon auf Vorschlag der Grünen getan hat, ihre Kandidatin zurückziehen. Frauke Brosius‑Gersdorf könnte erklären, sie stehe nicht mehr zur Verfügung, aus welchen Gründen auch immer. Doch das Angebot der SPD, dass sie in der Unions-Fraktion Rede und Antwort steht, hört sich hübsch an, wird den Konflikt aber eher verschärfen. Liegt das im Interesse der SPD? Wie sehr will sie, wenige Monate nach dem Start der neuen Koalition, diese Schwäche der Union nutzen und den grösseren Partner demütigen?

Christopher Clark schildert in seinem Buch „Die Schlafwandler“ über den Ausbruch des ersten Weltkrieges, wie Politiker ohne klares Bewusstsein für die Konsequenzen ihres Handelns Schritt für Schritt in eine Lage geraten, die sie nicht anstrebten, getrieben von kurzfristigen Fehleinschätzungen und Selbsttäuschungen, nicht völlig blind, aber unfähig, die Tragweite ihres Tuns zu begreifen.