Anne Applebaum – Friedensstifterin oder Kriegstreiberin?

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Anne Applebaum (geb. 1964) hat in diesem Jahr zwei sehr angesehene Friedenspreise erhalten, den Carl-von-Ossietzky-Preis und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bereits Im Juni 2024 gab es sehr kritische Stimmen und Vorwürfe an die Jury, die diese Entscheidung getroffen hatte. Applebaum sei eine Kriegstreiberin, weil sie forciert umfassendere Waffenlieferungen in die Ukraine fordert und sehr kritisch zu Verhandlungsversuchen mit Putin ist.

An der außergewöhnlichen fachlichen Kompetenz und Expertise der amerikanisch-polnischen Historikerin und Publizistin haben die Kritiker keine Zweifel. Fünf ihrer Standardwerke wurden Bestseller und liegen in deutscher Übersetzung vor. Sie erhielt den Pulitzer-Preis für ihr Buch „Der Gulag“ und viele andere internationale Auszeichnungen. Und nun gleich zwei Friedenspreise in Deutschland! Dass Anne Applebaum eine zeitgenössische Expertin für Krieg und Frieden ist, darin besteht kein Zweifel. Der strittige Punkt liegt darin, wie der Westen mit der grausamen Aggression Putins im Angriffskrieg gegen die Ukraine umgehen sollte.

Alle Standardwerke der Preisträgerin befassen sich mehr oder weniger mit russischer Vergangenheit oder Gegenwart.

Ihre ersten drei Bücher sind historische Grundlagenwerke (Der Gulag 2003, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956. 2013 und Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine 2019). Die beiden neueren Bücher sind hervorragende Gegenwartsanalysen, bei denen auch Russland und Putin großen Raum einnehmen (Die Verlockung des Autoritären 2021 und Die Achse der Autokraten 2024). Anne Applebaum ist also eine ausgewiesene und international anerkannte Expertin für Russland und die Ukraine.

Nun tobt seit Februar 2022 der brutale Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine. Hunderttausende bis Millionen Menschen haben ihr Leben verloren oder sind schwer verletzt. Der Streit geht um die Mittel und Wege, wie dieser fürchterliche Krieg beendet werden könnte.

Jene, die gegen weitere Waffenlieferungen und für Verhandlungen sind, halten Applebaum für eine Kriegstreiberin, weil sie das Gegenteil fordert und für richtig hält.

In den wichtigsten deutschen Zeitungen ist die Resonanz auf Anne Applebaum überwiegend positiv. Sie erhält viel Zustimmung, Lob und Anerkennung. Die Kritik kommt überwiegend aus den russland-freundlichen Tendenzen (BSW, AfD und linksradikale Positionen).

Anne Applebaum ist eine der fundiertesten und klügsten Putin-Kritikerinnen! Es ist verständlich, dass Putin-Versteher und prorussische Menschen die Position von Anne Applebaum nicht gerade gefällt.

Kurzer Exkurs in die Kritik – Anne Applebaum als Kriegstreiberin

Erste kritische Stimmen erschienen Anfang Juni 2024, als Anne Applebaum der Carl-von-Ossietzky-Friedenspreis in Oldenburg verliehen wurde. Ende Juni wurde dann bekannt, dass sie anlässlich der Frankfurter Buchmesse auch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten sollte. Die ersten Proteste gab es in Norddeutschland nach der Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Friedenspreises an Anne Applebaum (Donat 2024, Drügemüller 2024). Die zweite Kritik- und Protestwelle kam nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Suchsland 2024, Steinberg 2024). Die Kritik richtet sich pauschal gegen die Forderung Applebaums nach verstärkten Waffenlieferungen für die Ukraine und ihrer Skepsis bezüglich Verhandlungslösungen mit dem aggressiven Angreifer Putin. Es geht in allen genannten Artikeln nicht um eine differenzierte Kritik des Inhaltes der Bücher von Applebaum. Diese Mühe machen sich die genannten Autoren gar nicht. Es ist also keine inhaltliche und sachliche Kritik, sondern um eine pauschale Diffamierung Applebaums als „Kriegstreiberin“. Dieses Wort benutzen alle Kritiker. Stefan Steinberg (2024) schreibt beispielsweise:

„Applebaum ist eine berüchtigte neokonservative Kriegshetzerin, die eng  mit dem militärischen Geheimdienstapparat der USA verbunden ist.“ Belege oder Quellen für die Geheimdienstverbindung werden dann nicht genannt.

George Orwell, Thomas Mann und Manès Sperber – Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts für die Pazifismus-Krieg-Diskussion

Anne Applebaum war bei ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche am 20. Oktober vorgewarnt, welche kritische Stimmen in Deutschland gegen sie kursieren. Sie hat vielleicht deshalb in ihrer Rede Bezug zu angesehen deutschsprachigen Autoren genommen, die sich fundiert zur Diskussion von Pazifismus und Krieg geäußert haben – Immanuel Kant, Carl von Ossietzky, Manès Sperber und Thomas Mann. Thomas Mann warnte in seinem Exil vor einer Form des Pazifismus, „der den Krieg herbeiführt, statt ihn zu bannen“ und forderte einen „militanten Humanismus“.

Applebaum zitierte mehrere Male Manès Sperber, den in der Ukraine geborenen Psychologen und Philosophen. Er erhielt im Jahr 1983 – einige Monate vor seinem Tod – wie jetzt Anne Applebaum ebenfalls den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Zitate lauten wie folgt:

„Wer glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt und führt andere in die Irre.“ (Manès Sperber)

„Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren“.

Den britischen Schriftsteller George Orwell zitiert sie ebenfalls zum Thema von Pazifismus und Krieg wie folgt:

„Pazifismus ist objektiv profaschistisch. Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen.“

„Um zu überleben, muss man kämpfen, um zu kämpfen, muss man sich schmutzig machen. Der Krieg ist ein Übel, aber manchmal das kleinere.“

(George Orwell)

Die Illusionen des Pazifismus

Die von Anne Applebaum oben zitierten deutschen Autoren äußerten sich alle kritisch zum Pazifismus. Pazifismus ist eine respektable Haltung in Friedenszeiten. Aber was ist im Krieg, der meist von einem aggressiven Angreifer ausgeht? Lassen sich Soldaten von Pazifisten aufhalten? Hitler und Stalin ließen sich nicht von Pazifisten beeindrucken – sie haben sie einfach umbringen lassen. Pazifisten wie Erich Mühsam, Martin Luther King oder Rosa Luxemburg wurden ermordet. Der Pazifist Carl von Ossietzky ist jämmerlich in einem Konzentrationslager krepiert.

Bei Angriffskriegen durch aggressive Diktatoren – wie seit Februar 2022 der Krieg Putins gegen die Ukraine – plädiert Applebaum für einen gemeinsamen Kampf der angegriffenen Demokratien. Pazifistische Illusionen können dann die Kampfkraft lähmen. Insofern warnt die Preisträgerin:

„Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.“

(Anne Applebaum in ihrer Dankesrede)

Die Schattenseiten des Pazifismus wurden in mehreren Presseberichten über die Preisverleihung besonders aufgegriffen. Gerrit Bartels (2024) verdeutlichte dies im „Tagesspiegel“ mit dem Titel „Pazifismus nützt nur Putin.“ Sonja Zekri postulierte in der Süddeutschen Zeitung (2024) ganz kurz: „Pazifismus? Schlechte Idee.“

Wege zum Frieden

Im letzten Satz ihrer Dankesrede betont Anne Applebaum, dass Freiheit und wahrer Friede möglich sind. Das ist ihre Hoffnung – die Gegenkraft zum Pessimismus. Der Titel ihrer Rede „Gegen den Pessimismus“ verdeutlicht diesen Appell. Ohne Kampf sind Freiheit und Friede oft nicht zu haben. Applebaum plädiert für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und tragfähige Bündnisse. Vielleicht haben die Staaten der Europäischen Union in ihrer Unterstützung der angegriffenen und vital bedrohten Ukraine bislang zu wenig umgesetzt. Sie betont hierzu in ihrer Dankesrede:

„Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben. Gegen das Wiedererstarken des Autoritarismus sind wir in der demokratischen Welt natürliche Verbündete. Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können, und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.“

Literatur

Applebaum, Anne, Der Gulag. Siedler, Berlin 2003

Applebaum, Anne, Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944 – 1956. Siedler, München 2013

Applebaum, Anne, Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler, München 2019

Applebaum, Anne, Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Siedler, München 2021

Applebaum, Anne, Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Siedler, München 2024

Applebaum, Anne, Gegen den Pessimismus. Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 20. Oktober 2024. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

Bartels, Gerrit, Pazifismus nützt nur Putin. Friedenspreis für Anne Applebaum. Tagesspiegel vom 20. Oktober 2024

Donat, Helmut, Der Frieden der Stahlhelme. Anne Applebaum erhält den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg. Junge Welt vom 6. Juni 2024

Drügemüller, Lotta, Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Preis. Protest gegen Jury-Entscheidung. Taz vom 6. Juni 2024

Steinberg, Stefan, US-Kriegstreiberin Anne Applebaum erhält „Friedenspreis“ des Deutschen Buchhandels. World Socialist Web Site vom 20. Oktober 2024

Suchsland, Rüdiger, Friedenspreis für Kriegsideologie? Anne Applebaum unter Beschuss. Telepolis vom 22. Oktober 2024

Zekri, Sonja, Pazifismus? Schlechte Idee. Süddeutsche Zeitung vom 20. Oktober 2024

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Email:  herbert.csef@gmx.de

 

Über Herbert Csef 151 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.