„Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“ oder: Diese Suppe lässt sich löffeln

Entstanden um 1307 bis 1327 ist Dante Alighieris epischen Gedicht „Die göttliche Komödie“ (La Divina Commedia) die erste umfangreiche Dichtung in italienischer Sprache und bis heute ein Hauptwerk der italienischen Literatur. Geschildert wird die eigene Wanderung des Autors durch das Jenseits, nachdem er den „rechten Weg verloren“ hatte. Sie dient sozusagen als Läuterung und ist, weil Dante als Lebender in die Welt der Toten gelassen wird, eine große Gnade. Gemeinsam mit seinem Führer, dem römischen Dichter Vergil, durchschreitet er zunächst die Hölle (Inferno) und gelangt hernach in das zweite Reich des Jenseits, auf den Läuterungsberg (Purgatorio). Auf dem Gipfel angekommen übernimmt dann Beatrice, eine engelsgleiche, idealisierte Frauengestalt die Führung und durchschwebt mit ihm das Paradies (Paradiso), wo er ganz zuletzt die Trinität und Gott selbst erahnen darf. Nicht weniger als dieses 14000 Zeilen umfassende epische Werk des Florentiners hat sich Dan Brown als neueste Werksvorlage herangezogen. Leider verliert es der Bestsellerautor zwischendurch völlig aus dem Blick, um am Ende allerdings genau mit dem Wort zu enden, das auch Dante in allen drei Büchern setzte: „Sterne“. Angesiedelt in dessen Heimatstadt kombiniert, analysiert und entschlüsselt sein Held Robert Langdon, seines Zeichens Professor für Symbolologie und Kunstgeschichte an der Harvard University, erneut die geheimen Botschaften einer groß angelegten Weltverschwörung. Dieses Mal inszeniert von einem „durchgeknallten“ Genie („Wahnsinn bringt Wahnsinn hervor.“), dem Schweizer Genforscher Bertrand Zobrist. Dieser fühlt sich berufen im Alleingang das zunehmende Problem der Menschheit, ihr eigenes, exorbitantes Wachstum, wirkungsvoll zu lösen. „Oh, ihr starrsinnigen Ignoranten. Seht ihr denn nicht die Zukunft? Begreift ihr denn nicht die Brillanz meiner Schöpfung? Die schiere Notwendigkeit?“ Mittels einer bedrohlichen Substanz, die er an einem geheimen Ort platziert, opfert sich der bekennende Dante-Verehrer bereits auf den ersten Seiten selbst und ruft mit seiner hinterlassenen, verschlüsselten Botschaft Robert Langdon auf den Plan. Gemeinsam mit der schönen Intelligenzbestie Sienna Brooks sowie der ständig diffusen Nähe der WHO startet Langdon seinen neuen, spannungsreichen, altbekannten „thinks and run“-Prozess.
„Suche, und du wirst finden.“ Mit diesen Worten im Ohr entfaltet sich über 104 kurze und knackige, immer mit einem Paukenschlag endende, chronologische Kapitel, in steter Abwechslung von erstaunlich geduldiger Kopfarbeit, immer wieder zündenden Geistesblitzen und der sich anschließenden temporeichen (Verfolgungs-)Jagd zum nächsten Schauplatz, ein Museumsbesuch der ganz anderen Art. Seite um Seite hetzt Langdon, analog der allerorts anzutreffenden Touristengruppen mit ihren fähnchenwinkenden Kulturführern, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten: vom Palazzo Vecchio, über il Duomo, dem Baptisterium oder dem Boboli-Garten. Er analysiert Botticellis und Gustave Dorés berühmte Dante-Illustrationen oder Giorgio Vasaris „Battaglia di Marciano“. Und genau daraus speist sich auch das Erfolgsgeheimnis. Nicht der Formen- und Einfallsreichtum führt zum Leserausch, sondern das relativ profane Lesefutter generiert aus eben dieser verwinkelten, spannungsgeladenen Spurensuche seinen Nährwert. Das Ganze wird dann noch mit einer geschichtlich-kulturellen Hintergrundgewürzmischung harmonisch abgeschmeckt, hinzu kommt eine Prise Mystik und ein Tropfen Kunstverstand. Gut durchgerührt entfaltet sich eine breitentaugliche, durchaus nicht übel schmeckende Suppe, zwar ohne herausragende Nuancierungen, aber mit gefälligem Anklang. Eine Synthese, die sogar zum ethisch-moralischen Diskurs taugt. Aber Vorsicht: Schlürfen Sie sie auf jeden Fall im für den Gaumen erträglichen Temperaturbereich. Denn: „Die heißesten Orte der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen.“
Fazit: „Inferno“ wartet erneut mit den von Dan Brown schon hinreichend bekannten und sicherlich auch erfolgsbewährten Bausteinen auf: Weltverschwörungstheorien, historische Fakten, künstlerische Einsprengsel, eine unmittelbare Gefahr für die Gegenwart und dem doch auf seine Art immer etwas gesichtslos bleibenden, akademischen Ermittler Robert Langdon, der die Zusammenhänge erkennen muss und dem man zuweilen zurufen möchte: Jetzt mach aber mal einen Punkt! Mitnichten ein Buch für irgendeinen Literatur-Preis, aber eine spannende, zuweilen auch kulturell-interessante Lektüre ist es allemal. Und warum sollte man nicht auch von Zeit zu Zeit ein gefälliges, gut schmeckendes Süppchen zwischen all der Pasta, den argentinischen Rindersteaks oder Gemüseaufläufen einschieben? Wohl bekomm's!

Dan Brown
Inferno
Aus dem Englischen von Axel Merz und Rainer Schumacher
Bastei Lübbe Verlag (Mai 2013)
685 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3785724802
ISBN-13: 978-3785724804
Preis: 22,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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