Ist der Ukrainekrieg der Todesstoß des westlich-liberalen Fortschrittsoptimismus? Eine Analyse von Andreas Reckwitz

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Der renommierte und vielfach ausgezeichnete deutsche Soziologe Andreas Reckwitz hat sich seit vielen Jahren mit der Kritik des Neoliberalismus auseinandergesetzt. Der Soziologieprofessor von der Berliner Humboldt-Universität hat dabei immer die Bedeutung des Fortschrittsnarratives hervorgehoben. Dieses vermittelt die Hoffnung, dass die Zukunft besser wird als die Gegenwart. Schon vor Jahren warnte Reckwitz, dass dieser Fortschrittsoptimismus stark erschüttert sei. Nun könnte er mit dem Ukrainekrieg seinen finalen Todesstoß erhalten haben.

Der verbrannte Optimismus

Drei Wochen nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat Andreas Reckwitz einen vielbeachteten und kontrovers diskutierten Beitrag in der „Zeit“ veröffentlicht. Er trägt den Titel „Der Optimismus verbrennt“. Darin verfolgt er die ideenhistorischen Wurzeln des Fortschrittsoptimismus seit Kant und Hegel. Nach den Erschütterungen dieses Narrativs durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert sei es durch den Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 zu einem Revival gekommen. Der kommunistische Rivale implodierte und der endgültige Sieg des liberalen Fortschrittsmodells schien besiegelt. Modernisierung bedeutete fortan Verwestlichung. Die Verkündigung des „Endes der Geschichte“ durch Francis Fukuyama wirkte wie eine intellektuelle Bestätigung auf hohem Niveau. Doch bald zeigten sich bedrohliche Risse in diesem schönen Traum. Auf dem Balkan tobte jahrelang ein blutiger Krieg und die Massaker sowie der Genozid von Srebrenica irritierten erheblich. Im Jahr 2001 waren die fürchterlichen Terroranschläge von 9/11 und es folgten die Kriege im vorderen Orient. Im Jahr 2008 marschierten die russischen Truppen in Georgien ein, dann folgten die russischen Bombardierungen in Syrien und schließlich im Jahr 2014 folgte die russische Annexion der Krim. Das Fortschrittsnarrativ hatte tiefe Risse und der hellsichtige Andreas Reckwitz beschrieb diese immer wieder – zuerst in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) und noch deutlicher in „Das Ende der Illusionen“ (2019). Nomen est omen – aber keiner wollte die Warnungen hören. Und als Putin am 24. Februar 2022 seinen Truppen den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gab, sind plötzlich viele aufgewacht. Für die einen war schlagartig ein schöner Traum zu Ende, die anderen erwachten sofort aus einem Alptraum.

In seinem Essay postuliert Andreas Reckwitz:

„Aus etwas größerer Distanz stellt sich der Krieg in der Ukraine allerdings nur als der vorerst letzte Stoß dar, der den westlich-liberalen Fortschrittsoptimismus trifft, wie er sich seit dem Epochenbruch von 1989 etablieren konnte.“

Noch grundlegender sind für Reckwitz die Auswirkungen auf die Weltgesellschaft:

„Der Ukraine-Krieg ist somit der bislang letzte Mosaikstein für ein neues Bild der Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert.“

Die globalen Folgen des Ukraine-Krieges

Während Optimismus und Hoffnungen psychologisch motivierte Phänomene sind, schafft der Ukrainekrieg jedoch auch Fakten. Reckwitz sieht die folgenden drei Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg:

  1. Der Ukraine-Krieg führt zu einer Entglobalisierung. Die globale Mobilität und Vernetzung werden reduziert. Durch die zahlreichen Sanktionen westlicher Staaten gegen Russland gibt es auf beiden Seiten wesentlich Einschränkungen in zahlreichen Wirtschaftsbereichen.
  2. Sicherheit wird für die europäische Politik eine viel größere Bedeutung bekommen als bisher.
  3. Ideologische Konflikte werden zunehmen, insbesondere der Kampf zwischen Liberalismus und Autoritarismus. Diese werden zwischen Staaten ausgetragen, z.B. zwischen westlichen Staaten einerseits, Russland und China andererseits. Sie entstehen jedoch auch in den jeweiligen Nationen, z.B. durch populistische Bewegungen in der eigenen Gesellschaft.

Neue Perspektiven zum Verlust in der Moderne – vom Verlust-Paradox zur Abwärtsspirale

In seiner Analyse einer Soziologie des Verlustes, die er bereits vor dem Ukraine-Krieg entwickelt hat, entdeckt Reckwitz in den Verlusterfahrungen eine starke individuelle und kollektive Dynamik. In ihr liege viel politische Sprengkraft, z.B. bei Verschwörungstheorien oder populistischen Bewegungen. Menschen, die sich benachteiligt, abgehängt oder gedemütigt fühlen und unter Abstiegsängsten leiden, sind leicht manipulierbar und können zu antidemokratischem Verhalten instrumentalisiert werden. Eine Vielzahl von aktuellen Verlusterfahrungen, führe zu einer „Verlustpotenzierung“. In dem von Reckwitz postulierten Verlust-Paradox stehen sich jedoch Verlustpotenzierung und Verlustreduktion gegenüber. Das Individuum und die Gesellschaft bewegen sich in seiner Analyse zwischen Verlustverdrängung und Verlustfixierung. Psychologisch führen die Verlusterfahrungen zu Motiven, Gefühlen und Affekten. Reckwitz spricht von „Verlustwut, Verlusttrauer und Verlustangst“. Soziologisch relevant nennt er folgende Verlusterfahrungen der Spätmoderne: Statusverlust, Anerkennungsverlust, Vermögensverlust, Machtverlust, Kontrollverlust, Ordnungsverlust und Verlust sozialer Beziehungen. In der Summation führen diese Verlusterfahrungen zu einem Verlust von Zukunft: Die Erwartungen und Hoffnungen auf eine verlässliche und positive Zukunft schwinden zunehmend. Die psychischen Reaktionen sind eine verstärkte Verlustsensibilisierung und Verlusteskalation der Menschen. Der Schwund von Zukunftshoffnungen führt zu einer Abwärtsspirale und zur Umkehr des oben beschriebenen Fortschrittsoptimismus. Durch den Ukraine-Krieg bekommt diese Gegenbewegung und Umkehr eine neue Radikalität. Die oben beschriebenen emotional-affektiven Attribute des Verlustes wie Wut, Trauer und Angst werden massiv überschattet durch eine brutale Faktizität: Hunderttausende Menschen verlieren ihr Leben, Millionen Menschen sind auf der Flucht und emigrieren in sichere Länder. Städte und lebenswichtige Infrastruktur werden zerstört. Die Faktizität des Verlustes hat jetzt eine erschreckende und existentielle Dimension: Verlust bedeutet jetzt Tod, Zerstörung und Vernichtung. Politiker sprechen jetzt oft von Zeitenwende. Wie das „neue Bild der Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert“ nach dem Ukraine-Krieg aussehen wird, bleibt offen. Die Parole von Karl Popper „Die Zukunft ist offen“ hat hier eine besondere Bedeutung.

Literatur

 Reckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, Berlin

Reckwitz, Andreas (2019). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp, Berlin

Reckwitz, Andreas (2020). Risikopolitik. In:  Volkmer, Michael, Werner, Karin (Hrsg.) Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Transcript Verlag, Bielefeld , S. 241 -252

Reckwitz, Andreas (2021). Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts. Soziopolis vom 6. Mai 2021

Reckwitz, Andreas (2022). Verlust und Moderne – eine Kartierung. Merkur vom 3. Januar 2022

Reckwitz, Andreas (2022). Der Optimismus verbrennt. Die Zeit vom 17. März 2022, Seite  47

Reckwitz, Andreas (2022). Der erschütterte Fortschrittsoptimismus. Deutschland Archiv vom 11. April 2022. www-bpb.de/507282

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Email: herbert.csef@gmx.de

 

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.