Die DDR des Egon Krenz hat es nie gegeben – Zum zweiten Band seiner „Erinnerungen“

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Der in Dierhagen/Ostsee lebende SED-Rentner Egon Krenz (87) hat seine Drohung wahrgemacht und dem ersten Band seiner Erinnerungen „Aufbruch und Aufstieg“ (2022) einen zweiten folgen lassen, der um 200 Seiten umfangreicher ist als der erste. Während im ersten Band die 36 Lebensjahre des unermüdlich schreibenden Autors von der Geburt in Kolberg/Hinterpommern bis zur Krönung als FDJ-Führer 1974 abgehandelt werden, ist der Folgeband eingeschränkt auf die Jahre 1974/88. Der Mauerfall vom 9. November 1989 mit dem Untergang des SED-Staates soll dann im dritten Band erörtert werden.

Egon Krenz hat dieses Buch keineswegs, wie er behauptet, geschrieben, um seiner „Chronistenpflicht“ nachzukommen, sondern nur deshalb, um in 33 Kurzkapiteln, den Absturz dieses merkwürdigen Staatsgebildes schönzureden, in der Hoffnung, 34 Jahre danach wären alle Zeitzeugen verstorben, die ihn hätten widerlegen können. Dass diese Hoffnung getrogen hat, zeigt schon die zornige Reaktion Eberhard Aurichs (geboren 1946), seines Nachfolgers 1983/89 in der FDJ-Leitung, der am 12. Februar auf einer ganzen Seite der alten SED-Zeitung „Neues Deutschland“ unter dem Titel „Ein Buch voller Leerstellen“ die euphemistische Sicht auf die DDR-Geschichte in mehreren Punkten widerlegt. Was Egon Krenz seinen Lesern mit diesen Erinnerungen bietet, ist ein Märchenbuch über einen Staat, den es nie gab. Deshalb arbeitet er mit Weglassungen, Missdeutungen und Fehleinschätzungen, wobei die DDR-Führung, sollte sie tatsächlich einmal Fehler begangen haben, immer entschuldigt und reingewaschen wird, während der Staat des „Klassenfeinds“ in Westdeutschland, dessen hochbewaffnete Armee an der innerdeutschen Grenze nur darauf wartete, den DDR-Sozialismus zu vernichten, als „aggressiv“ und „kriegslüstern“ verdammt wird. Was Egon Krenz unerwähnt lässt, ist, dass allein die Existenz der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer blühenden Wirtschaft den DDR-Bürgern eine ständige Alternative bot.

Nehmen wir zum Beispiel das sechste Kapitel „Ein Pfarrer, ein Sänger und ein Manifest“, wo es um den Pfarrer Oskar Brüsewitz (1929-1976) und den 1976 ausgebürgerten „Liedermacher“ Wolf Biermann (geboren 1936) geht. Obwohl der „Bund der Evangelischen Kirchen“ in der DDR, so Egon Krenz, keine Pressemitteilung über die Selbstverbrennung des Pfarrers am 18. August 1976 an der Marktkirche in Zeitz hätte veröffentlichen wollen, hätte jemand aus Kirchenkreisen die „Schreihälse vom westdeutschen Fernsehen“ (Erich Honecker) verständigt. Ohne den von den „Bonner Revanchisten“ betriebenen „Kalten Krieg“ gegen die DDR hätte „die ganze Angelegenheit erledigt sein können“. Wahrscheinlich hätten viele solcher „Angelegenheiten“ klammheimlich „erledigt sein können“, wenn nicht westdeutsche Journalisten davon erfahren und darüber geschrieben hätten. Nicht zuletzt deshalb ist am 24. November 1961 die „Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen“ in Salzgitter gegründet worden, damit DDR-Verbrechen nicht ungesühnt blieben.

Diese Tendenz, das ununterbrochene Scheitern des DDR-Sozialismus dem unheilvollen Wirken des „Klassenfeinds“ in Westdeutschland anzulasten, zieht sich wie ein roter Faden durch alle 448 Seiten dieses Buches! Nirgendwo kann man den schlichten Satz lesen: „Wir haben überall versagt! Wir haben am 13. August 1961 in Berlin die Mauer gebaut, damit uns die Leute nicht weglaufen! Wir haben Hunderte von Flüchtlingen an den DDR-Grenzen erschossen, weil sie nicht in unserem Staat leben wollten! Wir haben Tausende Andersdenkender verhaftet und für Jahre in unsere Zuchthäuser geworfen, weil sie diesen Sozialismus nicht wollten!“

Stattdessen schreibt der unbelehrbare Verfasser im Kapitel „Der letzte Parteitag“ (1986) nichtssagende Sätze, die auf die Leipziger Demonstranten vom Herbst 1989 wie Hohn wirken mussten: „Der Sozialismus war trotz aller Unvollkommenheiten die Freiheit von Ausbeutung, von Unterdrückung und Erniedrigung des Volkes, von Arbeitslosigkeit, von sozialer und geistiger Verelendung…Es gab ein leistungsstarkes Gesundheitswesen. Die Theater und Kulturstätten standen allen weit offen.“ Hier sind jeder Punkt und jedes Komma widerlegbar. Hat denn der Autor dieser Sätze nie von der massenweisen Ausbürgerung kritischer DDR-Schriftsteller nach dem 16. November 1976 gehört?

Neben allen Lobgesängen auf den unaufhaltsamen Marsch in die „klassenlose Gesellschaft“ erfährt der Leser von Egon Krenz aber auch Details aus dem Alltagsleben der DDR-Bürger, zum Beispiel, dass es tatsächlich, wie immer schon vermutet, den Einsatz von Dopingmitteln bei der Leistungssteigerung von DDR-Sportlern gab. Auch aus dem sozialistischen Wirtschaftsleben, wo die „unverbrüchliche Freundschaft“ mit der Sowjetunion ganz oben stand, gibt es Brisantes zu berichten. Im Kapitel „Kartoffeln für Leningrad“ wird mitgeteilt, dass der „Bruderstaat“ 1985 eine schlechte Kartoffelernte gehabt und deshalb den Genossen Erich Honecker in Berlin um die schnelle Lieferung von einer Million Tonnen Kartoffeln gebeten hätte. Klassenbewusst lieferten die DDR-Exporteure in kürzester Frist, aber es gab im Leningrader Hafen nicht genug Liegeplätze für die ankommenden DDR-Schiffe, und es gab Nachtfröste im Oktober 1985, sodass die Kartoffeln tonnenweise erfroren: „Bestraft wurde für die Vergeudung niemand!“ (Egon Krenz). Überall, so erinnern sich Eingeweihte heute noch, herrschte Schlamperei in der sozialistischen Wirtschaft!

Ein Dauerthema in diesem Buch ist auch die von Moskau misstrauisch beobachtete Abhängigkeit der DDR-Wirtschaft von westdeutschen Krediten, ohne die der DDR-Sozialismus unter Erich Honecker nicht überlebensfähig war. Vor allem der CSU-Politiker Franz Josef Strauß, der von der DDR-Presse als „Kommunistenfresser“ geschmäht wurde, stand plötzlich in hohem Ansehen, weil er zwei Milliarden Westmark ins Land brachte. Mit der horrenden Summe von 3,4 Milliarden Westmark für den Freikauf von 33 755 politischen Häftlingen 1963/89 hätte die konkursanfällige DDR-Wirtschaft saniert werden können, wozu aber die realitätsblinden Ideologen im SED-Politbüro nicht fähig waren. Der Gedanke liegt nahe, dass eine Rettung des SED-Staates nach dem Machtantritt Michail Gorbatschows am 11. März 1985 überhaupt nicht mehr möglich war.

Aufschlussreich ist auch die Diskussion darüber, warum die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) den Literaturnobelpreis nicht bekommen hat, obwohl sie zur Auszeichnung anstand. Erich Honecker, schreibt Egon Krenz, wäre aus Stockholm angerufen worden, ob sie denn zur Entgegennahme des Preises ausreisen dürfte, so sie ihn zugesprochen bekäme. Der Staatsratsvorsitzende hätte die Frage bejaht, und das wäre sein Fehler gewesen. Hätte er sie verneint, hätten die „Kalten Krieger“ in Westdeutschland wieder reichlich Stoff gehabt, gegen die DDR zu „hetzen“.

Im Kapitel „Eingabe einer Frauenkommission“ schreibt Egon Krenz: “Die DDR hatte keine Verwaltungs- und Verfassungsgerichte.“ Als Erklärung, warum es diese Gerichte nicht gab, wird angeboten, dass „diese Gerichte in der Weimarer Republik einen reaktionären Charakter hatten und zu ihrem Untergang beitrugen“. Das also ist der wahre Grund, warum es solche Gerichte im „Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht gab! Die „herrschende Klasse“ in der SED-Diktatur wollte keinesfalls, dass dieser Staat, dessen Regierung in 40 DDR-Jahren nie durch demokratische Wahlen legitimiert war, unterging. Hätte es diese Gerichte gegeben, hätten sie sich vor Prozessen gegen staatliche Willkür kaum noch retten können. So schuf man stattdessen das scheindemokratische Institut der „Eingabe“, das seit 27. Februar 1961 auch gesetzlich verankert war. Egon Krenz berichtet nun von der „Eingabe“ der Frauenkommission eines Landmaschinenkombinats im Bezirk Dresden wegen mangelnder Fleischversorgung. In demokratischen Staaten werden Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft von Presse, Hörfunk und Fernsehen aufgegriffen. Der Grund für die Versorgungsmängel war hier der außerplanmäßige Export von Fleisch in den kapitalistischen Nachbarstaat, was von Politbüromitglied Günter Mittag, nach dessen Aussage die DDR schon 1981 bankrott war, angeordnet worden war.

Michail Gorbatschow (1931-2022), dessen Reformkurs Egon Krenz zunächst begrüßte, empfand er zunehmend als politischen Gegner, letztendlich verdankt er ihm seinen Rücktritt am 6. Dezember 1989. Aber auch auf Konrad Naumann (1928-1992), den Ostberliner SED-Bezirkssekretär bis 1985, ist er nicht gut zu sprechen, weil der „in angetrunkenem Zustand“ am 17. Oktober 1985 in der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ heftige Kritik an der SED-Führung geübt hatte, weshalb er am 6. November aller Ämter enthoben und in die Provinz verbannt wurde. Im Spätsommer 1991 traf ich ihn zufällig in der ekuadorianischen Hafenstadt Guayaquil, wo er mit seiner Ostberliner Ehefrau „im Exil“ lebte. Er hielt mir dann einen kleinen Vortrag darüber, dass die DDR am 9. November 1989 nicht kollabiert wäre, wenn Erich Honecker seine Vorschläge zur Rettung des Sozialismus befolgt hätte.

Überall in diesem Buch berichtet der Verfasser über wachsende Spannungen in der DDR-Gesellschaft in den Jahren vor dem Mauerfall 1989.Und fast immer werden Proteste gegen staatliche Willkür so interpretiert, dass der westdeutsche „Klassenfeind“ dafür verantwortlich ist, wenn die Bevölkerung aufbegehrt. Im Fall der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow, deren Schüler auch der damals 16jährige Sohn Carsten Krenz war, trug allerdings, so Egon Krenz, Margot Honecker, seit 1963 Ministerin für Volksbildung, die Mitschuld am Aufruhr, weil sie „irrational“ reagiert hätte. Im Herbst 1988 hatten mehrere Schüler, vom Schulrektor zur freien Meinungsäußerung aufgefordert, kritische Bemerkungen zur SED-Politik an die im Schaukasten hängende FDJ-Wandzeitung geheftet. So freilich hatte sich der Rektor die freie Meinungsäußerung nicht vorgestellt. In der Schule herrschte helle Aufregung, als auch noch der Jungsozialist Carsten Krenz, der der FDJ-Leitung der Schule angehörte, gegen seine Mitschüler Stellung bezog. Nun wurden Kreis- und Bezirksleitung von FDJ und SED und die „Staatssicherheit“ eingeschaltet. Die vier Delinquenten wurden, nach öffentlicher Beschimpfung in der Aula, der Schule verwiesen. Philipp Lengsfeld, der Sohn der 1988 emigrierten Dissidentin Vera Lengsfeld, durfte zu seiner Mutter nach Cambridge ausreisen. Als er ein Jahr später nach Ostberlin zurückkehrte, war die Mauer gefallen!

Die Erinnerungen des Egon Krenz sind kein Geschichtsbuch. Es sind subjektiv eingefärbte Berichte vom Aufstieg eines Kommunisten bis an die Spitze des Staates. Da galt es Rücksichten zu nehmen auf Freunde und andere Zeitzeugen.

Egon Krenz „Gestaltung und Veränderung. Erinnerungen“, Verlag edition ost, 448 Seiten, 26.00 Euro, Berlin 2023

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.