Meine Freunde sterben dahin, die Luft wird dünner, aber ich lebe noch!

Friedhof, SGL

Einmal im Jahr lasse ich mich von meinem Geriatrie-Professor im Coburger Klinikum gründlich untersuchen. Auch am 1. Februar, als wir zweieinhalb Stunden dort waren, hat er nichts gefunden. Und meine Zahnoperation, die schon Wochen andauert, wird am 23. Februar abgeschlossen sein.

Aber Freunde von mir sind gestorben, mit denen ich mich gerne noch unterhalten hätte. Am 19. September 2023 starb in Gau-Algesheim bei Mainz Peter Ochs (1943-2023). Er war 1966/67 mit mir, Kirsten Schirmer und Artur Rümmler Deutschlehrer in Schweden, hat danach Staatsexamen gemacht, hat aber nie als Lehrer gearbeitet. Ich kannte ihn aus der „nobis“-Redaktion.

Am 1. Dezember 2023 starb in Mainz Thomas Schroeder (1938-2023), der 1964, als ich aus Waldheim entlassen wurde, Chefredakteur der „nobis“ war. Er hat mir dann, als wir uns noch nicht kannten, einen langen Brief nach Freiburg/Breisgau geschrieben, wo ich bis zum Studienbeginn im Mai 1965 bei meinen Eltern wohnte. Er warb damals um meine Freundschaft und hat Anfang 1965 in Mainz unseren Freundeskreis in einem Raum der Universität versammelt. Dort berichtete ich ausführlich über meine Zuchthauserlebnisse. Unter den Zuhörern saß auch Wolf Lepenies (damals 24 Jahre alt), ein junger Student, der später ein berühmter Soziologe werden sollte. Er sagte während der ganzen Veranstaltung kein einziges Wort, sondern hörte nur zu. Tom Schroeder, der in Grünberg/Schlesien geboren wurde, begann 1959 in Mainz ein Studium der Evangelischen Theologie, der Germanistik und der Philosophie, machte aber nie Examen, sondern wurde in der Musikbranche aktiv. Als ich im April 1976 aus Schweden zurückkam, wollte er bei der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann (1916-2010) promovieren, die aber, da sie nicht habilitiert war, über kein Promotionsrecht verfügte. Dann versuchte er es bei dem Soziologen Helmut Schoeck (1922-1993), der das Buch „Der Neid“ (1966) geschrieben hatte, aber daraus wurde auch nichts. Ich habe Tom immer wieder einmal getroffen, zuletzt im November 2022 in Mainz, wo ich in der Neuen Synagoge an einer Podiumsdiskussion über Anna Seghers teilnahm.

Am 7. Dezember 2023 starb in Detroit der Germanist Guy Stern (1922-2023) im Alter von 101 Jahren, der als Günter Stern in Hildesheim geboren wurde. Er konnte 1937 im Alter von 15 Jahren zu einem Onkel in die Vereinigten Staaten emigrieren und hat seine Eltern und Geschwister nie wieder gesehen. Ich lernte ihn im Spätsommer 1969 in Stockholm auf der ersten internationalen Tagung über deutsche Exilliteratur kennen, traf ihn auf der Nachfolgetagung 1972 in Kopenhagen wieder. Als ich im November 1972 an die Indiana University in Bloomington ging, lud er mich an die University of Cincinnati ein, wo er Professor war. Vor dem Kreis seiner Studenten sprach ich über die beiden Tagungen in Stockholm und Kopenhagen. Auf der dritten Tagung über deutsche Exilliteratur 1975 in Wien traf ich ihn wieder. Anschließend besuchte er mich noch in Mainz, wir gingen ins Kabarett „Unterhaus“, er übernachtete bei mir, einmal fuhr ich ihn auch zu dem Amerikanisten Hans Galinsky (1909-1991), der in seinen jungen Jahren nach 1933 ein eifriger Nazi war und NSDAP-Mitglied seit 1. Oktober 1933, er wurde Professor und lehrte 1942/45 an der Reichsuniversität Straßburg. Sie unterhielten sich angeregt miteinander, während ich im Hintergrund saß. Vielleicht wäre es höflicher gewesen, ich wäre für eine Stunde weggefahren. Diese Freundschaft zwischen einem Juden, dessen Familie umgebracht worden war, und einem einst überzeugten Nationalsozialisten habe ich nicht verstanden! Guy Stern hat im Jahr vor seinem Tod unter dem Titel „Wir sind nur noch wenige“ (2022) seine Lebenserinnerungen veröffentlicht, die englischsprachige Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel „Invisible Ink“ (Unsichtbare Tinte). Ein Jahrhundertbuch!

Der DDR-Philosoph Wolfgang Harich (1923-1995) hätte am 9. Dezember 2023 seinen 100. Geburtstag feiern können. In irgendeiner Zeitung stand ein Artikel über ihn, was mich antrieb, einmal aufzuschreiben, was ich über die Intellektuellen des Kreises um Wolfgang Harich 1956 wusste. Es waren höchstens zwei Dutzend Leute, die nach der Geheimrede Nikita Sergejewitsch Chrustschows (1894-1971) in Moskau (die Rede dauerte fünf Stunden) am 25. Februar 1956 unter dem Titel „Über den Personenkult und seine Folgen“ darüber nachdachten, wie man den Stalinisten Walter Ulbricht (1893-1973) entmachten könnte. Dieses Nachdenken brachte Wolfgang Harich in Berlin zehn Jahre Zuchthaus ein, dem Schriftsteller Erich Loest (1926-2013) in Leipzig siebeneinhalb. Ein halbes Jahrhundert später hat Erich Loest das Buch „Prozesskosten“ (2007) geschrieben, das ich jetzt, 17 Jahren nach seinem Erscheinen, endlich gelesen habe. Die viereinhalb Seiten, die er über mich in diesem Buch geschrieben hat, kenne ich selbstverständlich, er hatte mich ja gebeten, für ihn auf wenigen Seiten alles über meine Verhaftung, Verurteilung und Strafhaft in Waldheim aufzuschreiben. Er meinte immer, ich wäre der „letzte Vertreter des Harich-Kreises“, was ich nicht war. Erich Loests Buch lohnt die Lektüre, er kannte Walter Janka (1914-1994), Gustav Just (1921-2011) und Jochen Wenzel (1927-1958), der in der Untersuchungshaft verstorben ist. Er hatte Leberkrebs und lag im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf. Obwohl er todkrank war und wusste, dass er sterben würde (auch die Staatssicherheit wusste das!), wurde er nicht für die letzten Tage seines Lebens zu seinen Angehörigen entlassen. Er stammte aus Chemnitz, arbeitete als Redakteur für das in Leipzig erscheinende „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ und wechselte 1956 zum „Sonntag“ in Ostberlin, der Wochenzeitung des „Kulturbunds“, wo Gustav Just damals stellvertretender Chefredakteur war, dort lernte er auch Walter Janka und Wolfgang Harich kennen. Dort erschienen bis zum Ungarnaufstand im Herbst 1956 einige kritische Artikel auch von Gerhard Zwerenz (1925-2015), der im Sommer 1957 nach Westberlin floh. Jochen Wenzel wurde am 15. November 1956 verhaftet und starb am 1. April 1958 im Haftkrankenhaus. Alles, was ich von seinem Schicksal wusste, hat mir Gerhard Zwerenz bei meinem Besuch am 8. Juli 1961 in Köln erzählt. Als ich nach meiner Verhaftung in Leipzig am 9. September 1961 den Vernehmungsoffizier der Staatssicherheit (Leutnant Rudolf Körner) nach Jochen Wenzel fragte, antwortete er: „Wir sind nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu geben!“

Ich weiß nicht, warum mir neulich der Name des KZ-Arztes Dr. Sigmund Rascher (1909-1945) einfiel, von dem ich bereits 1954, als ich 17 Jahre alt war, gehört hatte, weil in der Münchner Illustrierten QUICK ein Artikel über ihn stand. Bei WIKIPEDIA steht ein langer Beitrag über ihn, im Literaturverzeichnis ist ein Aufsatz des Historikers Wolfgang Benz „Dr. med. Sigmund Rascher – eine Karriere“ aus den DACHAUER HEFTEN 1988 (S.190-214) aufgeführt, den ich mir habe kopieren lassen.

Sigmund Rascher trat während des Studiums 1933 der NSDAP bei, 1936 der SA und 1939 der SS. Am 23. April 1939 wurde Rascher von Heinrich Himmler, dem „Reichsführer SS“ in Berlin, empfangen. Seine 15 Jahre ältere Frau Karoline Diehl kannte Himmler, sie soll ihm vor 1933, in der Frühphase der NSDAP, vor Verfolgung Unterschlupf gewährt haben. Rascher selbst hat, was erwiesen ist, durch seine im KZ Dachau erfolgten „Unterdruckversuche“ über 150 Häftlinge umgebracht. Im März 1944 wurde er wegen mehrerer Betrugsdelikte und wegen Mord an seiner Assistentin Julie Muschler, mit seiner Frau verhaftet. Karoline Rascher kam ins Frauen-KZ Ravensbrück, wo sie nach einem Überfall auf eine KZ-Aufseherin gehängt wurde. Sigmund Rascher wurde auf Befehl Heinrich Himmlers von der SS im KZ Dachau durch Genickschuss exekutiert.

Letzten Sonntag gab es im Fernsehen einen Film über die Galapagos-Inseln. Ich war dreimal für mehrere Wochen in den Sommern der Jahre 1991/92/93 in Ekuador, zu dessen Staatsgebiet die Inseln gehören. Im Sommer 1993 flog ich von der Küstenstadt Guayaquil am Pazifik, der zweitgrößten Stadt des Landes, die 1254 Kilometer auf die Inseln. Dort gab es 1993 zwei Flughäfen, auf einem landeten wir. Für uns Touristen lag ein Schiff bereit, das wir mit einem Bus, der quer über die Insel fuhr, erreichten. Mit diesem Schiff, auf dem wir auch übernachteten und unsere Mahlzeiten einnahmen, fuhren wir von Insel zu Insel und bestaunten die Vogelwelt. Da die Tiere dort den Menschen nicht als Feind kennen, blieben sie sitzen, als wir uns näherten, auch die brütenden Vögel, und ließen sich streicheln. Am letzten Tag, als wir abends zurückfuhren zu unserer Stamminsel, sahen wir Unmengen fischfressender Vögel am Himmel, die sich kopfüber in der Abendsonne ins Meer stürzten und immer, mit einem Fisch im Schnabel, wieder auftauchten. Es war ein herrlicher Anblick!

Manchmal gehen mit Melodien durch den Kopf, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen, zum Beispiel die zum Text „Wir sind auf der Walz vom Rhein durch die Pfalz, durch Bayern und Sachsen und Schwaben.“ Das stammt aus der Operette „Schwarzwaldmädel“, die 1917 an der Komischen Oper in Berlin uraufgeführt wurde. Der Komponist Leon Jessel (1871-1942) ist in Stettin geboren und starb am 4. Januar 1942 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Wenn man weiß, dass er Jude war, ahnt man, was ihm zugestoßen ist. Er wurde, wegen eines Briefes an seinen Librettisten, am 15. Dezember 1941 von der GESTAPO in Berlin-Mitte abgeholt und fast totgeprügelt. Heute gibt es, seit 1985, in Berlin-Wilmersdorf, einen Leon-Jessel-Platz.

Am 10. Februar haben wir mit Verwandten und Freunden meinen 87.Geburtstag gefeiert. Frühstück gab es im Café Schubart in der Mohrenstraße und Abendbrot im Restaurant „Goldenes Kreuz“ in der Herrengasse. Ich wurde von allen Seiten reich beschenkt und danke meiner Frau Gabriele für die umsichtige Vorbereitung. Groß gefeiert wird dann wieder 2027 zum 90. Geburtstag!

 

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Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.