Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf. Wechselseitige Freundschaft und Anerkennung

buch plato philosophie weisheit lehre innere ruhe, Quelle: moritz320

Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf dürfen als die beiden bedeutendsten philosophischen, soziologischen und politischen Denker der Nachkriegszeit Deutschlands gewürdigt werden. Jürgen Habermas wurde im Jahr 2004 mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet, dem höchsten Preis, den ein Philosoph erlangen kann. Über Ralph Dahrendorf wurden in den letzten Jahren vier Biographien veröffentlicht, die sowohl sein reichhaltiges Leben als auch sein umfassendes Werk würdigen (Meifort 2017, Kühne 2017; Hauser 2019; Kieseritzky et al 2020). Jürgen Habermas und Ralph Dahrendorf verbinden zahlreiche biographische Gemeinsamkeiten und fünfzig Jahre gemeinsamer Wegstrecke, die sie in wechselseitiger Wertschätzung bis Freundschaft verbracht haben.

Biographische Koinzidenzen

Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf wurden beide im Jahr 1929 geboren. Beim Ende des Zweiten Weltkriegs waren sie gerade 16 Jahre alt. Sie studierten Philosophie und Soziologie und wurden zu den einflussreichsten Denkern der Nachkriegszeit in Deutschland. Mehr als fünfzig Jahre lang waren sie Weggefährten und Zeitgenossen. Große wechselseitige Anerkennung kennzeichnen die Beziehung der beiden großen Denker. Ralf Dahrendorf ist am 17. Juni 2009 kurz nach seinem 80. Geburtstag gestorben. Sein Todestag war genau einen Tag vor dem 80. Geburtstag von Jürgen Habermas.

Dahrendorf und Habermas am Frankfurter Institut für Sozialforschung

Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf waren beide durch ihr Studium der Philosophie und Soziologie an ähnlichen Themen interessiert. Insofern war es kein Zufall, dass beide eine Tätigkeit am renommierten Frankfurter Institut für Sozialforschung hatten, das damals von Theodor W. Adorno geleitet wurde. Hier zeigt sich jedoch ein großer Unterschied, der Jahre später im renommierten Positivismus noch deutlicher werden sollte. Zwischen Ralf Dahrendorf und Adorno „stimmte die Chemie nicht“. Dahrendorf erlebte die Atmosphäre am Institut für Sozialforschung als unerträglich und hat bereits nach einem Monat gekündigt. Im Gegensatz dazu verweilte Jürgen Habermas viele Jahre am Institut für Sozialforschung und wurde nach dem Tod von Theodor W. Adorno einige Zeit der Institutsleiter. Die große Verschiedenheit in der Resonanz auf Adorno wurde später im Positivismusstreit deutlich, in dem Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas Kontrahenten wurden. Der Positivismusstreit begann im Jahr 1961 und beschäftigte die intellektuelle Welt der Bundesrepublik mehr als ein Jahrzehnt ganz intensiv.

Ralf Dahrendorf – geprägt durch Karl Popper und die London School of Economics

Ralf Dahrendorf hat sein Philosophiestudium in Hamburg sehr zügig und effektiv absolviert. Bereits mit 23 Jahren war er promoviert. Frühzeitig hatte er Verbindungen nach Großbritannien und so zog es ihn im Jahr 1952 nach England, wo er an der berühmten London School of Economics ein Soziologiestudium erfolgreich abschloss. Dabei lernte er den berühmten Philosophen Karl Popper kennen und schätzen. Aus dieser Begegnung wurde eine jahrzehntlange Freundschaft. Philosophisch und wissenschaftstheoretisch war Karl Popper der absolute Gegenpol zu Theodor W. Adorno. Diesen Antagonismus hat Ralf Dahrendorf intuitiv sehr früh gespürt und hier liegen auch die Wurzeln für den späteren Positivismusstreit.

Erste Begegnung im Jahr 1955

Im Jahr 1955 veranstaltete der damals einflussreiche Soziologe Helmut Schelsky in Hamburg eine Soziologentagung. Ralf Dahrendorf kam gerade als doppelt promovierter Akademiker aus England zurück. Habermas und Dahrendorf waren damals beide 26 Jahre alt. Im Jahr 2009 hielt Jürgen Habermas die bekannte Oxforder Rede zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf. Dort ist zu lesen:

„Helmut Schelksy hatte 1955 den soziologischen Nachwuchs nach Hamburg eingeladen. In diesem aus der Retrospektive auf die alte Bundesrepublik erlauchten Kreis stellte ein Privatdozent aus Saarbrücken alle anderen in den Schatten. Dieser konstruktive Geist, der lieber mit idealtypischen Stilisierungen Klarheit schafft, als mit hermeneutischer Kunst jongliert, fiel durch seine wuchtige Eloquenz ebenso auf wie sein kompromissloses, Autorität beanspruchendes Auftreten und die etwas kantige Art des Vortrags. Was Ralf Dahrendorf aus diesen Kreis auch hervorhob, war das avantgardistische Selbstbewusstsein, mit den alten Hüten aufzuräumen.“

(Habermas 2009)

Dahrendorf und Habermas als Kontrahenten im Positivismusstreit

Im Nachkriegsdeutschland gab es in den sechziger Jahren verschiedene Strömungen der Soziologie. International waren die verschiedenen Fachgesellschaften der Soziologie sehr heterogen. Ralf Dahrendorf war gerade 32 Jahre alt und frischgebackener Soziologie-Ordinarius an der Universität Tübingen. Der junge und konfliktfreudige Soziologe hatte die Vision, durch eine kontroverse Diskussion die einzelnen Strömungen der Soziologie in ihren wissenschaftstheoretischen Grundlagen transparent zu machen. Sie sollte positive Impulse für die künftige soziologische Forschung ergeben. Dahrendorf schlug vor, eine Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu diesem Thema zu organisieren. Er kannte ja Adorno persönlich von seiner einmonatigen Stippvisite am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Die bundesdeutsche Lage schätzte er so ein, dass die beiden führenden Soziologen König und Schelksy im Vergleich zu schwach seien, um gegen den mächtigen Adorno eine Gegenposition aufzubauen. Deshalb lud er Karl Popper als Gegenpol und Kontrahenten ein und konnte sich sicher sein, dass dieser eine deutliche Gegenposition zu Adorno vertreten würde. Auf der Tübinger Tagung im Oktober 1961 hielten Karl Popper und Th. W. Adorno jeweils ein Grundsatzreferat mit dem Titel „Die Logik der Sozialwissenschaften“. Adorno und Popper vertraten ihre bekannten Positionen und traten nicht direkt in einen kontroversen Diskurs ein. Diese unangenehme Aufgabe delegierten die beiden Titanen an ihre jüngeren Mitstreiter. Der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert vertrat dabei die Position von Karl Popper und Jürgen Habermas jene von Th.W. Adorno. Dahrendorf hatte im Positivismusstreit teilweise eine vermittelnde Funktion und war in seiner wissenschaftstheoretischen Auffassung jedoch eindeutig auf der Seite von Karl Popper und gegen T. W. Adorno. Über die Tübinger Tagungen sollte ein Sammelband publiziert werden, in dem sowohl die beiden Grundsatzreferate als auch die wichtigsten Diskussionsbeiträge veröffentlicht werden sollten. Diese Publikation selbst entwickelte sich zu einem neuen „Streit“, so dass schließlich der Tagungsband erst im Jahr 1989 erschien (Adorno et al 1989), also acht Jahre nach der stattgefundenen Tübinger Tagung. Th. W. Adorno ist einige Monate nach dem Erscheinen des Tagungsbandes verstorben.

Laudatio von Jürgen Habermas für Ralf Dahrendorf zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises im Jahr 1989

Im Jahr 1989 wurde Ralf Dahrendorf mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa geehrt. Jürgen Habermas hat sich bereit erklärt, für seinen langjährigen Weggefährten die Laudatio zu halten. Er gab ihr den Titel „Einheit von Objektivität und Leidenschaft“. Dort ist in der Einleitung zu lesen:

„Wo immer er ankam, war Dahrendorf der erste und dies nicht nur in einem zeitlichen Sinne. Aus meiner Generation hat er, 23-jährig, als erster promoviert, ging als erster ins Ausland, habilitierte sich als erster, wurde der jüngste Professor. In Bonn war er gewiss der jüngste Außenamts-Staatssekretär, in Brüssel der jüngste Hohe Kommissar. Seit 1974 hat sich diese sprunghafte Karriere in England fortgesetzt; sie hat Dahrendorf nach Oxford und ins Britische Oberhaus geführt.“

(Jürgen Habermas, Laudatio für Ralf Dahrendorf, 1989)

Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa wird von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung seit 1964 verliehen und würdigt Wissenschaftler, die „durch einen herausragenden Sprachstil entscheidend zur Entwicklung des Sprachgebrauchs in ihrem Fachgebiet beitragen.“

In seiner Laudatio hat Jürgen Habermas die Sprachkunst von Ralf Dahrendorf wie folgt gewürdigt:

„Seine Sprache ist, seine beiden Sprachen sind von besonderer Art. Konstruktiv verfertigt Dahrendorf argumentative, durchsichtige, didaktisch aufgebaute Texte von spröder Eleganz und ausgreifender aber keineswegs aufdringlicher Begrifflichkeit. Er ist ein Soziologe, der schreiben kann, der freilich auch dann noch Soziologe geblieben ist, als er seine Schriftstellerei auf die politische Zeitdiagnose ausdehnte.“

(Jürgen Habermas, Laudatio für Ralf Dahrendorf, 1989)

Nach seiner wissenschaftlichen Karriere und seinem Exkurs als Politiker im Landtag, Bundestag und in der EU-Kommission hat sich sein Profil noch deutlicher akzentuiert. Jürgen Habermas beschrieb dies wie folgt:

„Die alten Stärken treten noch stärker hervor. Der direkte Zugriff aufs Thema, der explorative Zug des Essayisten, die erhellende Provokation, bewusste Vereinfachung, das energische Zugehen auf normative Fragen, der ganz unzynische Blick auf schmerzhafte Realitäten, Augenmaß für das politisch mögliche ohne Opportunismus und Selbstmitleid, ohne Kompromiss im Grundsätzlichen. Einem solchen Autor gebührt ein Preis für wissenschaftliche Prosa.“

(Jürgen Habermas, Laudatio für Ralf Dahrendorf, 1989)

Habermas‘ Oxforder Rede zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf

Im Jahr 2009 sind sowohl Jürgen Habermas als auch Ralf Dahrendorf 80 Jahre alt geworden. Dahrendorf war 1 ½ Monate älter als Habermas und hatte seinen 80. Geburtstag am 1. Mai 2009. Am 17. Juni 2009 ist er an seinem Krebsleiden verstorben. Sein Todestag war einen Tag vor dem 80. Geburtstag von Jürgen Habermas. Zu seinem 80. Geburtstag hat Jürgen Habermas die bekannt gewordene Oxforder Rede zu Ehren von Ralf Dahrendorf gehalten. Diese wurde in der FAZ am 18.6.2009 unter dem Titel „Die Liebe zur Freiheit“ publiziert. Habermas würdigte darin das wissenschaftliche und politische Lebenswerk von Ralf Dahrendorf. Er beschrieb ihn als den leidenschaftlichen Linksliberalen, der durch seine Liebe zur Freiheit und seinen Kampf für die Demokratie Großes für die Nachwelt hinterlassen hat. Besonders lobte er das letzte größere Werk von Ralf Dahrendorf mit dem Titel „Versuchungen der Unfreiheit“ aus dem Jahr 2006. Darin hob er besonders Raymund Aron, Karl Popper und Isaji Berlin als die Persönlichkeiten hervor, die autoritären Versuchungen widerstanden haben. Diese positiven Vorbilder und „postheroischen Heldenfiguren“ würdigte Habermas mit den Worten: „Es ist die Liebe zur Freiheit, die diese Intellektuellen gegen die Versuchungen des totalitären Jahrhunderts immunisiert.“

Der gemeinsame Kampf für Freiheit und Demokratie hat Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf mehr als 50 Jahre verbunden. Sie hatten wissenschaftstheoretisch durchaus unterschiedliche Auffassungen, was im Positivismusstreit deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Im Verlauf von 50 Jahren wird jedoch deutlich, dass das Herz der beiden großen Denker für Freiheit und Demokratie schlug. Dieses Erbe und Vermächtnis ist kostbar und sollte immer wieder in Erinnerung gerufen werden.

Literatur:

Adorno, Theodor W.´; Dahrendorf, Ralf; Pilot, Harald; Albert, Hans; Habermas, Jürgen; Popper, Karl R. (1969) Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Luchterhand-Verlag, München

Csef, Herbert (2019) „Einer der berühmtesten Philosophen der Welt“ – Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas. Tabularasa Magazin vom 1.7.2019

Csef, Herbert (2021) Populismus ist einfach. Demokratie ist komplex. Zur Aktualität der Populismus-Thesen von Ralf Dahrendorf. The European 2021

Dahrendorf, Ralf (2002) Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert. Beck, München

Dahrendorf, Ralf (2002) Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito. Beck, München

Dahrendorf, Ralf (2006) Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. Beck, München

Habermas, Jürgen (1989) Laudatio für Ralf Dahrendorf zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung.

Habermas, Jürgen (2009) Die Liebe zur Freiheit. Oxforder Rede zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Mai 2009

Hauser, Thomas (2019) Ralf Dahrendorf. Denker, Politiker, Publizist. Kohlhammer, Stuttgart

Kieseritzky, Dr. Walther von; Clausen, Thomas; Volkmann, Thomas (2020) Ralf Dahrendorf. Apologet der Freiheit. Friedrich-Naumann-Stiftung, Potsdam-Babelsberg

Kühne, Olaf (2017) Zur Aktualität von Ralf Dahrendorf. Springer Verlag, Berlin

Meifort, Franziska (2017) Ralf Dahrendorf. Eine Biographie. Beck, München

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef

Oberdürrbacher Straße 6

97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.