Man begegnet Rainer Maria Rilke nicht wie einem Dichter. Man begegnet ihm wie einem Raum – einem Schweigen, das sich ausbreitet wie der goldene Staub der Ewigkeit auf einem nie betretenen Möbelstück. Wer sich ihm nähert, verlässt die Schwelle der Welt, um in ein Zwischen hineinzugeraten: zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Ich und Du, zwischen Leben und Tod. Er war kein Mann der Zeit, sondern ein Gesandter der Seelen.
Geboren 1875 in Prag, wo die Sprachen ineinander rinnen wie alte Tinten in verwitterten Manuskripten, wuchs Rilke auf und wurde doch gleich fortgetragen. Von der Mutter, die ihn als Ersatz für ein verlorenes Kind in die Rüschen der sentimentalen Pietät steckte, und von der Welt, die ihm stets zu grell, zu laut, zu wenig durchgeistigt erschien. Sein ganzes Leben lang war er ein Flüchtiger. Nicht aus Feigheit, sondern aus Notwendigkeit: Die Welt war ihm zu konkret.
Rilke predigt nicht. Er enthüllt
Rilkes Sprache ist keine Mitteilung – sie ist ein Gebet an das Unsagbare. Seine Verse tasten sich nicht vorwärts, sie lauschen zurück. „Du mußt dein Leben ändern“, dieser Schlusssatz aus der Archaïschen Torso-Apolls, ist kein Appell – es ist ein Schicksal. Rilke predigt nicht. Er enthüllt. Was bei anderen Dichtern Behauptung ist, wird bei ihm zur Offenbarung. Seine Duineser Elegien sind nicht geschrieben worden – sie wurden empfangen, wie ein Mönch eine Vision empfängt, zitternd und zögernd vor dem Heiligen.
Dabei war Rilke kein Mystiker im landläufigen Sinn. Er glaubte nicht im kirchlichen Sinn – sein Glaube war eine tastende Sehnsucht, eine metaphysische Heimatlosigkeit. Der Engel, der in seinen Elegien erscheint, ist nicht der biblische Wächter, sondern das Übermaß an Dasein, das den Menschen zerreißt. Rilkes Engel ist das Maßlose, das nur der Dichter kurz zu bändigen vermag – im Vers, im Bild, im Schweigen zwischen den Worten.
Der Meister der Zerbrechlichkeit
In einer Zeit, die sich anschickte, Gott durch Technik und Seele durch Statistik zu ersetzen, hielt Rilke fest an der Zerbrechlichkeit. Er war der letzte große Europäer des Inneren – ein aristokratischer Wanderer in einer Welt der Funktionäre. Während draußen die Kanonen donnern und Ideologien sich stählen, sucht Rilke in den Räumen der Stille nach dem, was bleibt: der Rose, der Kindheit, dem Blick eines Tieres, das den Menschen durchschaut.
Und so steht Rilke heute da wie ein Denkmal ohne Platz – zu zart für die Lehrpläne, zu tief für die Schnellleser, zu still für die Zeit. Doch wer ihm begegnet, begegnet dem Menschlichsten, was Dichtung je hervorgebracht hat: einem Herzen, das aus Worten besteht, einem Gebet, das keine Antwort sucht – sondern nur das Zuhören verlangt.
