Tiere und Treblinka

In seiner Erzählung The Letter Writer schreibt Isaac Bashevis Singer über die Tiere: „Mit Bezug auf sie sind alle Menschen Nazis; für die Tiere ist es ein ewiges Treblinka.“ (The Collected Stories, New York 1996, S. 271) Vergleiche wie dieser oder „Für die Tiere ist jeden Tag Auschwitz“ hinken in zumindest einer Hinsicht, da die massenweise Vernichtung von Menschen in den Lagern der Nazis in erster Linie von einer Ideologie der Verachtung getragen war. „Nutztiere“ werden indes weniger verachtet als vielmehr ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und ihre Schmerzen ausgebeutet. Auf einer imaginären Werteskala galten die massenweise vernichteten Menschen als Unwerte, als zu beseitigende Negativposten, während man jedem einzelnen geschlachteten Huhn zumindest einen marginalen monetären Wert beimisst. Im Falle der Tiere geht es nicht darum, eine Rasse oder eine Art bis zum letzten Exemplar auszurotten. Auch aus diesem Grund ist für die Tiere nicht „jeden Tag Auschwitz“.

Eine Fiktion: Im Jahr 1942 beschließt die Führung des „Dritten Reichs“, KZ-Häftlinge zur Herstellung von Konsumgütern einzusetzen. Die Produkte werden mit Kennzeichen versehen: „Hergestellt im KZ Treblinka“ oder „Produziert im KZ Auschwitz“. Um das reichsdeutsche Volk „hart“ zu machen, beschließt die Führungsriege, die Bevölkerung über die Existenzbedingungen der KZ-Häftlinge zu informieren. Man verteilt Bildmaterial und Berichte und zeigt Filme. Kurz darauf gibt es kaum einen Erwachsenen, der behaupten könnte, er habe nicht gewusst, was ihm zum Kauf angeboten wird.

Anders als in obiger Fiktion versuchten die Nazis, die von ihnen begangenen Untaten zu kaschieren, zu verstecken, damit niemand davon erführe. Und sie waren sich sicher, dass dies gelingen würde. In seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ erwähnt der ehemalige KZ-Häftling Primo Levi (1919–1987) die Ängste von Mithäftlingen, man werde ihnen das Erlebte später nicht glauben, und er zitiert Simon Wiesenthals Wiedergabe höhnischer Bemerkungen von SS-Soldaten: „Wie immer dieser Krieg ausgeht, den Krieg gegen Euch haben wir gewonnen; niemand von Euch wird übrigbleiben, um Zeugnis abzulegen. Doch selbst wenn jemand entkommen sollte, wird ihm die Welt keinen Glauben schenken…, denn zusammen mit Euch vernichten wir die Beweise. Und sollte doch ein Beweis verbleiben und einer unter Euch überleben, so werden die Leute sagen, dass die von Euch berichteten Dinge zu monströs sind, um glaubwürdig zu sein. … Sie werden uns glauben, nicht Euch. Wir sind es, die die Geschichte der Lager schreiben werden.“ (I sommersi e i salvati, Turin 1986, S. 3)

Allen Bemühungen zum Trotz drang die Wahrheit über die Konzentrationslager nach außen. Von den monströsen Details erfuhr das Gros der Zivilbevölkerung erst nach dem Ende des „Dritten Reichs“. Aber stellen wir uns vor, es wäre anders gewesen, nämlich so wie in obiger Fiktion: Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass eine über das in den KZ herrschende Entsetzen informierte Zivilbevölkerung sofort aufgehört haben würde, mit „Hergestellt im KZ Treblinka“ oder „Produziert im KZ Auschwitz“ gekennzeichnete Waren zu kaufen? Ist es nicht ganz unvorstellbar, dass gut informierte Menschen Produkte kaufen, deren Herstellung mit unsäglichem Leid einhergeht?

Leider ist dies nicht ganz unvorstellbar. Während wir hoffen, dass eine über das Grauen in den KZ informierte Bevölkerung aufgehört haben würde, etwaige dort hergestellte Produkte zu konsumieren, wissen wir, dass die meisten über das Grauen in der Massentierhaltung informierten Personen fast unbeeindruckt fortfahren, die entsprechenden tierischen Produkte zu kaufen. Kaum jemand sagt, dass das, was uns Woche um Woche in Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen berichtet und gezeigt wird, viel zu monströs ist, um glaubhaft zu sein. Niemand meint, dass es sich dabei um Propagandatricks überengagierter Tierrechtler handelt. Man weiß, dass die Bilder und Filme die Wirklichkeit zeigen. Dennoch halten die Allermeisten in ihren Konsumgewohnheiten fest und diktieren damit Milliarden Tieren unsägliche Strapazen und Schmerzen. Weshalb sich folgender Vergleich aufdrängt: Da es heute im Falle der Tiere eine konsumierende Komplizenschaft mit den Konsequenzen der Massentierhaltung gibt, ist nicht ausgeschlossen, dass über die Gräuel informierte Bevölkerungskreise aus Treblinka stammende Produkte konsumiert haben würden.

Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).

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