Unrechtsstaat DDR – So kam ich in den Knast

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 Meine Verhaftung am 9. September 1961 – Vor 60 Jahren auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig

 Meine Verhaftung am 9. September 1961

Vor 60 Jahren auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig

Am 6. September 1961 reiste ich mit dem Motorrad über Wartha/Herleshausen in die DDR ein. Die westdeutschen Grenzer ließen mich anstandslos durch, auf der DDR-Seite musste ich das Motorrad abstellen und eine Baracke betreten. Dort wurde mein Ausweis durch einen Schlitz in einen Raum geschoben, der ringsum mit Holz verkleidet war, so dass man nicht erkennen konnte, wer da saß. Allerdings musste ich länger warten als andere Reisende, die schneller abgefertigt wurden als ich, was mich beunruhigte. Schließlich kam ein Grenzpolizist mit meinem Ausweis und fragte, ob ich nach meiner Geburt in Berlin 1937 noch dort gelebt hätte. Ich verneinte, dann durfte ich weiterfahren nach Leipzig zur Buchmesse. Später im Zuchthaus habe ich immer daran gedacht, ob ich von der Baracke nicht wieder hätte zurückfahren sollen nach Hessen. Dann wäre mir viel erspart geblieben!

Am Nachmittag kam ich in Leipzig an. Meine Tante in der Oststraße 9 hatte Messegäste, weshalb ich nach Naunhof bei Grimma zu anderen Verwandten fuhr, wo ich zwei Nächte blieb. In Leipzig besuchte ich die Buchmesse, den Prof. Hans Mayer, und war mit meiner Tante in der Oper am Karl-Marx-Platz („Eugen Onegin“). Am nächsten Morgen, Samstag, den 9. September, wollte ich zurückfahren auf die Ausgrabung nach Liebenau. Vorher aber wollte ich noch zwei Dinge erledigen: Ich wollte in der Oststraße 5 Annelies Loest aufsuchen, um Grüße von Gerhard Zwerenz zu bestellen. Außerdem sollte ich ausrichten, wenn Erich aus dem Zuchthaus entlassen und nach Westberlin geflohen wäre, könnte er bei ihm wohnen, und er hätte in Köln auch einen Verlag für ihn (Kiepenheuer und Witsch). Von der Staatssicherheit wurde dieser Auftrag, dessen ich mich entledigen wollte, als das Strafdelikt „Abwerbung“ eingestuft. Aber Annelies Loest war nicht zu Hause, mir öffnete eine junge, hübsche Frau im Nachthemd. Das war, wie mir Erich Loest Jahre später erzählte, eine ungarische Tänzerin, die zur Untermiete wohnte. Unten im Hausflur sagte mir die Hauswartsfrau, die den Flur aufwischte, ich sollte doch den Prof. Manfred Naumann, der schräg gegenüber wohnte, aufsuchen, er und Erich Loest wären in Mittweida Klassenkameraden gewesen. Ich unterließ das, glücklicherweise, Jahrzehnte später erfuhr ich, dass er, der Leipziger Romanistikprofessor, „inoffizieller Mitarbeiter“ der Staatssicherheit gewesen wäre. In seinem Buch „Zwischenräume. Erinnerungen eines Romanisten“ (2012) steht darüber kein Wort.

Und ich wollte noch in Leipziger Buchhandlungen nach Johannes Bobrowskis Gedichtband „Sarmatische Zeit“ fragen, der für 1961 angekündigt, aber offensichtlich noch nicht erschienen war. Ich bin an diesem Samstagmorgen in fünf bis sieben Buchhandlungen gewesen, die Staatssicherheit, die mich in Leipzig observierte, hat fein säuberlich notiert, in welchen Buchhandlungen ich gewesen bin. Ich wüsste es heute nicht mehr. In seinem Buch „Die Stasi ist mein Eckermann oder mein Leben mit der Wanze“ (1991) beschrieb Erich Loest Jahrzehnte später, dass die Herren von „Guck und Horch“ eifrig bemüht waren, unser Leben auszuforschen und das Ausgeforschte der Nachwelt zu erhalten. Zum Beispiel hatten Erich und ich 1978, als er Bonn besuchte, vereinbart, dass ich ihn, ohne meinen Namen zu nennen, alle vier bis sechs Wochen in Leipzig anriefe. Nach Jahren las er in seiner Akte mehrmals, Bilke hätte angerufen!

Als ich die Grimmaische Straße zurücklief zum Karl-Marx-Platz, stattete ich noch der Universität einen Besuch ab. An einem Schwarzen Brett las ich, dass es eine Pflichtvorlesung gäbe für Hörer aller Fachrichtungen und aller Studienjahre „Die humanitäre Funktion des antifaschistischen Schutzwalls“. Das schrieb ich mir auf, ohne zu ahnen, dass ich mich hier schon wieder eines politischen Delikts schuldig machte, der „Sammlung von Nachrichten“. Hätte ich mir das nur gemerkt, aber nicht aufgeschrieben, wäre mir ein halbes Jahr Zuchthaus erspart geblieben.

Als ich die Universität verließ, sah ich von ferne mein Motorrad mit dem auf dem Rücksitz aufgeschnallten Koffer am Gewandhaus stehen, hinter dem jetzt aber ein PKW stand. Als ich den Zündschlüssel ins Zündschloss steckte, kamen von hinten zwei Männer, die „Greifer“, auf mich zu, die mich für festgenommen erklärten. Das Motorrad mit dem Zündschlüssel blieb stehen. Ich musste auf dem Rücksitz Platz nehmen, dann ging es in rasender Fahrt durch die Leipziger Innenstadt in die Beethovenstraße, dem Sitz der MfS-Bezirksverwaltung. Wir hielten vor einem schmiedeeisernen Tor, der jüngere der beiden „Greifer“ stieg aus und klingelte. Das Tor öffnete sich, der PKW fuhr hinein: Ich betrat eine mir völlig fremde Welt, die der politischen Gefangenen!

Am nächsten Tag, einem Sonntagmorgen, erklärte mir der Haftrichter, warum ich verhaftet worden war: „Im Auftrag des Verräters Zwerenz suchte er die Frau des Konterrevolutionärs Loest auf“.

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.