Volker Weidemann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen

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Volker Weidemann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Kiepenheuer &Witsch, Köln 2017, ISBN: 978-3-462-04714-1

Als sich überall im Deutschen Reich Arbeiter- und Soldatenräte bildeten, waren Dichter und linke Intellektuelle wie Gustav Landauer, Erich Mühsam, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Rainer Maria Rilke Hauptprotagonisten der Münchener Räterepublik. Die Münchner Räterepublik war im April 1919 der etwa vier Wochen währende Versuch, im fünf Monate zuvor gegründeten Freistaat Bayern eine sozialistische Republik nach rätedemokratischem Muster durchzusetzen.

Die Ausrufung des bayerischen Freistaats war im Zuge der Novemberrevolution erfolgt, die ab Anfang November 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs einhergegangen war und das ganze Deutsche Reich erfasst hatte. Nach dem bayerischen König waren Ende 1918 auch alle weiteren Monarchen und herrschenden Fürsten der deutschen Teilstaaten, einschließlich des deutschen Kaisers Wilhelm II., gestürzt worden. Nahezu überall in Deutschland, so auch in Bayern, hatten sich revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Die dieser Revolution folgende Entwicklung führte nach bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zwischen Vertretern eines pluralistisch-parlamentarisch ausgerichteten politischen Systems und denjenigen einer sozialistisch orientierten Räterepublik zur Zerschlagung der Rätestrukturen.

Der als Ergebnis der Revolution aus dem vormaligen Königreich Bayern am 8. November 1918 von Kurt Eisner (USPD) ausgerufene „Freistaat“ geriet nach dem am 21. Februar 1919 ausgeführten tödlichen Mordanschlag auf Eisner, dem ersten Ministerpräsidenten der bayerischen Republik, in eine Krise, die zur Spaltung der vorher schon relativ heterogenen und instabilen revolutionären Bewegung in Bayern führte. Dennoch wählte der Landtag eine SPD-geführte Minderheitsregierung unter der Ministerpräsidentschaft von Johannes Hoffmann (MSPD); die Regierung Hoffmann amtierte ab dem 17. März 1919.

Am 7. April 1919 wurde vom Zentralrat der bayerischen Republik unter Ernst Niekisch und dem Revolutionären Arbeiterrat in München die bayerische Räterepublik ausgerufen. Hoffmann geriet in München in die Defensive, wurde für abgesetzt erklärt und wich mit seinem Kabinett nach Bamberg aus. In ihrer Führung war die Räterepublik zunächst von pazifistischen und anarchistischen Intellektuellen wie Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer geprägt. Nach dem von Rotgardisten unter dem Kommando Rudolf Egelhofers vereitelten – gegen die Räterepublik gerichteten – Palmsonntagsputsch dominierten ab 13./14. April führende KPD-Mitglieder wie Eugen Leviné, Max Levien und Egelhofer selbst die Räteregierung.

Toller, der nach dem Tod Kurt Eisners dessen Nachfolge im Parteivorsitz der bayerischen USPD übernahm, stellte sich auf die Seite der entschiedenen Vertreter des Rätemodells. Anfang 1918 war der Schriftsteller Oskar Maria Graf wegen Teilnahme am Munitionsarbeiterstreik kurzzeitig inhaftiert worden. 1919 wurde er wegen der Teilnahme an den revolutionären Bewegungen in München erneut verhaftet. Er verarbeitete diese Erfahrungen in den Gedichten Die Revolutionäre (1918), die im Dresdner Verlag herausgebracht wurde.

Die Münchner Räterepublik hatte sich von Anfang an paramilitärischer Angriffe der von Bamberg aus mobilisierten Freikorpsverbände zu erwehren. Bis zum 2. Mai 1919 unterlag die Räterepublik schließlich deren militärischer Übermacht. Ihre führenden Protagonisten sowie mehr als 2000 – auch vermeintliche – Anhänger der Räterepublik wurden in den nachfolgenden Tagen und Wochen ermordet, von Standgerichten zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt.

Die dort involvierten Dichter waren allesamt radikale Demokraten und sehnten sich nach einem sozialistischen Rätesystem, das den uralten Traum der Menschheit nach gleichen Besitzverhältnissen ohne autoritäre Herrschaft Wirklichkeit werden lassen sollte.

Das Rätesystem ist eine Form der direkten Demokratie (Rätedemokratie), die von sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts entworfen und in revolutionären Situationen des 20. Jahrhunderts mehrfach praktiziert wurde. Grundsätze sind: 1. Wahl in Betrieben und Kasernen (nicht im Wohnbezirk), 2. Beschränkung des Wahlrechts: Stimmrecht nur für Arbeiter, kleine und mittlere Angestellte, Landarbeiter, Kleinbauern und Soldaten, 3. indirektes Wahlsystem (untere Räte wählen die nächsthöheren), 4. keine Gewaltenteilung, 5. jederzeitige Abwählbarkeit der gewählten Abgeordneten durch ihre Wähler, 6. Bindung der Abgeordneten an Aufträge ihrer Wähler (imperatives Mandat), 7. Öffentlichkeit aller Beratungen.

Volker Weidermann legt angesichts des 100jährigen Jubiläums der Revolutionsjahre 1918/1919 eine Monographie aus der Sicht der politischen Dichter und Schriftsteller, die eine utopisch scheinende Gesellschaft verwirklichen wollten. Die Ereignisse der Münchener Räterepublik und ihr Scheitern, die Träume und die Ernüchterung werden von Weidermann aus subjektiver spannender Perspektive erzählt, ohne die historischen Fakten zu verfälschen.

Das Buch ist auch eine Hommage an die Ambitionen der libertären und sozialistischen Literaten. Dabei ist vor allem Gustav Landauer gemeint: Landauer war ein leidenschaftlicher Anarchist. Sein politisches Wirken zielte auf die Staats- und Herrschaftslosigkeit, das Ende aller Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sowie die Freiheitsbestrebung der Individuen. Auf der Grundlage freier Vereinbarungen und genossenschaftlicher Lebensformen wollte er Hierarchien und Herrschaft überwinden. Im Gegensatz zum individualistischen Anarchismus strebte Landauer eine Form der Vergesellschaftung an, ohne allerdings ihren Mitgliedern eine nicht selbst gewählte Lebensform aufzuzwingen. Er sah in dem Angebot Eisners, an der Regierung mitzuwirken, eine einmalige historische Chance und eilte nach München.

Landauer übernahm in der Räteregierung den Posten des »Volksbeauftragten für Volksaufklärung«. Er ging die Reform der Hochschulen und die Vertiefung und Sicherung der Revolution durch Agitation vor allem in den ländlichen Bevölkerungsschichten an. Doch die aus Not geborene Räterepublik binnen kürzester Zeit in ein Projekt demokratischer Erneuerung zu verwandeln, sollte trotz aller Anstrengungen nicht gelingen.[1]

Um aus der »neuen Generation eine Generation der Freude, des Schaffens, der Arbeit zu machen«, plante Landauer die gründliche Umgestaltung des Schulwesens.[2] Für Mittelschulen wollte er im Wesentlichen jeglichen Zwang zur Teilnahme an kirchlichen oder religiösen Veranstaltungen einschließlich des Religionsunterrichts abschaffen. Schülern über 16 Jahren sollten über die Teilnahme am Religionsunterricht selbst entscheiden, bei jüngeren Schülern die Eltern.

Einer Schulreform galt sein Interesse bereits vor dem Weltkrieg, in diesem Bereich konnte er auf frühere Vorbereitungen zurückgreifen.[3] Er favorisierte die Aufhebung der Reifeprüfung für Mittelschüler, an ihre Stelle sollten eine Qualifikation der gesamten Jahresleistung und ein Befähigungsnachweis für solche Personen, die am normalen Bildungsgang nicht teilgenommen haben, treten. Auf diese Weise sollte jeder Schüler die Chance bekommen, seine Reife nachzuweisen, auch wenn er nicht die Mittel hatte oder in der Lage war, auf eine Mittelschule zu gehen.

Einer seiner sofortigen Maßnahmen war die Revolutionierung der Hochschulen. Der aus sozialistischen Akademikern bestehende Revolutionäre Hochschulrat (RHR) wurde von Landauer in den Stand gesetzt, die Hochschulen zu schließen, um sofort die Vorbereitungen neuer sozialistischen Hochschulen zu beginnen.[4] Doch dort gab es Widerstand durch konterrevolutionäre Student*innengruppen und es kam zu Demonstrationen gegen die Räteherrschaft. Der RHR stieß auch auf heftigen Widerstand seitens vieler Professoren. Daher ordnete Landauer an, ab dem 13.4. die Münchener Hochschule zu schließen und den Lehrbetrieb für beendet zu erklären. In einem Prozess vorbereitender Umgestaltung sollten Dozenten und Beamte durch einen Revolutionären Senat neu berufen und Studenten neu zugelassen werden.

Letztlich liefert Weidermann noch den weiteren Werdegang der Dichter nach der Revolution, wenn sie überhaupt noch am Leben waren. Das Buch hat ein wenig Ähnlichkeit mit einer Tragödie, eine gescheiterte Revolution mitsamt der tiefen Enttäuschung der politisch aktiven Literaten. Ein sehr spannendes Buch, vielleicht ist es auch ein geheimes Plädoyer für das Rätesystem als Form des gerechtesten politischen Systems.

[1] https://gustavlandauer.org/content/revolution-und-ermordung-m%C3%BCnchen (22.10.2017).

[2] Leder, Tilman: Die Politik eines »Antipolitikers«. Eine politische Biographie Gustav Landauers, Lich/Hessen 2014, S. 767.

[3] Höller, Ralf: Der Anfang, der ein Ende war. Die Revolution in Bayern 1918/19. Berlin 1999, S. 87.

[4] Ders, S. 90f.

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Über Michael Lausberg 545 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.