Vom Ende der Geschichte, das doch nicht kommt – Warum Erdoğan über Francis Fukuyama siegt

Fukuyama und das Ende der Geschichte

1992 hatte ein Politikwissenschaftler mit seinem Artikel „Das Ende der Geschichte“ weltweit für Aufsehen gesorgt. Der Text stammte nicht aus der Feder der berühmt-berüchtigten Philosophen Hegel oder Marx, sondern vom Amerikaner Francis Fukuyama. Simpel wie einfach verkündete der Politologe damals, dass der wirtschaftliche und politische Liberalismus gewonnen und die totalitären und autoritären Systeme ad acta gelegt seien – Ideologeme und Ideologien mit eingeschlossen. Endlich, so die These, sei das Ende der Geschichte gekommen.
Artikel und Buch wurden zur Bibel für all jene, die Alexandre Kojèves Hegeldeutung darin folgten, dass die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealisten zu einer letzten Synthese führt, wenn es auf der Bühne der Weltpolitik keine weltpolitischen Widersprüche mehr gibt, wenn sich also der Kampf der Antagonismen quasi von selbst und mit ihm die geschichtliche Dialektik aufhebt.
Für die anderen wurde Fukuyamas Ende der Geschichte zum programmatischen Befund einer neuen Geschichtlichkeit, die nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme im Ostblock und der UdSSR die Phase von Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft einläutete. Statt Kaltem Krieg, Aggression und sinnlosen Wettrüsten sollte die Demokratie ihren Siegeszug nun einläuten und sich als Ordnungsmodell entfalten. Zum liberalen Gesellschaftsmodell des Westens, so Fukuyama, gibt es keine ordnungspolitische Alternative, da sowohl Faschismus, Kommunismus als auch real-existierender Sozialismus ihre Überzeugungskraft verloren haben.

Statt Ende der Geschichte integrative Assimilation

Anstelle des Kampfes tritt, wie Fukuyama später hinzufügen wird, das Ende der Geschichte nunmehr in Gestalt einer integrativen Assimilation von nicht-westlichen Kulturen in die westliche Kultur auf, was seiner Meinung bedeutet, dass sich die nicht-westlichen Kulturen von ihren nichtdemokratischen Prinzipien verabschieden und ihrerseits einen Demokratisierungsprozeß einläuten. Das euphorisch verkündete Credo dabei: Die Demokratie würde ihren Siegeszug dann antreten, wenn immer mehr Gesellschaften den zivilisierten, liberal-marktwirtschaftlichen und westlichen Lebensstand des Westens aufgreifen und die Menschenrechte und die Demokratie installieren bzw. durchsetzen.

Vom Triumph des Westens keine Spur

Ein aktueller Blick aus dem Jahr 2016 liefert einen anderen Befund. Vom Triumph des Westens keine Spur, vom Ende der Ideologien schon gar nicht. Das Ende der Geschichte ist weder gekommen noch scheint sich dieses auch nur ansatzweise anzudeuten. Hegel, der glaubte, dass die Geschichte als „Kampf der Ideen“ zu Ende geht, wenn Napoleon oder der preußische Staat regiere, erwies ist als eben so fatal wie Fukuyamas These vom Ende der Geschichte. Ideologien haften etwas an, was sie nahezu unzerstörbar werden läst: sie sind anthropologische Konstanten, die immer dann Hochkonjunktur feiern, wenn es darum geht, Macht zu rechtfertigen, oder Macht auf andere auszuüben. Sie sind Herrschaftsmuster oder -strukturen, denen sich der Mensch als Mensch eben gerade nicht entledigen kann, die, wenngleich negativ, zu seinem Wesen gehören.

Die neuen Ismen blühen

Ob Russland, China oder Arabien, die neuen Ismen blühen: Putins Neo-Zarismus, der russische Nationalismus, der chinesische Turbo- oder Neokapitalismus als getarnter Staatskapitalismus sind und bleiben Ideologien des 21. Jahrhunderts, die leider nicht faul, parasitär und sterbend sind, wie einst der real-existierende Sozialismus.
Auch die islamische Theokratie steht gerade erst in den Anfängen. Von der Demokratie sind die Imane soweit weg wie die Erde von der Sonne. Und damit kann man getrost gegen Fukuyamas Vision einer integrativen Assimilation oder Transformation westlicher in nicht-westliche Kultur entgegenhalten: der Demokratisierungsprozeß ist nicht nur beim Arabischen Frühling gescheitert, sondern in vielen Teilen der arabischen Welt hat man einfach Angst vor einer offenen Gesellschaft, die traditionelle Werte und Kulturen im Säkularisierungsschub wie alte Blätter von den Bäumen wirft.

Arabien denkt anders

Gerade dort steht das demokratisch-liberale Modell eben nicht für eine neue „Geschichte“, oder für das Ende derselben, sondern für das Gegenteil, für einen neuen porösen Anfang, für die Auflösung der etablierten Ordnung und des tradierten Wertekanons. Nicht der Wahrheitsbegriff der Postmoderne regiert hier, sondern die religiöse Wahrheit zeigt sich darin, dass sie die Demokratie entmündigt. Der Kampf der Radikalen, sowohl der politischen als auch der religiösen, richtet sich gegen die offene Gesellschaft, die auf globaler Linie durch Terrorakte und gezielte Einwanderung attackiert wird. Dass hierbei Ideen – durchaus im Sinne Hegels –, nur eben religiöse, eine dominierende Rolle spielen, ist nicht zu übersehen. Es zeigt sich aber auch, dass sich weder die Stimme der Vernunft noch ein liberales Denken hier ein Gehör verschaffen; und auch nicht, dass sich gemäß der Hegelschen Dialektik, die Religion in die Vernunft aufhebt. Das Gegenteil ist der Fall: die Vernunft beugt sich dem Joch des religiösen Fundamentalismus und sekundiert ein Geschichts- und Antimodernisierungsdenken, das sich darüber hinaus noch in abstrakte Höhen versteigt.

Erdoğan und der Anfang der Geschichte

Der neue Star der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, ihre sehr fragwürdige Trumpfkarte bei der Lösung der Flüchtlingskrise, ist der Türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Er soll Europa – mit seinen Demokratien und der liberalen Werteordnungen – retten. Doch Erdoğan ist weder ein adäquater Gesprächspartner westlicher Demokraten noch atmet er ihren Geist. Er dämonisiert vielmehr die liberale Welt und träumt seinerseits von einem Großreich, von einer neuen, „religiösen Generation“, die nicht für postmoderne Diskurse bereit ist, sondern die offen mit islamistischen Bewegungen im Nahen Osten kokettiert. Für ihn beginnt die Geschichte gerade jetzt erst, und sie wird nicht enden, ehe er seine Vision einer radikalen Geschichtskorrektur, eine Renaissance der islamischen Orthodoxie, frenetisch in die Realität umsetzt hat. Erdoğan hat den totalitären Systemgedanken in sich aufgesogen und läßt seinen Großmachtvisionen freies Spiel – verbunden mit seinem religiösen Auftrag. Dabei wird alles unterworfen, was nicht in den Plan von seiner Vision einer „großen Nation“ paßt. Er erstickt alle freiheitlichen Entwürfe und jeden Widerstand im Keim. Und all dies getreu seines Geltungsanspruchs, dass die Welt als Ganze dahin zurückkehren muss, „was die Osmanen früher waren.“ Dabei treibt Erdoğan die osmanische Überzeugung, dass die Türkei das auserwählte Volk sei, den islamischen Gottesbegriff in die Welt zu tragen. Und dies untermauert er, ganz gegen Fukuymanas Voraussage vom Ende der Geschichte, mit seiner Superideologie vom Türkischen Großreich samt Allmachtsphantasien. Er will – anders als Osama bin Laden – der Führer der islamischen Welt werden, will diese auf seine Person hin zentrieren. Er fordert unbedingten Gehorsam von seinen Untertanen und realisiert gigantische Bauprojekte, um demonstrativ seine Herrschaftsansprüche zu legitimieren. Wie die Mausoleum in Moskau und der Invalidendom in Paris soll Erdoğans Riesenmoschee in Istanbul später sein Grabmal enthalten und zur Pilgerstätte aller Rechtgläubigen werden.

Statt Ende der Geschichte – Ironie der Geschichte

Im Augenblick, so scheint es jedenfalls, ist Fukuyamas Ende der Geschichte – eines zumindest nicht – an ihrem Ende. Vielmehr zeigt sich mit Blick auf Fukuyamas integrative Assimilation die Ironie der Geschichte. Es sind gerade nicht die nicht-westlichen Kulturen, die sich an den westlichen orientieren, sondern umgekehrt bekommt der Antidemokratisierungsprozeß Erdoğans Rückendeckung von den liberalen Demokratien. Anders gesagt: Derzeit nähert sich die westliche Welt samt ihren Werten an das Sultanat an und verkauft damit – zu bestimmen Teilen – den Wertekanon an die Orthodoxie. Selbst wenn Fukuyama bei einer Diskussion im Hause des ultraliberalen Cato-Instituts im Jahr 2014 hervorhob, dass der „politische Islam“ keine wirklich große Idee, sondern lediglich ein Schlagwort sei, das es „politischen Unternehmern“ erlaubt, Gefolgschaften hinter sich versammeln, so verharmlost der Begriff des „politischen Islam“ dessen Geltungsmacht und Gestaltungskraft, geht letztendlich damit an der Realität vorbei. Der „politische Islam“ ist mehr: Er ist das Ende der Geschichte und der Demokratie, oder läutet diese leise ein, ganz gegen Fukuyamas These vom Sieg der Liberalität über die Ideologie. Wenn Erdoğan siegt, dann sind Liberalismus und Freiheit tatsächlich am Ende. Und das Ende der Geschichte kommt anders als gedacht.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2155 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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