Mit der Flüchtlings- und Einwanderungsdebatte seit 2015 ist in der kollektiven Erinnerung weitgehend überlagert worden, dass schon seit dem 17. Jahrhundert Zehntausende Deutsche nach Osteuropa (Russlanddeutsche und Donauschwaben) oder in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind. Zwischen 1816 und 1914 zog es mehr als 5 Millionen Deutsche in die Neue Welt, die wirtschaftlicher Not und schwierigen politischen Rahmenbedingungen entkommen wollten. Heute bilden rund 50 Millionen Amerikaner mit deutschen Wurzeln die größte nationale Einwanderungsgruppe, unter ihnen auch Präsident Donald Trump. Insgesamt wird die Zahl ursprünglich deutschstämmiger Menschen weltweit auf 120 bis 150 Millionen geschätzt, die meisten in den USA, Brasilien, Argentinien und Kanada. Einige pflegen noch altes Brauchtum oder dessen Klischees, was bei den besser integrierten Jüngeren aber so rasch verschwindet wie deutsche Sprachkenntnisse. Den Auswanderern ging es überwiegend gut, der berühmte reiche Onkel aus Amerika regte Nachahmer an. Zudem waren die Deutschen weitgehend willkommen, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit war. Die Amerikaner vergaßen leicht, dass sie selbst fast alle eingewandert waren und versuchten, bestimmte Nationalitäten gar nicht erst einreisen zu lassen. Satirische Karikaturen aus den 1890er Jahren nennen die Unerwünschten offen beim Namen, etwa britische und italienische Kriminelle, russische Anarchisten, deutsche Sozialisten und vor allem irische Habenichtse und Juden. Per Gesetz wurden chinesische Migranten zwischen 1882 und 1943 ganz ausgeschlossen. Heute stehen auf der Liste der Unerwünschten vor allem lateinamerikanische Länder, deren Entwicklung seit Jahrzehnten stark von der amerikanischen Politik mitbestimmt wurde, meistens nicht positiv.
Die Migrationswende der USA
Für zwei Jahrhunderte waren die Vereinigten Staaten das klassische Einwanderungsland. Seit 1886 begrüßt die mit dem Sockel 93 Meter hohe Freiheitsstatue Ankömmlinge im New Yorker Hafen. Sie stellt die antike Freiheitsgöttin Libertas dar und war ein Geschenk Frankreichs an die USA, ein Symbol für die gemeinsamen Freiheitsideale. Im Sockel der Statue hängt seit 1903 eine Bronzetafel mit dem Gedicht „The New Colossus“ der Schriftstellerin Emma Lazarus, die sich für Einwandererrechte einsetzte. Am meisten zitiert werden diese zwei Zeilen:
„Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free“
„Gebt mir eure Müden, eure Armen, die sich nach Freiheit sehnenden Massen.“
Inzwischen wehren sich die USA unter Präsident Trump brachial gegen die legale und besonders die illegale Einwanderung. Das Center for Immigration Studies nennt für 2025 mehr als 53 Millionen im Ausland geborene Einwohner, davon mehr als 8 Millionen, die in den letzten vier Jahren dazugekommen sind und rund 11 Millionen Illegale. Befürchtet wird zurzeit, dass der historische Migrantenanteil von 14,8 Prozent im Jahre 1890 (!) noch überschritten wird, vor allem, dass Auswahl oder Kontrolle ganz unmöglich werden. Heute liegt der Anteil je nach Berechnung zwischen 14 und 15 Prozent, also deutlich unter den deutschen und den meisten vergleichbaren Werten in Europa.
Deutschlands Migrationsgeschichte
Nach Jahrhunderten als klassisches Auswanderungsland gab es auch nennenswerte Immigrationsbewegungen. Zahlenmäßig klein, aber einflussreich und ein Gewinn für die wirtschaftliche Entwicklung vor allem Preußens waren die französischen Hugenotten im 18. Jahrhundert. Nach der Reichsgründung 1871 mit der Entwicklung der Montanindustrie kamen bis 1914 rund 500.000 polnische Arbeiter ins Ruhrgebiet. Voll assimiliert und integriert, blieben trotzdem Ressentiments, bei einigen Fußballstars mit polnischem Namen gelegentlich bis heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten Wiederaufbau und Wirtschaftswunder über Jahrzehnte für Vollbeschäftigung und optimistische Perspektiven, eine nennenswerte Auswanderung in die USA gab es hauptsächlich unter Wissenschaftlern durch attraktive Arbeits- und Forschungsbedingungen an den amerikanischen Universitäten. Aber Amerika faszinierte mit Jeans, Jazz, Rock’n Roll und Hollywood die Jugend und blieb mindestens bis zum Vietnamkrieg Traumziel für viele, auch in der DDR. Der Mangel an Arbeitskräften im Wirtschaftswunder seit Ende der 1950er Jahren führte zu Anwerbeabkommen mit Italien und weiteren südeuropäischen Ländern sowie Marokko und Tunesien. Viele dieser Gastarbeiter sind geblieben und haben sich weitgehend unauffällig integriert, obwohl das politisch keineswegs geplant war. Sie bereicherten mit Eisdielen und Restaurants die kulinarische Szene, fuhren im Urlaub nach Hause, lernten Deutsch und viele heirateten Deutsche. Weil fast alle arbeiteten, Steuern zahlten und Rentenansprüche erwarben, ihre Kinder in die Schule und zunehmend in die Universitäten schickten, gab es wenig Skepsis in der einheimischen Bevölkerung, wenn auch immer wieder dümmlich-diskriminierende Bezeichnungen wie Itaker oder Spagettifresser auftauchten. Was heute als Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus diskutiert wird, begann weitgehend erst nach der Merkel‘schen Entscheidung 2015, die Grenzen zu öffnen und mittellose Migranten finanziell zu unterstützen. Nachdem die anfänglich beachtliche Welle von Hilfsbereitschaft abebbte, setzte zunehmend Kritik ein. Mit jedem Zwischenfall, von Sylvester-Randale bis Messerstecherei, wurden Ablehnung und Unzufriedenheit mit der Asylpolitik heftiger. Deutschland ist seit vielen Jahren Reiseweltmeister. Deshalb dürften nationalistische oder rassistische Ressentiments nicht so weit verbreitet sein, wie im „Kampf gegen Rechts“ vermutet wird. Aber immer mehr Menschen fühlen sich überfordert, wenn ihr Lebensraum nicht nur multikultureller, sondern auch chaotischer und schmutziger wird. Heftig wird es an vielen Schulen, wenn die deutschen Kinder immer mehr in die Minderheit geraten und die Lehrkräfte mit der Vielfalt an Sprach- und Lernfähigkeit sowie mangelndem Respekt überfordert sind. Das Thema beschäftigt auch nichtdeutsche Jugendliche, wie Beiträge unter #germanlivesmatter oder #almanschmerz bei TikTok zeigen.
Vorurteile und Misstrauen gab es in den meisten klassischen Einwanderungsländern immer. Deshalb kann es nicht überraschen, dass heute ein Ausländeranteil von 15 Prozent und von 30 Prozent mit Migrationshintergrund an der deutschen Gesamtbevölkerung von der großen Mehrheit als problematisch empfunden wird. Ein zentraler Punkt der gesamten Migrationsfrage ist die Assimilation, wie sich Migranten im Gastland verhalten, wenn sie bleiben und letztlich Staatsbürger werden wollen oder sollen. Ideal und seit der Antike die Regel war die Anpassung an das Gastland, die sprachliche Assimilation und die Übernahme gesellschaftlicher Normen. Im Duisburger Problembezirk Hamborn liegt der Migrantenanteil in einzelnen Ortsteilen deutlich über 60 Prozent. Diese Konzentration und die hohe Arbeitslosigkeit tragen dazu bei, Integration und Assimilation zu erschweren oder zu verhindern. Parallelgesellschaften haben sich in den letzten Jahren entsprechend verfestigt, wobei zu erwähnen ist, dass jedes Jahr 200.000 bis 250.000 Ausländer eingebürgert werden. Die Gesamtzahl wird statistisch nicht erfasst, dürfte aber bei mehr als drei Millionen liegen. Eklatante Fälle von Asylmissbrauch haben die Migrationsfrage zum politischen Dauerbrenner gemacht, zumal viele Kommunen die Unterbringung und deren Folgekosten nicht mehr finanzieren können. Politiker haben die Debatte auch viel zu lange an Kernproblemen vorbeimanövriert. Das Mantra „wie müssen die Fluchtursachen bekämpfen“ war sinnlos, weil Deutschland wenig bis nichts zur Beendigung von Bürgerkriegen in Afrika oder im Mittleren Osten beitragen kann. Auch Wirtschaftshilfen können die Auswanderung aus ärmeren Ländern kaum eindämmen. Die Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten in die Heimat lagen nach Weltbankangaben schon 2021 bei rund 781 Milliarden US-Dollar und überstiegen damit erheblich die weltweiten Entwicklungshilfetransfers. Wie in Deutschland können in vielen reichen Ländern zentrale Dienstleistungen wie Kranken- und Altenpflege ohne Migranten nicht mehr aufrechterhalten werden, was inzwischen die Konkurrenz bei ihrer Anwerbung anheizt. Viele Länder bieten spezielle Visa für qualifizierte junge Migranten an, die bereits ohne Arbeitsvertrag einreisen dürfen. Deutschland hat mit seinem Fachkräfteeinwanderungsgesetz bisher wenig Erfolg gehabt, Sprachprobleme und Bürokratie sind die wichtigsten Gründe. Bei der Masse der in den letzten Jahren eingewanderten Ausländer dürfte die nicht ausreichende oder gescheiterte Integration und Assimilation das Hauptproblem sein. Während Unterbringung, Lebenshaltungs- und Krankheitskosten durch das mehrmals angepasste Asylbewerberleistungsgesetz oder Bürgergeld gesichert sind, wird die „Asylindustrie“ zunehmend kritisiert. Hohe Verwaltungskosten und wenig zielführende Sprach- und Vorbereitungskurse haben viel zu wenig geholfen, Migranten in Brot und Arbeit zu bringen. Zudem ist die Bildung von Parallelgesellschaften nicht verhindert worden, was zu den hohen Kriminalitätsraten beigetragen hat. Nicht zuletzt haben in der Politik pseudoideologische Grabenkämpfe zwischen Migrationsbefürwortern auf hohem moralischem Ross und den Verteidigern von Rechtsstaatlichkeit und öffentlicher Ordnung zum gegenwärtigen Kontrollverlust beigetragen, ein Staatsversagen wie man es sich noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen konnte. Die zunehmenden Angriffe von Migrantengruppen auf die Polizei sind dabei besonders besorgniserregend, vielleicht aber auch eine späte Quittung dafür, dass prominente Politiker „law and order“ verächtlich und zum Schimpfwort gemacht haben. In den kommenden Jahren, das dürfte inzwischen klar sein, werden die Migrationsströme weltweit eher noch stärker werden, als dass sie abnehmen. Und Deutschland ist für viele zum Traumziel geworden.
Man kann nur hoffen, dass die neue Regierungskoalition sich nicht mit den schnellen Anfangsentscheidungen zur Begrenzung illegaler Einreisen und Familiennachzug zufriedengeben wird. Ohne eine zusätzliche Neuordnung und die Einführung von wirksamen Integrationsinstrumenten werden sich die Wähler nicht beruhigen lassen, die neu eingebürgerten wahrscheinlich am wenigsten. Denn ihre Anerkennung und Akzeptanz als gleichwertige Mitbürger leidet unter dem gegenwärtigen Chaos am meisten.