Wolfgang Thierse: „Willy Brandt ist längst zur Legende geworden“

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Der Schriftsteller Heinrich Böll schrieb einmal: „In Willy Brandts Lebenslauf liegt Stoff für eine Legende, fast für ein Märchen, das wahr wurde.“

Willy Brandt ist längst zur Legende geworden – zu einer politischen Ikone nicht nur für seine Partei, die Sozialdemokratie, sondern für unser ganzes Land.

Seine bewegte Biografie vor den Höhen und Tiefen der Geschichte des 20. Jahrhunderts strahlt einzigartig: Geboren als Arbeiterjunge noch im Kaiserreich, als Sohn einer Konsumverkäuferin; seinen Vater hat er nie kennen gelernt. Materielle Not war ihm nicht fremd. Die Arbeiterbewegung gab dem wenig behausten Jungen Halt, wurde zu seiner Ersatz-Familie. Sein Stärke entdeckte er im Schreiben, auf sein politisches Talent wurde man früh aufmerksam.

Als feuriger Jungsozialist wurde Willy Brandt Zeuge, wie die erste deutsche Demokratie von ihren inneren Feinden zerstört wurde. Demokratie und Freiheit, das hat er damals gelernt, sind keineswegs selbstverständlich, sondern Werte, die immer wieder neu erkämpft und bewahrt werden müssen.

Willy Brandt zeigte Mut zum aktiven Widerstand, großen Mut sogar. Der „Hitler-Flüchtling“ fand Zuflucht in Norwegen und später Schweden. Die Exiljahre, die skandinavische Lebensweise und politische Kultur, haben Willy Brandt tief geprägt, ja verändert. Als gemäßigter Sozialdemokrat, mit neuen Ideen für eine moderne, gerechtere Gesellschaft kehrte er 1945 nach Deutschland zurück, um am demokratischen Wiederaufbau mitzuwirken. In Berlin begann sein Aufstieg zu einem der führenden deutschen Sozialdemokraten und schließlich zum Staatsmann.

Deutschland war geteilt, Berlin war eine geteilte Stadt, seit 1961 von einem brutalen Mauerregime durchschnitten. Für viele DDR-Bürger wurde Willy Brandt, noch bevor er von Berlin nach Bonn ging, zu einer Verkörperung ihrer Hoffnungen. Seinetwegen bin ich zum Sozialdemokraten geworden, lange bevor ich Mitglied der SPD werden konnte; das dürfte für viele ostdeutsche Sozialdemokraten gelten. Spätestens seit dem Passierscheinabkommen wussten wir, dass da einer ist, der Politik macht, die uns meint, die uns einschließt, uns Ostdeutsche. Da war einer, der konkrete Politik für die Menschen zu machen versuchte, die sich selber nicht mehr helfen konnten. Deshalb war der Jubel der Erfurter Bürger für Willy Brandt bei seinem Besuch am 19. März 1970 so groß. Und das war wohl auch der Grund, warum er uns Ostdeutsche 1989/90 so selbstverständlich, so glaubwürdig, willkommen heißen konnte: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.

Willy Brandt hat es geschafft, in den Köpfen unserer Nachbarn und vieler anderer Völker dieser Welt ein neues Bild von uns Deutschen zu verankern

Als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler war Willy Brandt im Oktober 1969, an der Spitze der sozial-liberalen Koalition, angetreten, Deutschland mit seinen Nachbarn und die Deutschen auch mit sich selbst, mit ihrer Geschichte, zu versöhnen. Seine gemeinsam mit dem liberalen Bundesaußenminister Walter Scheel umgesetzte Neue Ostpolitik hat während des Kalten Krieges dazu beigetragen, den Frieden in Europa sicherer zu machen und den Zusammenhalt unserer Nation in der Zeit ihrer Teilung zu bewahren. Der Kniefall von Warschau ist einer der großen Momente der europäischen Geschichte. Und so hat es Willy Brandt geschafft, in den Köpfen unserer Nachbarn und vieler anderer Völker dieser Welt ein neues Bild von uns Deutschen zu verankern – von einem Demokratie und Freiheit liebenden Volk, das seinen festen Platz in einem geeinten, demokratischen Europa gefunden hat.

Noch war das Europa, das Willy Brandt vorschwebte, nicht vollendet: ein Kontinent ohne Mauern und Stacheldraht, mit einem vereinten Deutschland im Herzen. Die Ostpolitik Willy Brandts hat auf lange Sicht den Weg zur deutschen Einheit in einem geeinten Europa geebnet, ja überhaupt erst möglich gemacht.

„Mehr Demokratie wagen“

Vor 50 Jahren – am 10. Dezember 1970 – wurde Willy Brandt für seine Politik der Versöhnung und des Ausgleich mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – als bisher einziger Deutscher seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

„Mehr Demokratie wagen“ lautet ein weiterer berühmter Aufruf aus der ersten Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Tatsächlich sollte dies eine Einladung an die Bürgerinnen und Bürger sein, sich stärker politisch bzw. für die Gestaltung des Gemeinwesens zu engagieren. Die Demokratie als „Lebensform“ sollte alle Bereiche und Ebenen der Gesellschaft durchdringen.

Brandt hat die Bundesrepublik mit einer wesentlich stärkeren Demokratie hinterlassen

Viele Bundesbürger haben diese Einladung angenommen. Willy Brandt hat die Bundesrepublik mit einer wesentlich stärkeren Demokratie hinterlassen, und zugleich mit selbstbewussteren Bürgern. Viele Ostdeutsche hat das fasziniert; ihre Sehnsucht nach mehr Freiheit wurde nur noch verstärkt. Umso wütender waren viele, als Willy Brandt 1974 wegen eines DDR-Spions im Kanzleramt die politische Verantwortung übernahm und zurücktrat.

1987 verabschiedete sich Willy Brandt nach kaum vorstellbaren 23 Jahren vom Parteivorsitz, „von den Zinnen der Partei.“ Seine Abschiedsrede auf dem Sonderparteitag der SPD in Bad Godesberg ist ein einzigartiges Bekenntnis zur Freiheit: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet mein Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht.“

Willy Brandts Leben ist zum Glück kein Märchen

Was ist geblieben? Willy Brandt war mehr als ein bedeutender Bundeskanzler, der die Geschichte unseres Landes wesentlich geprägt und Weichen maßgeblich gestellt hat. Willy Brandt war nicht nur ein Politiker und Staatsmann, sondern zugleich Weltbürger und Internationalist. 1976 ließ er sich zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale wählen und machte sie zu einer globalen Bewegung. 1977 wurde er, der weltweit hohes Ansehen genoss, zum Vorsitzenden einer unabhängigen Kommission für Nord-Süd-Fragen berufen. Der „Brandt-Report“ ist bis heute wegweisend. Willy Brandt hat uns – lange vor der Klimaerwärmungsdebatte – klar gemacht, dass die Menschheit in der Einen Welt nur gemeinsam überleben kann, und es dazu großer Solidarität bedarf, aus den reicheren Ländern für die ärmeren. Vielleicht liegt hier sein wichtigstes politisches Erbe.

Willy Brandts Leben ist zum Glück kein Märchen.

Unser Land darf sich glücklich schätzen, einen Menschen wie Willy Brandt in seinen Reihen gehabt zu haben.

Bundestagspräsident a. D. Dr. h.c. Wolfgang Thierse ist seit Oktober 2000 Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin.

Quelle:

Deutschlands bedeutendste Politiker nach 1945, Aljoscha Kertesz, Bernd Haunfelder, Engelsdorfer Verlag.
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Bundestagspräsident a. D. Dr. h.c. Wolfgang Thierse ist seit Oktober 2000 Kuratoriumsvorsitzender der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin. Der SPD-Politiker wurde 1943 in Breslau geboren. Von 1998 bis 2005 war er Präsident des Deutschen Bundestages und im Anschluss bis 2013 dessen Vizepräsident.