Zurab Karumadze. Dagny oder ein Fest der Liebe

Quelle: Weidle Verlag GmbH

Liebe ist, wenn sein oder ihr Atem deine Wirbelsäule mit Tönen füllt … wenn der sanfte Atemzug unsichtbar hindurchstreicht … unbeschreibliche Liebe … Applaus!“ (S. 8)

Gibt es ein dankbareres Sujet als die Liebes- und Leidensgeschichte der norwegischen Pianistin und Dichterin Dagny Juel-Przybyszewska wie auch deren Ermordung am 4. Juni 1901 in einem Hotel der georgischen Hauptstadt Tiflis? Zurab Karumidze (Jg. 1957), ein mit Literaturpreisen gekrönter georgischer Schriftsteller, 1994/95 Stipendiat der US-amerikanischen Fulbright-Stiftung, stellte sich dieser Herausforderung. „Dagny or a Love Feast“, so der englische Titel, erschien 2006 auf Englisch. Es ist eine Mischung aus biographischen Versatzstücken, Vermutungen über die unzähmbaren Kräfte der Liebe, Fakten und Spekulationen über die mythopoetischen, erotischen und sexuellen Beziehungen der zahlreichen Bewunderer und Liebhaber zu der klugen, bezaubernden und zugleich liebestörichten Dagny, vielschichtigen Anspielungen auf die georgische Schamanenkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Abschweifungen in die revolutionäre Szene der georgischen Hauptstadt. Kurzum, es ist ein postmodernes Erzählkonstrukt, vorgetragen von einem Ich-Erzähler, der ständig zwischen biografischen Fakten, Spekulationen und kühnen Vermutungen pendelt. Ein verlockendes Angebot also für Leser, die sich hinreißen lassen von wilden Behauptungen, wagehalsigen philosophischen Thesen, biografischen Fakten und den kühl abwägenden Kommentaren des Erzählers. Diese Vermischung von Werturteilen, ironisch-gebrochenen Erklärungen und distanzierenden Beobachtungen schafft „auf den ersten Blick“ einen Leseanreiz, der zwischen der genüsslichen Betrachtung der Ereignisse und deren psychologischer Bewertung schwankt. Eine grundsätzliche Behauptung des Erzählers besteht darin, dass seine tragische Heldin Dagny, die auch Theaterstücke schrieb, im Leben wie auch in ihren dramatischen Werken von „tödlichen Dreiecksgeschichten“ beim Zusammentreffen schicksalsbestimmter Liebender, überzeugt war. Diese These untermauert Karumadze mit der biografisch verbürgten Beziehungsgeschichte Dagny Juel – Stanislaw Przybyszewski – Maria Foerder. Dagny lebte in der Berliner Bohemien-Szene in den 1890er Jahren mit dem polnischen Schriftsteller Przybyszewski zusammen, gleichzeitig schwängerte ihr umtriebiger Geliebter seine langjährige Freundin Maria Foerder. Diese nahm sich als Mutter von drei Kindern das Leben, als sie erfuhr, dass der Vater ihrer Kinder seine Gespielin Dagny geheiratet hat. Die zweite Dreiecksgeschichte kulminiert in der heimtückischen Tötung Dagnys durch den von ihrem Ehemann beauftragten Wlad Emeryk in Tiflis. Es ist eine tragische Liebesgeschichte, in der ein verlogener, intriganter, heuchlerischer und skrupelloser Ehemann, einer der bekanntesten Vertreter der polnischen literarischen Bewegung Mloda Polska, wegen einer Liebschaft zu einer gewissen Jadwiga, seine Ehefrau an seine Freund Wlad Emeryk verkaufte, damit ermorden ließ.

Wer die Hintergründe dieser Tat genauer in Erfahrung bringen möchte, dem ist die sorgfältig recherchierte Publikation „Eine Klage für Dagny Juel-Przybyszewska“ des renommierten polnischen Schriftstellers Tadeusz (Thaddeus) Wittlin (dt. Paderborn, Igel Verlag 1995) zu empfehlen. Seine Biographie, die aus dem Amerikanischen übersetzt wurde, rekonstruiert auf der Grundlage von rund 1100 Anmerkungen und Hunderten von Quellen den Lebensweg der aus dem norwegischen Rolighed stammenden Dagny Juel. Es ist eine turbulente Karriere, die im Berlin der 1890er Jahre im Umfeld von August Strindberg, Jakob Dehmel, Edward Munch und vielen anderen Verehrern ihre tragische Vorstufe zum schrecklichen Finale in Tiflis erlebt. Karumidze konzentriert sich in seinem zwischen biographisch verbürgten und wild spekulierenden plot eher auf das kaukasische Umfeld, in das Dagny mit ihrem Sohn Zenon und ihrem Begleiter Emeryk kurz vor ihrer Ermordung gerät. In diesem phantasmagorischen Umfeld tauchen der Revolutionär Koba, der spätere Stalin auf, sein Genosse Kamo, der „bourgeoise“ georgische Dichter Pschawela, ein mystischer Riesen-Leoparden, Jason, Lazarus ein gewisser Sorab Addin, der die Mordgelüste des Emeryk durchschaut… es könnten noch viel mehr auftreten, denn die georgische „schamanische“ Phantasiewelt des Autors scheint grenzenlos zu sein. Wer an der wuchernden Exotik Gefallen findet, der wird sich ihr lustvoll hingeben. Wer jedoch den Ursachen für den Mord an Dagny nachgehen will, der sollte sich den ästhetischen Entwurf über die Trennung von Kunst und Moral in Przybyszewskis Schrift „Confiteor“ zu Gemüte führen. Um der Kunst willen, kann alles geopfert werden, alles weggeworfen werden, was den Künstler an der Vollendung seines ästhetischen Programms hindert. Und Stach, so sein Kosename, Przybyszewski, ein „Satans Kind“, handelte danach. Viel Spaß also an den phantasmagorischen Entwürfen von Zurab Karumadze über die „unbeschreibliche“ Liebe! Und ein Kompliment an den Übersetzer Stefan Weidle, der unermüdlich mit Hilfe von Bekannten, Freunden und dem Autor die vielen norwegischen, englischen, russischen und deutschen Quelltexte überprüft hat.

 

Zurab Karumadze. Dagny oder ein Fest der Liebe. Roman. Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Bonn (Weidle Verlag) 2017, 288 S., 23.- EUR, ISBN 978-3-938803-85-1.

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