Philotechnie jetzt!

Tugend damals und heute

Das griechische Wort für 'Tugend' heisst aretê. Wenn wir auf die Frage: Was heisst denn aretê? antworten: aretê ist das griechische Wort erst für Tauglichkeit allgemein, dann für Tugend im besondern, dann werden die allermeisten Interessierten mit Unverständnis und Desinteresse, wenn nicht gar mit einem abschätzigen Achselzucken reagieren. Wer spricht denn heute schon von Tugend? – Gegen die Annahme, das Tugendproblem sei vom Tisch, sprechen allerdings Bände: Der Petit traité des grandes vertus von André Comte-Sponville (PUF, Paris 1995, 392 S.) ging in Frankreich zu Zehntausenden über den Ladentisch; das (umstrittene) Buch der Tugenden von U. Wickert ist in Deutschland ein Bestseller; bereits 1984 erschien in Notre Dame in 2. Auflage auf englisch, 1987 auf deutsch (Campus) Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart von Alasdair MacIntyre.

Im sogenannten Alltag sind wir noch immer angewiesen auf die Tüchtigkeit eines Handwerkers, merken wir doch rasch, was es uns kostet, wenn gepfuscht wird. Niemand möchte aber in den Verdacht geraten, als Tugendbold apostrophiert zu werden. Nur das nicht. Wenn mit aretê gar eine Handlungsanweisung gemeint und verbunden sein sollte, dann läuft die entsprechende Aufforderung zur Tugend erst recht ins Leere. Bei wem figuriert denn heute die Tugend auf der Lebensgestaltungsagenda! Nicht etwa, dass die Menschen samt und sonders Tugendverächter wären. Aber der Tugendbegriff gilt nicht mehr als ein konstitutives Moment, weder in der Wirtschaft noch in der Lebensgestaltung. Er ist abgelöst worden, und zwar gleich durch zwei andere Grundsätze: Pflicht und Verantwortung. Den Auftakt ins bürgerliche Zeitalter – Ralf Dahrendorf zufolge entwachsen wir ihm allerdings und manövrieren uns in die entsprechende Krise hinein – machte Kant (1724-1802) mit dem Pflichtbegriff und dem kategorischen Imperativ. Der Tugendbegriff bzw. das Tugendstreben geriet unter Verdacht, nichts anderes zu sein als versteckte Selbstsucht, eben Prämieninteresse. – Nach Auschwitz ist es gemäss Hans Jonas das Prinzip Verantwortung, (Frankfurt a. M. 1979/1984), das die Ethik für die technologische Zivilisation begründet. Der so in die Verantwortung gestellte Mensch vergewissert sich über kollektives Handeln in der Geschichte, also in Vergangenheit und Gegenwart; spezifisch modern daran ist, dass er auch über die mit kollektivem Handeln verbundenen künftigen Folgen Rechenschaft abzulegen hat. Die Handlungsverantwortung orientiert sich also nicht mehr primär an der Instanz aretê.

Hat Tugend ausgedient? Ist der Begriff aretê hübscher, aber unnützer und vor allem gänzlich unbrauchbarer Zitatenschmuck? Wie sollte 'Tugend' als begrifflicher Repräsentant einer Idee, eines lebensdienlichen Programms, einer gesellschaftsprägenden Produktion tauglich sein? Wer Tugendverhalten nach dessen Bedingungen des Entstehens befragt, untergräbt auch schon dessen Fundament. Der psychologische Scharfsinn machte Nietzsche zum Genealogen von Gut und Böse; Michel Foucault radikalisierte Nietzsches Programm, eröffnete aber einen postkantisch historisch-transzendentalen Tugenddiskurs und hat ihn dann resolut in den Diskurs der «Technik des Lebens» und der Existenz transformiert. Tugend heisst im modernen Kontext Technik des Lebens (technê toû bioû; ars vivendi) und Selbstsorge (epiméleia toû autoû; cura sui), fungiert als konstitutives Grundprinzip des Selbst und löst das Prinzip der Selbstentsagung (definitiv?) ab.

Ein weiteres Hindernis, das sich der Wiederverwendung von aretê entgegenstellt, hängt nicht direkt mit dem geschwundenen Stellenwert und der gestörten Geltung von aretê, virtus und Tugend innerhalb der sozialen und individuellen Rekonstruktion der Lebenswelt zusammen. Die Schwierigkeit entsteht aus dem Unbehagen, in das der Begriff aretê und die mit ihm aktivierten Moralkonnotationen versetzen. Aufs Ganze unserer Technikwelt gesehen, nimmt sich aretê doch eher als ein lästiger Fremdkörper aus. Die folgenden Ausführungen möchten diesem Unbehagen sowohl entgegenkommen als auch versuchen, es in tugendgestütztes Verhalten, in die «normative Intelligenz» – mit Gerhard Schulze als Verständigkeit und Lebensklugheit verstanden – umzusetzen. Ein wissendes Verhalten, das zu wählen vermag zwischen zerstreuender Erlebnisfaszination und konzentrierender Zielsetzung, zwischen ephemeren, orientierungslosen Glücksangeboten und rationaler Skepsis gegenüber eigenen illusionären Begehrlichkeiten.

I. Tugendlehre allgemein

Definition

Aretê sei übersetzt mit Performanz. Sie nennt jenes handlungsmotivierende, auf die Umstände achtende persönliche Gesamtformat, das den frei entscheidenden Menschen rundum mässigt und stabilisiert, ihn neuen Möglichkeiten gegenüber öffnet, ihn geistig mobil, sozial kompetent und gegen lineares Denken und unbedachtes Entscheiden resistent macht.

Performanz ist gebildet aus dem lateinischen performans, durchgeformt-sein, in-Form-sein; die Vorsilbe per hat Verstärkerfunktion, wie im Wort per-fekt. Synonyme Termini für Performanz sind heute Format, Hochform, älter (vielleicht besser) Tauglichkeit, Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Kunstverstand; wer performant ist, hat 'Genie' (Ingenieur), ist erfinderisch, gewandt und anpassungsfähig. Was er macht, lässt sich sehen; sein Handeln schafft Zusammenhänge und macht Sinn, obschon immer nur Stückwerk und Annäherung ans Ganze. Die Fertigkeit, mit den Mitteln sparsam und zugleich produktiv umzugehen, sowie die Achtsamkeit auf das Verhältnis von Aufwand und Ertrag prägen den Lebensstil und werden schliesslich zur zweiten Natur. Zu Performanz und Format gehört zwar der Blick auf das Ganze, ist doch performantes Handeln stets angestachelt von der Frage nach dem Ziel, dem Ganzen und dem Sinn des vielen Tuns und Treibens – ein Blick freilich, der das Ganze nie zu Gesicht bekommt. Der Tugendverlust hat die Tugend schon immer begleitet und die Tugendtraktate konstituiert. Im Horizont dieses Mangels und des permanenten, aber epochenspezifischen Tugendverlustes sowie der Unabgeschlossenheit des Tugendstrebens reflektiert, stellt sich Performanz schliesslich dar als die für die menschliche Existenz unentbehrliche Lebenstechnik. Sie hält die Erinnerung daran aufrecht, dass es kein happy end gibt, der Verlust der Tugend nicht kompensierbar ist und unsere Endlichkeit nicht in neue Gewissheiten zu konvertieren ist, auch nicht um den Preis des nach Platon und Aristoteles glückverheissenden Tugendverhaltens. Die metaphysische Spitze, auf die die Tugendargumentation des Aristoteles hinausläuft, scheint endgültig gebrochen zu sein. Gleichwohl erwachsen dem modernen Subjekt, das an seinem Lebensstil arbeitet, sowohl Persönlichkeitsvorzüge wie Sozialkompetenzen, um derentwillen sich dann gesellschaftliche Wirksamkeit einstellen und deren Anerkennung nicht ausbleiben wird. Sie gilt allemal der Frau, dem Mann von Format.

Begriffsgeschichtliches Korrektiv

Der Begriff aretê ist nicht daraufhin angelegt, jemandem eine bestimmte Verhaltensweise aufzuerlegen oder ihm mit erhobenem Zeigefinger zu bedeuten, wo es langgehen soll. Aretê hat also ursprünglich mit Moral nur entfernt zu tun. Erst die Geschichte machte aus aretê einen morallastigen Begriff. Wenn sich heute bei vielen Leuten, die das Wort Tugend auch nur hören, die Vorstellung des Moralisierens und des Tugendboldes einstellt und sie nur gerade ein müdes Lächeln für diesen, aus europäischen Lebensentwürfen allerdings nicht mehr wegzudenkenden Begriff übrig haben mögen, dann liegt das am geschichtlich bedingten Gebrauch bzw. Missbrauch des Begriffs. In der Tat, Tugend wurde vor allem in der bürgerlichen Gesellschaft um die letzte Jahrhundertwende missverstanden und zu allerhand pädagogisch-politischem Unsinn missbraucht. Den Tugendbegriff haben die Nationalismen, vollends der Nationalsozialismus pervertiert: die Pflicht wurde zur alleinigen, massgebenden und männlichen Tugend erhoben. Mit dem Zwang zur Pflicht wurde auch die Voraussetzung zur Tugend zerstört, nämlich die Freiheit.

Aretê ist nicht auf Zwangshandlung angelegt. Sie nennt jene Grundhaltung, die ein Handeln möglich macht, das freier Entscheidung entsprungen ist, in sich abgeschlossen ist, dem Handelnden aber Genuss bereitet und so unabschliessbar zu neuem Handeln motiviert. Diese Haltung vereint die beiden Aspekte des Handelns – Handlungsprinzip und Handlungsnorm. Wer Performanz (im oben definierten Sinn) für sich beansprucht, rekurriert auf zwei Instanzen: auf Wissen und Tun. Der performant Handelnde weiss: Was ich mache, mache ich richtig. «Was du tust, das tue recht», pflegte mein Grossonkel, gelernter Bäcker, zu sagen. Garant hierfür ist der aus seiner Hochform heraus Handelnde. Man sagt dann von ihm, er habe Format, sei es beruflich, sittlich oder sozial. Aus blossem Wissen folgt noch nicht automatisch die Tat. Deshalb ist Performanz gefragt, also mehr als objektives Wissen. Aus dem savoir-faire folgt zwar auch nicht'automatisch', jedoch zuverlässig (subjektstabilisierend) der Tatbeweis. Gerade in der Kombination dieser beiden Momente erweist sich die eigentliche Kraft der Performanz: Sie verbindet Herstellen und Machen (technê) mit Handeln und Tat (prâxis). Hieraus formt sich das Format des Handelnden, der sich zum Charakter heranbildet. Beides gekoppelt, also herstellendes Machen sowie affektbesetztes Handeln, produkteorientiertes Herstellen und subjektorientiertes, lebensweltlich relevantes Wirken, sie ergeben das, was gemeinhin Haltung (êthos, habitus), Verhalten und Einstellung im Sinne eines performativen, auf aktives Tätigsein hingeordnetes Vermögen genannt wird. Aber auch umgekehrt gilt: Sowohl Machen wie Handeln verdanken sich ganz und gar dem stabilen und zugleich agilen Habitus dessen, der da etwas macht und der da handelt. Daraus wird ersichtlich, dass Performanz in den zwischenmenschlichen Beziehungen die massgeblich vertrauensbildende, Verlässlichkeit garantierende Instanz ist. Sie schafft Vertrauen, weil sie selbst die habituelle Grundlage dafür liefert.

Das Tugendprogramm

Für dieses komplexe 'Tugendprogramm' gibt es einen schönen, leider in Vergessenhei geratenen Begriff, nämlich die Philotechnie. Ihre konstitutiven Momente sind 1. die den Produktelebenszyklus respektierende Wachsamkeit; 2. die im Persönlichkeitscharakter wurzelnde und diesen wiederum erweiternde Handlungskompetenz; 3. die sich als gesellschaftsdienliche und sozialförderliche Praktiken realisierende Performanz.

Philotechnie ist herstellungs- und handlungsbezogene Performanz in einem. Sie zielt somit auf Herstellung und Produktion ab, behält zugleich die Praxis, also das freiheitschaffende und zielgerichtete Handeln (prâxis) im Auge. Genau das meint aretê. Anders gesagt: Zur Performanz gehören technisch-professionelles Herstellungswissen genauso wie charakterliche Festigkeit und geistige Regsamkeit. Performanz ist eine Haltung und ein Ge-Haben, das zwar durchaus in sich selbst verharrt, zugleich aber die Voraussetzung zu jedwelcher innovativen Wirksamkeit bietet. Performanz so verstanden hat drei konstitutive Momente. Sie fächert sich funktional in ganz unterschiedliche Performanzen der Lebensbewältigung und der Umweltbesorgung auf. Zugleich ist sie auf ein einziges, in sich geschlossenes, also vollendetes Ereignis hin angelegt, die singuläre, aktuale Existenz, die sich aber weder selbst legitimieren noch sich ihrer möglichen Reüssite zu vergewissern vermag.

Die drei Momente sind: 1. die einer jeden Sache eigentümliche Tüchtigkeit, ihr Wahrsein also; 2. die jedem Tauglichsein und jeder Performanz eigene mögliche Selbstentgrenzung: wer performant ist, ist es ersichtlich stets für etwas, das über ihn hinausragt, ihn übersteigt; 3. das jeder aktivierten Tauglichkeit zugehörige Ergebnis, nämlich das am Tauglichsein und an der Performanz partizipierende, also 'gute', qualitätsvolle, vollendet-perfekte, veritable Produkt.

Ergebnis

1. Das freilich immer vorläufige, revidierbare Endergebnis dieser komplexen 'Tugend'-Maschinerie des Herstellens und Handelns, der technê und der prâxis, ist das Leben als Ganzes. Unter Leben verstehe ich den Mehrwert unserer Herstellungen und Handlungen, also das Tätigsein schlechthin: polypragmasýnê. Dieser Term ist philotechnisch gemeint und umfasst die beiden Momente des dispersiven Vielbeschäftigtseins mit der Aussenwelt und des konzentrierten Exerzitiums des Selbst mit sich selbst. Alles performative Handeln untersteht dieser Instanz als dem Prototyp von Tätigsein. Es ist 1. ein die eigene Existenz bereicherndes Tätigsein, ist es doch lusterzeugend und damit letztinstanzlich existenztragend, 2. eine sozial nützliche Aktivität, 3. der die Umwelt schonende Umgang mit der 'Welt', im Sinne der Philotechnie. Dass sich in dieser Performanz und nur in ihr jedesmal, auch bei der bescheidensten Handreichung, ein Stück Lebenssinn realisiert und erfüllt, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Seit Aristoteles hat der so erfüllte Lebenssinn als Ganzes den schönen Namen Glück. Er ist freilich ein Ideal, ein normativer, also inhaltsleerer Begriff. Glück will immer erst geschmiedet sein …

2. Diese Ausführungen über aretê als Performanz betreffen, wie aus dem Gesagten sogleich ersichtlich, die Hauptmerkmale der Tugend im allgemeinen. Ebenso klar ist, dass Performanz sich auffächert, in ganz unterschiedlichen Lebensbezirken wirksam wird und je nach Handlungsbedarf ein ganz anderes Profil hat. Eben deshalb wurde in den traditionellen Tugendlehren schon immer zwischen den Kardinal- oder Primärtugenden und den Sekundärtugenden unterschieden. Die hochdifferenzierten Tugendprogramme sind Anzeigen jener performanten Aktivitäten, die für eine gelingende menschliche Existenz unerlässlich sind, die aber ihrerseits wieder eine ganz bestimmte Haltung voraussetzen. Exemplarisch lässt sich das am Beispiel der Wohlberatenheit vorführen.

II. Die Sekundärtugend der Wohlberatenheit

Bestandesaufnahme

Die Beraterbranche boomt. Ist das ein Indiz für weitverbreitete Ratlosigkeit und Verständnislosigkeit des Selbstverständlichen? Oder zeigt der Boom das Ausmass der abnehmenden Kompetenz, des schwindenden Mutes zur Eigenverantwortung an? Der Beraterboom wäre dann Anzeichen für Kompetenzschwund und mangelnde Aufklärung in den Kreisen der Wirtschaft und der Unternehmer, also für deren «selbstverschuldete Unmündigkeit» (Kant). Begibt sich, wer den Berater ruft, in die freiwillige (oder durch Konkursdrohung erzwungene) Abhängigkeit von einer externen Instanz? Ist damit nicht gerade der Begriff der Wohlberatenheit verraten?

Wie auch immer – die spezifische Aufgabe des Beraters, an etwas bereits Bestehendem die Verbesserungspotentiale zu erschliessen, ist ebenso alt wie aktuell. Deshalb fragen wir: Wer ist Berater? Was ist sein Gegenstand? Was besagt Wohlberatenheit?

Wie erkennt man etwas, was noch gar nicht ist, was es noch nicht gibt? Genau dies ist die Grundfrage der Beratung, ist doch der spezifische Gegenstand etwas Wahrscheinliches, verstanden als das Nicht-Aktuale mit konkretem Bezug auf das Aktuale, aber nicht schon als ein Faktisches verstanden. Das Wahrscheinliche hat ausdrücklich epistemischen Charakter, drückt es doch eine Kennzeichnung unserer Erkenntnisse aus und vollzieht sich in Stufen und Intensitätsgraden. Ginge es nur um den kruden Sachverhalt, genügten gewiefte Statistiker. Mit Wahrscheinlichkeitsgrössen umzugehen, Risiken oder Gewinne oder Verluste zu erschliessen, Lösungen zu suchen und dann auch zu finden, das ist Beratersache. Ein erstes Merkmal des Beraters also: Er ist findig und wird dann auch fündig. Nach welchen Kriterien ist vorzugehen? Wie kommt man auf zuverlässige Anzeichen? Wie lassen sich versteckte Risiken, vergessene Daten entdecken und aufspüren? Wie schätzt einer die Folgen seiner Entscheidungen ab, nachdem er die (sichtlich negativen) Folgen des bisherigen Handelns seiner zu beratenden Pappenheimer einigermassen oder auch bis in Einzelheiten kennt?

Nennen wir Berater jemanden, der nicht mit strikten Beweisen und zwingenden Argumentationen operiert, sondern eben rät, abrät von … und zurät zu … Das abschätzende Mutmassen ist das unterscheidende Merkmal zwischen Raten und wissenschaftlichem Beweisen. Wer rät, rät zum Nützlichen und Ehrbaren, rät ab vom Schädlichen und Schimpflich-Unanständigen. Er befiehlt also nicht, noch überführt er sein Gegenüber, den zu Beratenden also, mit unwiderlegbaren Beweisen seiner Taten, seiner Unterlassungen oder seiner Schuld. Raten heisst nicht, jemandem den Prozess machen noch jemandem einen Sachverhalt zwingend beweisen. Der Berater hat, streng genommen, gerade keine zwingenden Beweise in der Tasche. Doch was macht der Berater, wenn er zurät und abrät?

1. Er tritt nicht – wie der Wissenschaftler – von aussen an jemanden heran, um ihm, von einem Axiom ausgehend, die Kette aller Folgerungen zu demonstrieren oder ein Experiment vorzuführen. Der Berater ist keine externe Instanz, die die Objektivität zum voraus auf ihrer Seite hätte und unwiderlegbar beweisen könnte, was in Zukunft zu geschehen hat und mit welchen Folgen Neuerungen einzuführen oder Massnahmen zu treffen sind. Oft teilt der Berater mit dem zu Beratenden gerade das gemeinsame Nicht-Wissen! In der pointenverdächtigen Formulierung von Odo Marquard: Der Berater bügelt die Inkompetenz der zu Beratenden aus, hat also die schöne Funktion der «Inkompetenzkompensationskompetenz». Genau hieraus entstehen letztlich die überzeugenden Argumente, begleiten sie doch das Zuraten und Abraten des Beraters und machen so die Ueberzeugung beim Beratenen allererst wirksam. Er kann jetzt nämlich selbst entscheiden.

Einen argumentgestützten Rat erteilen heisst, 1. beim Ratsuchenden allererst Glaubwürdigkeit schaffen, 2. kraft dieser Glaublichkeit die vom glaubwürdig argumentierenden Berater vorgeschlagenen, konjekturalen Daten, Massnahmen und Entscheidungen beim zu Beratenden wirksam machen. Das läuft letztlich über drei Instanzen: 1. über die hüben und drüben erfolgte vorbehaltlose Einsicht in die Fakten dank vollständigen Sachwissens, 2. über die hohe Glaublichkeitsstufe des Beraters beim zu Beratenden, 3. über das ungestörte Vertrauenspotential in den Berater.

2. Der Berater hat, die unbestreitbar auf objektiver Problemanalyse beruhenden sachlichen Vorschläge immer vorausgesetzt, den oder die an der Sache (etwa ein mittleres Unternehmen) Beteiligten oder Verantwortlichen miteinzubeziehen. Wer rät, berät immer jemanden. Er argumentiert zwar, aber in seinen Sachargumenten schwingt stets auch der Ton des Ueberzeugens mit.

3. Weshalb ist das so und muss so sein? 1. Weil die Beratung etwas anderes ist (weniger oder mehr, je nach Betrachtungsweise) als eine wissenschaftlich konstruierte Argumentation; 2. weil der Berater – anders als ein rein objektiver Experte (sollte es ihn denn geben) – als Person mit sozialem und sittlichem Format immer selbst, mit seiner Person, auch Teil seiner Argumentation ist; 3. weil der zu Beratende durch überzeugendes Argumentieren zu einer künftigen Handlung motiviert wird, für die er dann auch geradesteht, und sollte sie seinem bisherigen Trott eventuell sogar zuwiderlaufen.

Beraten heisst, die zu Beratenden über die tatsächlichen Verhältnisse aufklären, sie in die alsdann angebotenen, konjekturierten Vorschläge und Ratschläge einbeziehen und so bei den Betreffenden (soweit sie immer auch Betroffene sind) einen Lernprozess initiieren. «Kommt Zeit, kommt Rat», heisst ein altes Sprichwort. Gerade heute ist der Faktor 'Zeit' ein absolut vorrangiges Moment der Beratertätigkeit.

Gegenstand des Beratens

Wichtig ist, sich den spezifischen Gegenstand der Beratung zu vergegenwärtigen. Der Bedarf an Beratung steigt mit steigender Problemlage. Das ist banal. Weniger trivial ist, dass vom Berater eine Problemanalyse erwartet werden darf. Die Beratertätigkeit spielt sich zumeist in zwei oft ungleichzeitigen Phasen ab. Zuerst in der Phase der Einsicht in die Probleme, die mit der Sache selbst verbunden sind, dann in die Phase der Umsicht, mit der jene Probleme angegangen werden, mit denen sich die beteiligten Personen konfrontiert sehen und mit denen sie offenbar nicht fertig werden. Kompliziert wird die Aufgabe oft dadurch, dass die beteiligten Personen das grössere Problem darstellen als das Sachproblem.

Ein Berater von Format wird diese beiden Seiten seines Gegenstandes zu unterscheiden wissen; dann wird er die unterschiedlichen Phasen der je verschiedenen, oft ungleichzeitigen Beratungsprozesse kennen und sich in seinem argumentativ-konsiliaren Diskurs entsprechend verhalten: bei der Analyse des Sachverhaltes klar und unmissverständlich deutlich werden – klug und empathisch, überzeugend und engagiert handeln, wenn es um die beteiligten Personen, die zu Beratenden geht. Beide Kompetenzen in einer Person vereinigt: ein Berater von Format. Sein Handeln besteht darin, seine auf Schätzungen, auf Findigkeit und Spürsinn beruhenden Konjekturen glaubhaft vortragen, ebenso faktengestützt wie risikobewusst.

Porträt eines Wohlberatenen

Es gibt im Werkkatalog des Aristoteles eine wahrscheinlich seiner Schule entstammende kleine Schrift mit dem Titel: Ueber die Tugenden. Das 4. Kapitel handelt von der Wohlberatenheit, euboulía. Es scheint mir hilfreich, daraus einige Hauptzüge zu referieren.

Wohlberaten ist, wer mit sich und seinen eigenen Angelegenheiten zu Rate gehen und zugleich auch anderen raten kann. Mit sich zu Rate gehen ist eine ausgezeichnete Form der Selbstsorge. Um anderen raten zu können, sind Gedächtnis, Erfahrung und gesellschaftlicher Takt erforderlich. Der Berater berät nicht etwa über Vergangenes, muss aber erinnernd darüber verfügen, also frühere Fälle genau registriert haben. Er rät auch nicht zu schon Bestehendem, da dies ja jedermann vor Augen hat oder dann, dank Analyse, vom Berater gezeigt und wenn nötig demonstriert bekommt. Spezifisch am Berater ist das Raten auf Künftiges hin, und Künftiges lässt sich nun einmal nicht demonstrieren. Was ist zu tun, wenn …, das ist Sache des Beraters. Diese Kompetenz wird zur Performanz dank Gedächtnis, zusammen mit Erfahrung. Ratschläge werden aber erst dann angenommen, wenn sie vom gesellschaftlichen Takt der Berater begleitet sind.

Eine wesentliche Voraussetzung der Wohlberatenheit ist die Verständigkeit, sýnesis, eusýnesis. Was heisst verständig sein? Es ist ein Erfassen der Sache durch Uebersicht im vergleichenden (oder vergleichbaren) Zusammenhang. Das wiederum ist nichts anderes als 'Erfahrung', wenn Erfahrung heisst, der Erfahrene habe seine Erfahrungen registriert, sortiert und reflektiert.

Verständigkeit ist die Quelle, aus der sowohl Beraterperformanz wie Scharfsinn hervorgehen. Umgekehrt scheint es so zu sein, dass Wohlberatenheit wie Scharfsinn, anchínoia, ihrerseits gewissermassen Ursache der Verständigkeit sind, gilt doch als verständig nur, wer auch raten kann und scharfsinnig ist. Gesellschaftlicher Takt ist erforderlich, weil es beim Raten stets (auch) um Angelegenheiten des Lebens geht. Takt deshalb, weil es hierfür gar kein vorgegebenes Muster gibt noch geben kann. Das Leben ist mehr als die Summe seiner Teile, nämlich ein «Positivsummenspiel»: durch Zusammenspiel gewinnen alle. Aber wenn es um Beratung in Angelegenheiten geht, die auch vom Willen der Beteiligten abhängen, dann sind mehr als Annäherungen und Abschätzungen, Konjekturen und begründetes Vermuten nicht möglich und auch nicht nötig.

Zum Beraterprofil gehört Verständigkeit und verständig ist, wer mit sich und für andere zu Rate gehen kann. Die integrativen Momente dieser Performanz: einen Sachverhalt gut beurteilen; von den Gütern besonnenen Gebrauch machen; im Umgang mit komplexen Verhältnissen das Richtige treffen, also über Augenmass verfügen; die gute Gelegenheit im Blick behalten, also die Gunst der Stunde nicht verpassen; sich scharfsinnig äussern und entschieden handeln; in nützlichen wie schädlichen, in lebensdienlichen wie in lebensfeindlichen Dingen erfahren sein und sich die Bedingungen dafür, umstürzende Erfahrungen machen zu können, laufend selbst schaffen. Alle diese Sonderspekte summieren und erhöhen sich im Berater von Format zu seiner technischen, sittlichen und sozialen Performanz.

Es gibt, neben der zu erarbeitenden Performanz des Ratens, die instinkthaften Anlagen, die das Subjekt zur Wohlberatenheit disponieren. Es ist dies die naturwüchsige Treffsicherheit, eine Anlage oder ein natürliches Talent, ohne welches Treffsicherheit nur schwer zu erlernen ist. Es liegt dann am Verantwortlichen etwa einer Beraterfirma, Beratertalente ausfindig zu machen und sie entsprechend weiterzubilden. Talentierte Leute ohne Zusatztheorien können sich selbst und anderen gefährlich werden.

Zusammenfassend: Jeder kommt ab und zu in eine Lage, in der er mit sich selbst zu Rate gehen muss. Die Angelegenheiten des Lebens klären sich nun einmal nicht restlos von selbst – auch nicht, wenn man sie vor sich herschiebt und vertagt. Der Berater setzt dem gefährlichen Vertagen ein Ende. Aber er tut dies wenn möglich nicht abrupt, aber auch nicht so zögerlich, dass der Ratschlag darunter leidet und zu einem Wischiwaschi verkommt.

Über Mainberger Gonsalv K. 6 Artikel
Dr. phil., lic. theol., geboren 1924, Ausbildung in aristotelisch-scholastischer Philosophie und Theologie an der Universität Fribourg. Er war Lehrbeauftragter am Philosophischen Institut der Schiller-Universität Jena von 1991-1992; Lehrbeauftragter für rhetorische Textanalyse am theologisch-praktischen Kurs der Theol. Fakultät Bern. Mainberger ist Experte beim Schweizer Fernsehen DRS für Philosophie.

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