Tritt ein!

„Wie alles haben auch die Wörter ihr Was, Wie und Warum. Manche sind feierlich, sprechen uns mit pompösem Gehabe an, tun sich wichtig, als wären sie für Großes bestimmt, und dann stellt sich heraus, dass sie nicht mehr als ein leises Lüftchen waren, das keinen Mühlenflügel hätte in Bewegung setzen können, andere, gewöhnliche, übliche, alltägliche haben am Ende Folgen, die niemand vorauszusehen gewagt hätte, dafür waren sie nicht gemacht, und doch haben sie die Welt erschüttert.“, schreibt der Portugiesische Literaturnobelpreisträger kurz vor seinem Tod. Nun werden José Saramagos Worte in seinem letzten Buch die Welt wohl nicht unbedingt aus ihren Fugen heben. Doch stellt er mit eben diesem Büchlein gewichtige Worte – nämlich die des Alten Testaments – auf den Kopf und gibt derem „pompösen Gehabe“ einen gemäßigteren, ja, volkstümlichen Klang.
„So, wie die Dinge stehen, da die Welt praktisch gerade erst eingeweiht ist, fehlen uns noch zu viele Wörter, um den Versuch zu unternehmen, zu erklären, wer wir sind, und nicht immer verfügen wir über jene, die es am besten ausdrücken“, meint Saramago, der sich, obwohl bekennender Atheist, Zeit seines Lebens mit der christlichen Geschichte auseinandersetzte. Bereits in „Das Evangelium nach Jesus Christus“ holte er den Himmel auf die Erde und zeigt Jesus als suchenden und sündigen, als „Mensch unter Menschen“. In „Kain“ stellt er erneut das Evangelium in einen religionskritischen Zusammenhang.
Das Buch setzt damit ein, dass „der Herr“ Adam und Eva die bedauerlicherweise im Schöpfungsvorgang vergessene menschliche Sprache in Form einer nachträglich in den Mund gestopften Zunge gibt. Damit jene künftig „mit einiger Sachkenntnis, von ihrer dunklen, labyrinthischen Verwirrung sprechen konnten“. Dies übernimmt dann allerdings ihrer beider Sohn Kain, nachdem er sich seines Bruders Abel, bekanntermaßen durch Auslöschung dessen, entledigt hatte. Als Strafe, oder wie es im Buch dargestellt wird, als Abkommen mit Gott, der eine Teilschuld übernimmt, wird er fortan, mit einem Mal auf der Stirn gezeichnet, auf dem Rücken eines Esels durch die Zeiten irren und einen äußerst kritischen Blick auf die Geschehnisse werfen. Schritt für Schritt komponiert Kain – im Buch als Alter Ego des Autors fungierend – die biblische Geschichte ganz auf seine Art.
In gewohnter Art und Weise, lange Sätze ohne Punkt und Komma sowie fehlender Anführungszeichen innerhalb gesprochener Sequenzen, legt der streitbare Portugiese auch in seinem letzten Werk ein bestechendes Zeugnis für sein Gesamtschaffen ab: eine spannende Handlung, packende Dialoge, Ironie, Tiefe und Subtilität. José Saramago gibt in seiner heiklen, bisweilen an den Grenzen zur Blasphemie schrammenden Geschichte den bekannten Ereignissen immer wieder überraschende, fantasievolle neue Wendungen. Er rüttelt an den Fundamenten unserer Kultur und stellt mit beeindruckender Radikalität Geschichte, Religion und Legende in Frage. So debattiert Kain mit Gott, klagt ihn an und erinnert ihn an seine Pflichten gegenüber denen, die er angeblich erschaffen hat. Seinen Brudermord entschuldigt er damit, dass er eigentlich Gott töten wollte, dies aber nicht möglich war, obwohl er ihn bereits für tot hält. Dann wieder gibt er sich den körperlichen Gelüsten und Versuchungen der verführerischen Lilith hin, um hernach den Begebenheiten in der Wüste Sinai, beim Turmbau zu Babel oder der Vernichtung der Bevölkerung Sodoms beizuwohnen. Letztendlich jedoch immer mit den Ziel sein eigenes Schicksal zu erfüllen.

Saramago alias Kain streut allerorts Zweifel und Misstrauen ein, beschreitet viele „Schritte vor und zurück in der Argumentation“, um „nicht fassbaren Ahnungen und Eingebungen Ausdruck zu verleihen“. Denn letztendlich sind wir ebensolche Eseltreiber wie Kain „und ziehen auf der Landstraße dahin. Wir alle, die Kundigen ebenso wie die Unwissenden.“, meint der Autor. Denn, so Saramago, die Geschichte der Menschheit ist auch gleichzeitig „die Geschichte ihrer Uneinigkeit mit Gott [ist], weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn.“

José Saramago
Kain
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner
Titel der Originalausgabe: Caim
Verlag Hoffmann und Campe, (August 2011)
175 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 345540295X
ISBN-13: 978-3455402957
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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