Unternehmertum statt Armutsfalle: Was wir von Indien lernen können

Schulbesuch Unterricht mit UnternehmerBüchernQuelle: Privat/Joris Hensen

400.000 Schüler in Indien lernen jede Woche unternehmerische Fähigkeiten und Millionen Menschen vor dem Fernseher ebenfalls. Eine Organisation bietet der wachsenden Jugendarbeitslosigkeit die Stirn und schafft Erfahrungen, die auch unser Bildungswesen revolutionieren könnten.

Indien ist bunt, laut, abenteuerlich, überraschend und die meiste Zeit ein wenig von allem. Als ich vor mehr als zehn Jahren das erste Mal nach Indien gereist bin, um mit „Going to School“ zusammenzuarbeiten, eine der innovativsten Non-Profit-Organisationen des Landes, hatte ich kaum Vorstellungen davon, wie das Leben im ländlichen Indien ist. Ich ahnte auch nicht, wie sehr diese Reise mein weiteres Leben prägen würde. Und heute weiß ich: Deutschland kann von Indien lernen – beispielsweise wie man Unternehmertum breitenwirksam fördert und wie Unterricht in einer Pandemie möglich ist.

Zuerst war es nur ein Projekt für soziale Verantwortung in Indien

Mein erster Besuch bei „Going to School“ führte mich aufs Land, wo der Großteil der mehr als 1,3 Milliarden Inder lebt. Die meisten von ihnen sind unter 30 Jahre alt. Indien ist landwirtschaftlich geprägt: Hier kommen einem Ochsenkarren auf der Straße entgegen und kleine Dörfer sind auf sandigen Wegen oft nur schwer erreichbar. Es gibt viele Herausforderungen für die Menschen. Zum einen ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch. Die Schulen vermitteln jungen Menschen nicht genügend Fähigkeiten für gute Chancen am Arbeitsmarkt. Es fehlen vor allem berufsfördernde Grundlagen und ein Grundverständnis von organisatorischen und beruflichen Tätigkeiten. Eine Lücke, die in Deutschland typischerweise von der Berufsausbildung geschlossen wird. Etwas vergleichbares gibt es Indien nicht. Gerade für Frauen ist es schwer, selbstbestimmt in ein Berufsleben zu starten. Zum anderen sind die Lebensbedingungen herausfordernd. Die Stromversorgung ist instabil, auch wenn der Ausbau von Solarenergie erkennbare Verbesserungen bringt. Es gibt eine schlechte Wasserversorgung mit oftmals ungesunder Wasserqualität und mangelnde oder nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen.


Der Schulweg gestaltet sich für die indischen Jugendliche auf dem Land teilweise beschwerlich und dauert sehr lange.

Der Schulweg gestaltet sich für die indischen Jugendliche auf dem Land teilweise beschwerlich und dauert sehr lange.



Der Großteil der Menschen in Indien lebt auf dem Land, oftmals auch in kleinen Dörfern

Die indische Organisation „Going to School“ hat sich zum Ziel gesetzt, diese Probleme zu verbessern. Sie vermittelt unternehmerische Fähigkeiten, bereitet junge Menschen damit auf das Berufsleben vor und erhöht ihre Beschäftigungschancen und Karriereperspektiven auf dem Land. Zudem will sie Rollenklischees durchbrechen und zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen beitragen. 

Deswegen unterstützt „Going to School“ Menschen aus den armen Regionen dabei, ein soziales Unternehmen aufzubauen, das die Umwelt, die Lebensbedingungen oder die Infrastruktur verbessert. Beispielsweise indem ein Recycling-Unternehmen die Müllmenge verringert, oder weil preiswerte Traktor-Reparaturen angeboten oder Setzlinge für Pflanzen ökologisch angebaut werden. Und natürlich auch, weil dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden.


Mageshwari hat mit ihrem Solarlampen Geschäft nicht nur Licht in die Häuser gebracht, sondern ist auch Vorbild für andere Frauen in ihrem Dorf geworden.


In kleinen Prototypen werden auch neue Inhalte ausprobiert. Die Schüler freuen sich und sind lautstark motiviert dabei.

Unterstützt werden diese Unternehmer – und immer gezielter auch Unternehmerinnen – mit Risikokapital und professioneller Begleitung durch ein Mentoringprogramm: Viele Kollegen aus der Deutschen Bank auf der ganzen Welt haben Geschäftspläne mit den jungen Menschen erstellt, geprüft und geholfen, Ideen auszuwählen. 26 Unternehmerinnen hat die Deutsche Bank dabei mit Risikokapital unterstützt.

Unternehmertum und neue Karriereperspektiven in den Schulen

Die mehr als 130 Unternehmer des Programms haben die Blaupause für die zweite Stufe des Models geliefert. Heute lernen 400.000 Schüler an 1.000 Schulen jede Woche Fähigkeiten, um selbstbestimmt in ihr Berufsleben zu starten. Im Mittelpunkt stehen dabei Bücher, die auf den Erfahrungen und den Geschichten der sozialen Gründer beruhen und wichtige Fähigkeiten vermitteln: Wie erstellt man einen Geschäftsplan, wie macht man Marketing, was ist Zeitmanagement und wie wichtig sind Netzwerke?

Das Buch „Land des Honig“ vermittelt den Jugendlichen, was Marketing ist und wird in einem praktischen Projekt mit lokalem Imkern auch direkt in die Praxis umgesetzt.

Anhand der Bücher setzen die Jugendlichen in eigenen Projekten Geschäftsideen um und lernen nebenbei wichtige Fähigkeiten, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt enorm verbessern. Das Programm ist durch die Zusammenarbeit mit den indischen Bildungsministerien bereits in zwei Bundesstaaten fest im Lehrplan verankert. Der Einsatz der Bücher in den Schulen folgt einem genauen Plan und Anleitungen. Vor dem Einsatz in einer Schule werden die Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit dem Programm geschult.

Mit Schul-TV kann der Unterricht auch während Corona weitergehen

Die dritte Stufe des Modells zahlt sich gerade während der Corona-Krise aus. Um die Geschichten von Unternehmern auch außerhalb der Schule zugänglich zu machen und um das Umfeld der jungen Menschen für das Thema zu sensibilisieren, wurde ein TV-Format geschaffen. In zwölf kurzweiligen Folgen konnten die Zuschauer jeden Sonntag junge TV-Reporter verfolgen, die auf den Straßen unterwegs waren. Ihr Ziel: Auf die Probleme des Landes aufmerksam machen und Unternehmer in den Mittelpunkt stellen, die diese Probleme kreativ und mit unternehmerischen Fertigkeiten begegnen. Es gibt nicht viele Gelegenheiten wie diese, einem Millionenpublikum in Indien näherzubringen, was Unternehmertum ist – wofür es auf Hindi kein Wort gibt.


Während Kinder in Deutschland nach den Sommerferien wieder in die Schulen gehen, bleiben die Kinder in Indien zuhause, weil die Schulen geschlossen sind. Dort haben sie oft keinen Computer, kein Smartphone und keinen Internetzugang. An digitalem Unterricht können gerade die Kinder auf dem Land deswegen häufig nicht teilnehmen.

Fernsehgeräte sind jedoch weit verbreitet. Deswegen hat „Going to School“ auf der Basis des vorhandenen TV-Konzepts nun Schulunterricht per Fernseher auf die Beine gestellt. Dabei hat die Organisation mit den lokalen Regierungen einzelner Bundestaaten zusammengearbeitet. Auf einem staatlichen Fernsehsender läuft nun jeden Morgen Schulunterricht. Auch dabei werden die erwähnten Bücher eingesetzt und unternehmerische Fähigkeiten nun im Fernsehen vermittelt. Bereits in den ersten Tagen waren 345.000 Schüler vor den Fernsehgeräten dabei. So kann es nun also mit dem Lehrplan im TV weitergehen, bis die Schulen wieder öffnen. 

Das Programm trägt Früchte, auch über Indien hinaus

In dieser herausfordernden Situation zeigt sich wieder, warum ich so gerne mit unserem Projektpartner in Indien arbeite. Denn was auf den ersten Blick chaotisch wirkt, ist vor allem ein kreativer und unbürokratischer Pragmatismus, durch den in kürzester Zeit sinnvolle Lösungen entstehen.  Und die Grafiker und Designer dort haben ein wirklich gutes Händchen, Inhalte spielerisch und schön zu vermitteln. Die Begeisterung der Schüler, die an dem Programm teilnehmen, spricht Bände.

Ich habe in den vergangenen Jahren sowohl viele freiwillige Helfer und Unterstützer von „Going to School“ kennengelernt, als auch viele der Unternehmer und Schüler, die an dem Programmen teilnehmen. Ihre Begeisterung ist jedes Jahr aufs Neue Ansporn und Motivation dafür, die Organisation beim weiteren Wachstum zu unterstützen und ihre Konzepte auch in andere Länder zu bringen. Aus der treuen Partnerschaft der Deutschen Bank mit „Going to School“ hat sich inzwischen ein Förderverein entwickelt: Mit Karmaheld unterstützen Kollegen aus der Bank und aus anderen Firmen die Organisation auf ihrem weiteren Weg.

Über die Besuche auf dem indischen Land und insbesondere bei den Unternehmern habe ich selbst viel gelernt. Über ihre Geschäftsmodelle, die Herausforderungen gerade von den Unternehmerinnen, und an welchen Dingen Ideen scheitern. Ich habe begeisterte Unternehmer getroffen, die gegen alle Widrigkeiten immer wieder ihre Ideen angepasst haben. Am schönsten ist es jedoch, über die Jahre Unternehmer immer wieder zu treffen und hautnah dabei zu sein, wie ihre Ideen nachhaltig wachsen und sie ein unglaubliches Selbstvertrauen aufbauen. So sagte mir eine Gründerin, sie sei zum Vorbild für andere Frauen im Dorf geworden.

Es ist immer wieder ein Erlebnis, die Schulen zu besuchen und mit den Schülern zu reden, die an dem Programm teilnehmen. Viele von ihnen hören zum ersten Mal, wie es in Deutschland und Europa so ist und werden nicht müde, interessierte Fragen zu stellen.

Diese Erlebnisse, die kreativen Formate und die wachsende Zahl an Jugendlichen, die damit erreicht werden, lassen mich positiv in die Zukunft blicken und ich bin sicher, dass noch viele gute Perspektiven für die jungen Menschen in Indien geschaffen werden. Und wer weiß, vielleicht liefert das auch Ideen für das eine oder andere neue Format in unseren Schulen.

Über Joris Hensen

Joris Hensen

Joris Hensen ist verantwortlich für die Entwicklung des API-Programms der Deutschen Bank, welches er Anfang 2015 mitbegründet hat. Damit ermöglicht er, dass gemeinsam mit Partnern neue datenbasierte und innovative Produkte für Kunden entwickelt werden können.

In seiner mehr als fünfzehnjährigen Tätigkeit bei der Deutschen Bank war er in verschiedenen internationalen Projekten als Projekt- und Innovationsmanager tätig.

2010 reiste er das erste Mal nach Indien und setzt sich seitdem ehrenamtlich dafür ein, der Jugendarbeitslosigkeit in Indien die Stirn zu bieten. Dafür hat er gemeinsam mit Kollegen und Freunden die Organisation Karmaheld gegründet, die gemeinsam mit indischen Partnern durch Bildung und Schul-TV neue Karriereperspektiven für Jugendliche schafft.

Deutsche Bank unterstützt die indische Hilfsorganisation „Going to School“

Ziel des gesellschaftlichen Engagements der Deutschen Bank ist es, Menschen und die Wirtschaft vor Ort zu stärken. Die Projekte werden strategisch in drei Handlungsfeldern gebündelt: Bildung, Unternehmertum sowie Menschen und Gemeinschaften. Die Born to Be-Jugendprojekte helfen Kindern und Jugendlichen, ihr Potenzial zu entfalten und den Zugang zu Bildungsangeboten zu erleichtern. Mit dem Made for Good-Programm werden Sozialunternehmer bei der Umsetzung ihrer Geschäftsideen unterstützt. Außerdem fördert die Deutsche Bank lokale gemeinnützige Initiativen und schafft so bessere Lebens-und Arbeitsbedingungen für benachteiligte Menschen

Seit 2010 hat die hat die Deutsche Bank in der Going to School Initiative in Indien 26 Jungunternehmer finanziell unterstützt. Darüber hinaus haben Mitarbeiter der Deutschen Bank das Projekt und die Unternehmer vor Ort und virtuell beraten und Ihre Expertise eingebracht.  Im vergangenen Jahr haben sich insgesamt 25 Prozent der Belegschaft ehrenamtlich in unserem Plus You-Netzwerk mit fast 220.000 Stunden für solche soziale Projekte engagiert.

Um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, wurde von Anfang an auf eine langfristige Partnerschaften gesetzt. Die Partnerschaft mit „Going to School“ existiert seit zehn Jahren und war von Anfang ist darauf ausgerichtet, das Wachstum der Organisation nachhaltig zu unterstützen.

Fotos:

Quelle: Privat/Joris Hensen

Verlinkungen:

Intro Schul-TV https://youtu.be/pSAsfqXG9hY

Download Buch https://www.karmaheld.de/wp-content/uploads/2020/07/Land-of-Love-Honey.pdf

Karmaheld www.karmaheld.de