Europa in der Tradition Habsburgs? Zur Rezeption Kaiser Karls V. im 20. Jahrhundert

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In Chemnitz ist eine interessante Dissertation zur Prägung Europas durch die Habsburger entstanden. Besonders spannend ist, wie relevant die Bezüge sind, die sich vom Ausgang des Mittelalters bis in die Jetztzeit erstrecken. Der renommierte Würzburg Historiker Matthias Stickler rezensiert.

Markus Pohl, Europa in der Tradition Habsburgs? Die Rezeption Kaiser Karls V. im Umfeld der Abendländischen Bewegung und der Paneuropa-Union, Chemnitzer Europastudien, Band 23, Berlin 2020. 189 S., 17 farbige Abbildungen, 79,90 €.

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine 2020 von der Philochsophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz angenommene, von Frank-Lothar Kroll und Michael Gehler (Universität Hildesheim) betreute geschichtswissenschaftliche Dissertation. Markus Pohl geht es in seiner vom sehr renommierten Verlag Duncker & Humblot verlegten Studie nicht um den, wenn man so will, historischen Kaiser Karl V. (1500-1558), sondern um dessen Instrumentalisierung als geschichtspolitische Chiffre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Abendländische Bewegung und die Paneuropa-Union. Gleichzeitig leistet Pohl aber auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der 1922 von Richard Coudenhove-Kalergi (1894-1972) gegründeten Paneuropa-Union und zum politischen Wirken des letzten Kornprinzen von Österreich-Ungarn und CSU-Europapolitikers Otto von Habsburg (1912-2011), der von 1973 bis 2004 der zweite Vorsitzende der Paneuropa-Union war.

Quellenfundierte Arbeiten zu diesen Themen gibt es bisher nicht, weil das Archiv der Paneuropa-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg als Kriegsbeute nach Moskau gebracht wurde und der Nachlass Otto von Habsburgs der Forschung bis heute nicht zur Verfügung steht. Einschlägige Studien sind insofern Mangelware. Nennen kann man hier insbesondere das 2005 erschienene Buch „Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970)“ von Vanessa Conze. Pohl hat sich von dieser schwierigen Quellenlage nicht entmutigen lassen und sich bei seiner Dissertation zum einen vor allem auf gedruckte Quellen gestützt, zum andern fokussierte er seine Fragestellung auf die Karl-V.-Rezeption Otto von Habsburgs und bezog hierfür die Schriften weiterer Persönlichkeiten aus den paneuropäischen Kreisen um Otto von Habsburg mit ein: Konkret handelt es sich hierbei um den belgischen Historiker Charles Terlinden (1878-1972), den Schweizer Diplomaten und Privatgelehrten Carl Jacob Burckhardt (1891-1974), die deutsch-böhmische Schriftstellerin Gertrude von Schwarzenfeld (1906-2000, eigentlich Gertrude Cochrane de Alencar, geb. Schreitter von Schwarzenfeld). Berücksichtigung finden ferner die Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939) und Reinhold Schneider (1903-1958), konkret deren Erinnerungen an die Habsburgermonarchie im Umkreis Otto von Habsburgs sowie die von 1946 bis 1958 existierende Zeitschrift „Neues Abendland“, in der Otto von Habsburg und andere Repräsentanten der Abendländischen Bewegung publizierten. Diese Persönlichkeiten einte nach 1945 das Ziel, auf christlich-konservativer, im Kern römisch-katholischer Grundlage, die Einigung Europas voranzutreiben, wofür ihnen Kaiser Karl V. gleichsam als geeignete Leitfigur erschien.

Die Abendländische Bewegung und die Paneuropa-Union kennzeichnete in der Bundesrepublik von Anfang an eine enge Wahlverwandtschaft mit CDU und CSU. Deshalb, und verstärkt noch dadurch, dass sich Otto von Habsburg seit den späten 1970er Jahren für die CSU europapolitisch betätigte, hatten seine diesbezüglichen Vorstellungen auch tatsächliche politische Relevanz. Vor diesem Hintergrund verwundert es eigentlich nicht, dass es ihm und seinen Mitstreitern nicht gelang, für ihre geschichtspolitischen Überzeugungen die Unterstützung bei akademischen Experten der Kaiser-Karl-V.-Forschung zu erhalten. Ausgewiesene Fachhistoriker wie Peter Rassow, Reiner Wohlfeil, Horst Rabe und Alfred Kohler lehnten eine gleichsam tagespolitische Vereinnahmung des Kaisers ab und kritisierten in diesem Zusammenhang vor allem konfessionelle Engführungen dergestalt, dass Karl zum Vorkämpfer eines letztlich katholischen Europas stilisiert werde, was quer stehe zu den realen Verhältnissen im Europa der (damaligen) Gegenwart. Auch Pohl ist skeptisch gegenüber derartigen Konstruktionen, nüchtern stellt er fest, dass die Erneuerung Europas im christlichen Geist heute als gescheiterte Idee angesehen werden müsse (S. 145). Andererseits konstatiert er aber, dass Karl V. sehr wohl eine Art europäischen Erinnerungsort – ein Konzept der Erinnerungskultur, das von dem französischen Historiker Pierre Nora seit den 1980er Jahren entwickelt wurde – geworden sei. Pohl bezieht sich hierbei vor allem auf die Frühneuzeithistoriker Heinz Schilling und Johannes Burkhardt, die allerdings die Konfessionspolitik Karls V. und damit die Vorstellung von einer gleichsam christlich-katholischen Europaidee ebenfalls als nicht traditionsfähig erachteten (S. 147).

Zu den Stärken von Pohls Buch gehört, dass er blinde Flecken im Selbstverständnis Otto von Habsburgs und seines Umfelds deutlich benennt, etwa deren Affinität zu antikommunistischen, sich christlich-abendländisch gerierenden autoritären Systemen, wie etwa im damaligen Spanien oder in Portugal. Bemerkenswert ist, dass Pohl abschließend davon spricht, dass auch Otto von Habsburg in seinem Tod und seiner spektakulären, staatsbegräbnisähnlichen Beisetzung in der Kapuzinergruft ebenfalls zum europäischen Erinnerungsort geworden sei (S. 154). Das werden die immer noch vorhandenen Gegner dieses bedeutenden modernen Habsburgers sicher bestreiten, aber man wird dieser These, die durch eine quellenfundierte Biographie selbstverständlich noch zu untermauern wäre, ihre Berechtigung kaum absprechen können. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Markus Pohl ein sehr lesenswertes, wichtiges Buch vorgelegt hat, dem weite Verbreitung zu wünschen ist.

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Über Matthias Stickler 1 Artikel
Prof. Dr. Matthias Stickler ist seit 2010 apl. Professor an der Universität Würzburg für Neuere und Neueste Geschichte. Davor lehrte er an den Universitäten Bonn und Mainz. 2003 habilitierte er sich in Würzburg mit einer Arbeit über die Vertriebenenverbände in der frühen Bundesrepublik. Stickler wurde 1967 in Aschaffenburg geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.