Angela Merkel und die Schatztruhe der Demokratie. Ein Identitätsproblem

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Der 22. September 2013 markiert einen Paradigmenwechsel in der Binnensicht der Bundesrepublik, dessen Auswirkungen uns noch sehr lange beschäftigen werden.

Was geschah an diesem Tag? Die Union fuhr mit Angela Merkel mit 41,7 Prozent einen fulminanten Wahlsieg ein und war völlig berechtigt außer Rand und Band. Auch ich, damals noch Sozialdemokrat mit Parteibuch, war zufrieden. An einer so starken Union war für die SPD schwer vorbeizukommen und Rot-Rot-Grün auf Bundesebene vorerst passe.

Die gesamte Union war an dem Abend aus dem Häuschen und einer schien es besonders zu sein. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe verband den Unions-Sieg mit der Nationalflagge – was für Merkels Vorgänger im Amt der Bundeskanzler bis dato selbstverständlich war. Zur Deutschen Einheit 1990 kam es mit mehrheitlichem Volkswillen in den Farben Schwarz-Rot-Gold – den Farben der Freiheitskriege 1813-1815, des ›Hambacher Festes‹ 1832, den Farben der 1848er März-Revolution und der Frankfurter Nationalversammlung, der ›Weimarer Republik‹, der Bundesrepublik von 1949.

Keinen Platz fand die Fahne von Freiheit und Demokratie im ›Norddeutschen Bund‹ und im Kaiserreich, verboten war sie im Dritten Reich, verfremdet mit den Insignien des Sozialismus Hammer, Sichel, Ährenkranz in der DDR.

Eine oft gequälte, verfremdete, verleugnete Fahne. Weggerissen, beinahe weggeworfen durch eine/n demokratisch vereidigte/n Kanzler/in wurde sie noch nie. Ein solcher Umgang mit diesem Symbol blieb bis dato den dunklen Gestalten der deutschen Geschichte vorbehalten.

1989 standen die Ostdeutschen gegen die sozialistische Diktatur und für eine Republik ohne ideologisch einengendes Attribut auf – mit dem Ergebnis der alten und neuen demokratischen Nationalflagge ohne die aufgedrückten Insignien der sozialistischen Macht auf den drei Farbstreifen Schwarz, Rot und Gold.

Die Freiheit hatte die Ostdeutschen mit der Flagge des Hambacher Festes, der 1848er Nationalversammlung, und der Weimarer Republik 1989 wieder! Eine glückliche Zeit. Eine Zeit, die die Deutsche Einheit in Freiheit und Demokratie – in den Farben der Demokratie – 1990 möglich werden ließ.

Ob Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl oder Schröder, sie alle machten Wahlkampf mit dem Grundgesetz im Kopf und in den Farben der Republik. Selbst die Bundeskanzlerin Merkel machte bis zu diesem Erfolg keinen öffentlichen Eindruck des Fremdelns mit den Farben der deutschen Demokratie.

Aber: Am Wahlabend 2013 fiel die Maske. Angela Merkel entriss dem stolz fahnenwedelnden Hermann Gröhe erbost die Nationalflagge. Sie wollte mit dem Wahlsieg im Rücken an diesem Abend ein anderes Signal. Ein Signal an die ›Deutschland-Du-mieses-Stück-Scheiße‹-Grünen. ›Schwarz-Rot-Gold‹ passte da überhaupt nicht zum Thema.

Ob Angela Merkel kein positives inneres Verhältnis zur deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte hat und sie deshalb berechneten Herzens das Symbol deutscher Freiheit und Demokratie vom Podium verbannte oder ob sie es schweren Herzens tat, das wissen wir nicht.

Was sie anrichtete, das jedoch wissen wir inzwischen sehr gut. Frau Merkel warf das wertvolle Symbol unserer Demokratie der AfD vor die Füße. Negativ symbolträchtiger und verheerender verhielt sich keiner ihrer Vorgänger. Vertrauensverlust in die Institutionen dieser Republik und fremdeln mit den eigenen Farben sind Teil ein- und derselben Medaille: der Medaille des Abrutschens dieser Republik.

Angela Merkel als Bundeskanzlerin ist die oberste moralische Entwerterin des Grundgesetzstaates. Dies ist mein Land, dafür ging ich mit Hunderttausenden auf die Straße. Den Hunderttausenden wurden Freiheit und Demokratie nicht geschenkt. Bei Angela Merkel bin ich mir da nicht so sicher. Meine Bundeskanzlerin ist sie jedenfalls nicht. Nicht nur deshalb.

Die ›Neue Ostpolitik‹ der bundesdeutschen Regierung Brandt/Scheel führte in der DDR zu großer emotionaler Unbehaglichkeit. Die eigene Nationalhymne mit ihrem Aufruf ›Deutschland, einig Vaterland‹ stand für zu viel Nähe der ›antagonistischen‹ deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR. Von Stund an durfte die eigene Hymne nicht mehr gesungen werden (https://www.zeitzeugenbuero.de/fileadmin/zzp/pdf/Klinkenberg_Peter_Das_Lied_das_nicht_gesungen_werden_durfte_2019_neu.pdf). Anders herum: Wer die DDR-Nationalhymne sang, war auf kafkaeske Weise ein Gegner.

Was ist nun 2020 mit dem öffentlichen Zeigen der bundesdeutschen Nationalflagge? Von Wissen frei zu sein scheinende Journalisten wittern spätestens seit Merkels Schwarz-Rot-Gold-Fremdschämens dort Staatsfeinde, wo die Nationalflagge ohne Erlaubnis von oben öffentlich auftaucht. Kafka ein Zeitreisender?

Der Widerspruch ist eklatant. Ist das Reichstagsgebäude mit seiner obligatorischen Beflaggung von Rechten okkupiert? Ist dem Staat ›Schwarz-Rot-Gold‹ erlaubt, dem Bürger nicht? Ist die staatsbürgerliche Identifikation mit ›Schwarz-Rot-Gold‹ gleich zu setzen der Rechtsaußen-Identifikation mit ›Schwarz-Weiß-Rot‹, den Farben von Monarchie und nationalsozialistischer Diktatur?

Wer ist hier eigentlich ein Fall für den Psychiater? Die Nationalflaggenschämer oder die Nationalflaggenzeiger? Wer hat den Weg zu dieser psychiatrisch behandlungswürdigen Situation geebnet? Frau Merkel oder die AfD? Richtig, die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland war es, die diese Straße für die AfD öffnete. Statt den Grünen zu signalisieren, eine Koalition gebe es nur mit dem Grundgesetz und in den Farben der Republik, machte sie ihnen ein demokratietheoretisch und historisch verkorkstes Brautgeschenk. Und die folgsame Union wehrte sich nicht, ließ den Fahnenjunker Gröhe belämmert im Regen stehen.

Wer die Nation und deren demokratische Insignien anderen überlässt, sollte sich wenigstens des Wunderns über die Ergebnisse halbwegs stilvoll enthalten. Es gibt nicht wenige Beobachter, die sich den Bauch vor Lachen nicht halten können.

Eine böse Frage: Identifiziert sich Angela Merkel mit dem Grundgesetz und seinen Farben stärker oder tut das die AfD? Mir scheint, hier liegen Identitätsprobleme im Kanzleramt und auf der Straße. Vielleicht stehen Frau Merkel und die AfD sogar nur für ein- und dasselbe Phänomen? So wie Ursache und Folge?

Nachtrag zu Frau Merkels Auftritt und des Fahnenjunkers Abtritt:
Den Videoausschnitt finde ich nicht mehr bei den Öffentlich-Rechtlichen Anstalten, nur noch in Foren der von Frau selbstgeschaffenen Merkel-Gegner. Das Suchen kann ich den Lesern nicht ersparen. Man google mit den Begriffen ›Merkel‹, ›Gröhe‹, ›Nationalflagge‹.

Quelle: Globkult