Brief aus dem DDR-Zuchhaus

gefängnis gefängniszelle kriminalität gefangener, Quelle: Ichigo121212, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Hier ein Kassiber,

den mein Haftkamerad Uwe Erdmann 1975 herausgeschmuggelt hatte. Er war als Krimineller in Cottbus, der aber zu uns Politischen hielt, weil er zuvor schon einmal aus politischen Gründen von der Armee aus im Militär-gefängnis Schwedt einsaß. Er wurde in seine Heimatstadt Rostock entlassen und fuhr über Ost-Berlin, wo er halt machte, um den Liedermacher Wolf Biermann aufzusuchen und ihm folgenden schnell und heimlich während der Arbeitszeit in der Sprela-Brigade geschriebenen Brief, im Knastjargon als Kassiber bekannt, übergab. Ich hatte Uwe vorsichtshalber auch die Adresse von dem Dichter Volker Braun mitgegeben, falls er Biermann nicht an-treffen sollte. Da Biermanns Wohnung am späten Nachmittag fast immer mit Freunden und Gästen gut gefüllt war, fand er eine Menge Leute vor, denen er dann auch unser Cottbus-Lied nach der Melodie der „Moorsoldaten“ vorsang. In dem Kassiber war alles klein geschrieben, was hier der besseren Lesbarkeit wegen an die gültige Rechtschreibung angepasst, aber ansonsten nicht verändert wurde:

Faustus kämpft nur der heiligen Sache, der Menschenrecht willen, sendet mit diesem Evangelium seinen Bruder und Leidensgefährten Uwe Erdmann nach Berlin, zu Wolf bzw. zu Volker.

Seid gegrüßt!

Ich bitte Euch, Uwe alle mögliche Unterstützung zu gewähren. Er war hier im Cottbuser Zuchthaus unser Brigadier, und er kann Euch seine Geschichte selbst erzählen. Seine Lebensgeschichte interessiert mich selbst sehr, sowohl rein als Mensch als auch als Literat. Könnt Ihr seine Story, die er sehr originell zu er-zählen weiß, für mich zur späteren Auswertung konservieren?

Oder könnt Ihr sie selbst so verwerten, dass auch Uwe damit geholfen werden kann? Sein Ziel ist, nach der BRD zu kommen. Darüber hinaus meine ich, dass seine biblische Geschichte es wert ist, der Öffentlichkeit bekannt gemacht zu werden.

Uwe kommt mit ein paar Pfennigen in Berlin an, und er weiß nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Für mich will ich um gar nichts weiter bitten, wenn ihr ihm nur effektiv helfen könntet. Wie wäre es mit einem Interview im ZDF? Wir erfuhren nämlich, dass auf diesem Programm im Dezember 74 eine Sen-dung über unser schönes Zuchthaus Cottbus ausgestrahlt wurde.

Ach, wenn Ihr wüsstet, was hier los ist! Ich möchte nicht klagen, aber ich sage ehrlich, dass ich alles nur überstehen kann, wenn ich weiterhin aktive Widerstandsarbeit leiste. Uwe kann ja Einzelheiten berichten. Der Haken ist nur, dass es mir Haftverschärfung oder sogar Nachschlag einbringen kann. Ich hoffe und baue auf Eure Hilfe. Bedenkt, dass diese feigen u. unsauberen MfS-Diktatoren nichts mehr fürchten als das Licht der Öffentlichkeit. Warum geht Ihr nicht in die Offensive über?

Warum lasst Ihr nicht alles, was Ihr von mir habt, veröffentlichen? Denn darauf kann man mich aufgrund des gleichen Paragrafen nicht noch einmal verdonnern. Ich möchte auch, dass alle Unterlagen, die dem Gericht als Beweismittel dienten, an die Menschenrechtskommission der UNO übergeben werden. Oder was meint Ihr?

Verzeiht mir, dass ich keine Möglichkeiten mehr sehe, diesem Land von diesem Land aus weiter zu dienen. Ich habe jede Achtung, jeden Respekt vor dieser DDR verloren. Mit der weiteren Ausmalung meiner Ekelgefühle und Rachegedanken möchte ich Euch hier verschonen.

Bitte sucht ab und zu mal die Verbindung zu meinem Weib. Das hilft ihr sehr, wenn sie merkt, dass sie nicht allein steht. Oh, Leute, ich möchte lieber in einem KZ Chiles schmachten! Wenn wir so vergleichen, was wir so der Zeitung entnehmen können u. was wir selbst erleben bzw. erdulden müssen, dann könnte man wegen diesem realen Sozialismus glattweg den Verstand verlieren. Noch! habe ich ihn.

Ich grüße Euch herzlichst! Euer Bruder Faustus

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Über Siegmar Faust 46 Artikel
Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.