Buchbesprechung zu Jacek Dehnel – „Aber mit unseren Toten“

Ein Zombie-Roman aus der polnischen Literatur - Jacek Dehnel

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Nach Europa – ja, aber nur mit unseren Toten – so lautet die wörtliche Übersetzung des Romans aus der Feder des 1980 in Gdansk/Danzig geborenen Schriftstellers, der in der polnischen Literaturszene seit über zwanzig Jahren mit seinen zahlreichen Gedichtbänden und seinem dritten Roman die besondere Aufmerksamkeit der polnischen Literaturkritiker und seiner zahlreichen Leser/innen erregt. Zweifellos hat Jacek Dehnel mit dem 2019 im Krakauer Verlag Wydawnictwo Literackie erschienenen Roman ein besonders schmerzlich-brisantes Thema der polnischen Geschichte aufgegriffen und mit dessen satirischer Umsetzung ein breites Spektrum an religiösen, nationalistischen, emotionalen, literaturkritischen und sachbezogenen Reaktionen hervorgerufen. Bereits der Vorspann zum Präludium des Romans könnte die Aufmerksamkeit des Lesers erregen. Drei bedeutsame Vertreter der polnischen Literaturgeschichte signalisieren den geistesgeschichtlichen Hintergrund für eine spannungsgeladene, religiös aufgeladene, satirisch-sarkastische Story. Es sind drei Zitate, die auf spezifische Merkmale der polnischen Religionsgeschichte aufmerksam machen. Maria Janions 2020 erschienener polemischer Essay-Band über die besondere Funktionen des Opfertodes in der polnischen Geschichte, der Auszug aus dem Drama Pater Marek von Julian Słowacki (1809-1849), in dem das Auferstehungsmotiv ein für den vorliegenden Roman wegweisend ist. Außerdem ein Auszug aus Jarosław Rymkiewicz‘ Essay Juliusz Słowacki fragt nach der Uhrzeit, in dem der Menschheitsstatus ein bestimmtes Merkmal für das Polentum aufweist. Es ist eine „vorletzte Stufe auf der Leiter, die zum Engelsein führt.“ So eingestimmt und alarmiert setzt die Romanhandlung ein.

Sie besteht aus zwei grundlegenden musikalischen Motiveinheiten (Präludium und Fuge), 15 Kapiteln sowie einem knappen Nachwort des Autors. Als Einstieg in die Handlung dient eine Krakauer Wohnhaus-Atmosphäre, die von Personen ganz unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft gebildet wird. Sie stellen gleichsam den sozialen Querschnitt der polnischen Gegenwartsgesellschaft dar und widerspiegeln in ihren Handlungsaspekten den markanten Unterschied zwischen Mietern und Eigentümern. Unter den Mietern befindet sich auch das schwule Paar Tomek und Kuba, die in der Romanhandlung die tragenden Rollen übernehmen. Kuba ist Journalist beim Fernsehen, Tomek schreibt an einer Doktorarbeit. Noch bevor Kuba den mysteriösen Leichnam auf einem Friedhof in Cikovice bei Krakau einordnen kann, passieren in dem Miethaus zwei grausame Morde: Dorota und Kenneth liegen blutverschmiert und zerrissen in ihrer Wohnung. Auch die alarmierte Polizei ahnt noch nicht, dass … Stattdessen häufen sich die Vermutungen und Gerüchte: tschetschenische Banden, illegale Abtreibungen, ein Perverser, der seine Konkubine abgeschlachtet hat. Erst ein Investigativjournalist verbreitet unter der Hand eine neue unheimliche Botschaft: „zu neunzig Prozent waren es Zombies.“ In der Zwischenzeit verdichten sich Gerüchte, dass „die Zombies grundsätzlich keine Landsleute bissen, ausgenommen natürlich den ein oder anderen polnischen Staatsbürger, der ihnen nicht polnisch genug vorkam.“ Andererseits seien in den Großstädten „die meisten polnischen Farbigen verschwunden“. Eine höchst alarmierende Lage also! Auch das Fernsehen sendet Eilmeldungen mit verwackelten Bildern, auf denen behäbige Zombies sich auf die polnische Staatsgrenzen zubewegen und sogar Bahnschranken an der Linie Rostock – Frankfurt an der Oder durchbrachen, nicht aber eine Grenzschranke, wie fälschlicherweise mit dem Hinweis auf den Überfall der Deutschen auf Polen im September 1939 bereits verbreitet wurde. Nein, diese Heerscharen stummer, gewalttätiger Zombies lösten andere Ängste aus. Doch die NATO musste nicht alarmiert werden, denn wie es in offiziellen Verlautbarungen hieß, die polnische Regierung „betrachtet die gegenwärtige Situation als Problem im Grenzbereich zwischen illegaler Migration und Metaphysik.“

Auch im Alltag von Tomek und Kuba häuften sich merkwürdige Erlebnisse. Im Fernsehen waren Bilder von Zombies zu sehen, begleitet von Berichten darüber, dass endlich wieder Polen im Kreml fast vierhundert Jahre nach ihrer Vertreibung zu sehen waren. In einem anderen Kanal marschierte eine Gruppe von Zombies in eine postsowjetische Betonstadt. Und das war der Gipfel! „… in einem schlecht geschnittenen Video saß Piłsudski auf Putins Schreibtisch und verspeiste genussvoll Klumpen von dessen Gehirn… Gleich darauf riss ein Jagiełło in Tannenberg-Rüstung die Bundeskanzlerin in Stücke.“ (S. 209) Dass es sich bei den beiden genannten Persönlichkeiten um bedeutende Figuren aus der polnischen Geschichte handelt, zeugte von den allgemeinen Zustand nicht nur in Warschau, sondern überall im sich polonisierenden Zombie-Land. Davon waren auch die Bewohner des Miethauses tief betroffen. Tomek arbeitete aus Furcht vor neuen Zombies hinter doppelt verriegelten Türen, ging nicht mehr in die Uni und fürchtete die Zomboisierung der Wissenschaft, zumal sich auch das Fernsehen bereits diesem Trend angeschlossen hatte. „Die Deutschen sind Polen, die Italiener sind Polen, die Amerikaner sind Polen … „ Oder auch: „In alten Zeiten, als die Welt noch Gottes Gesetz folgte, waren alle Menschen auf Erden Polen…“ Höchste Zeit für Kuba und Tomek und Ela, die engste Freundin der beiden, mit einem Dienstwagen der Fernsehanstalt zu fliehen. Vollgepackt mit vielen nützlichen Dingen und Proviant, der leider nicht ausreichend ist, reihen sie sich in den endlosen Strom der Flüchtenden ein, der sich in Richtung Tschenstochau quälend langsam bewegt. Bereits die erste Zwangspause an einer Imbissbude zeigt die Auswirkung der Massenflucht: geplünderte Ladentheken und leer gefegte Regale. Die zweite Pause ist durch einen Motorschaden verursacht, der zur ersten körperlichen Auseinandersetzung mit den Zombies führt, den die tapferen Verteidiger mit Wagenheber und sonstigen wuchtigen Werkzeugen ausgestattet noch für sich entscheiden. Auch dann, als sich weitere Freunde der Flucht anschließen. Und die endet im Kloster Sanktuarium Blut Christi mitten in Jasna Góra, eine der heiligsten Stätten der polnischen katholischen Kirche. Dort verteidigen sich die Flüchtlinge mit letzter Kraft vor dem Ansturm der Zombies. Und der hat fatale Auswirkungen:“ Die Zombies kamen aus allen Richtungen. Über die Alleen, über Parallel- und Querstraßen, aus Raków, … Es waren unüberschaubare Massen, die sich wie eine zähe Flüssigkeit ergossen, ausschwärmten wie Insekten, die sich in jede Ritze zwängen können ….“ Und diese Zombie-Armee rückte immer näher an das Kloster heran. Mitten in diesem Gemenge aus schmutzig-weißen Knochen lag Prior Kordecki, Prior des Klosters, und Kommandant der Verteidigung der heiligen Stätte während der schwedischen Belagerung im Jahre 1655, wie aufmerksame Leser/innen im Glossar auf Seite 318 nachlesen können.

Es spricht für den feinsinnigen Sarkasmus des Autors, dass er mit den seit Jahrzehnten in der Weltliteratur thematisierten Mitteln der Zombie-Figur einen Roman geschrieben hat, ohne dem Cliché der sogenannten Untoten zu verfallen. Seine Untoten steigen aus ihren Gräbern, hinterlassen  abschreckende Visionen, geraten in einen Strudel des Unbewussten und beleben zugleich mit ihren religiös motivierten und überlieferten Legenden einen christlichen Zeitgeist, der sich national-überbordender Legenden bedient. Damit liefert er einer aufgeklärten christlichen polnischen Gesellschaft nicht nur zeitgemäße Werkzeuge zur Entlarvung nationalistischer  Auferstehungslegenden, sondern leistet, wenn auch als Satire umgesetzt, einen bedeutenden Beitrag zur Bewusstwerdung polnischer Identität. Dieser Intention angepasst ist die temporale Struktur der Handlungsabläufe. Ein auktorialer Erzähler bedient sich konsequent einer Vergangenheitsform, um die dramatischen Handlungsabläufe von den dialogischen Gesprächsformen der Akteure abzusetzen. Diese beinahe stereotype Erzählweise könnte zu einer Ermüdung des Lesenden führen, wenn ihm nicht die folgerichtige, spannungsgeladene Handlung immer wieder neue Impulse verleihen würde. Jacek Dehnel hat mit seinem Roman einen scharfsinnigen Beitrag zur Deutung polnischer katholischer Legenden geliefert. Doch der vielfach mit angesehenen polnischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor ebnet sich auch mit seiner Übersetzung des berühmten Jahrhundert-Romans „The Great Gatsby“ von Scott Fitzgerald den Zugang zur amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Von seinen sonstigen Talenten ganz zu schweigen.

Jacek Dehnel. Aber mit unseren Toten. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann und Renate Schmidgall. Berlin (edition.fotoTAPETA) 2022. 319 S., 25.- EURO, ISBN  978-3-949262-10-4.