Buchtipp: Gerd Fesser, „Thüringen – das verschwundene Land. Streiflichter zur thüringischen Geschichte

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Gerd Fesser, „Thüringen – das >verschwundene< Land. Streiflichter zur thüringischen Geschichte von 1775 bis 1920, Jena, Quedlinburg 2022, Verlag Bussert & Stadeler, ISBN 978-3-942115-54-4, Euro 19,90

Davon wünscht sich das vom Fernsehen dominierte Publikum (2021 durchschnittlich 213 Min. täglich) mehr: eine in 18 überschaubare Kapitel gegliederte, auch einzeln gut lesbare, reich bebilderte und höchst kompetente Darstellung der jüngeren Geschichte Thüringens auf nur 184 Seiten. Zutreffend bemerkt der Autor – Gerd Fesser war 1993-1996 am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig und ist durch zahlreiche Publikationen über die wilhelminische Kaiserzeit und die Freiheitskriege hervorgetreten – im Vorwort, dass zwischen 1775 und 1920 in der Region Thüringen wichtige Ereignisse stattfanden und bedeutende Persönlichkeiten wirkten, obwohl keines der Territorien in diesem Zeitraum den Namen „Thüringen“ führte.

Der Bogen ist weit gespannt und beinhaltet vor allem Biographien (Großherzog Carl-August von Sachsen-Weimar und Eisenach und seine Beziehungen zu Goethe, Großherzogin Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar und Eisenach, Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, Ernst  Abbe und Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach), Themen aus der Geschichte der Burschenschaft (die Jenaer Urburschenschaft, das Wartburgfest von 1817) sowie die Geschichte des Landes prägende historische Ereignisse (u. a. die Schlachten bei Jena und Auerstedt, der Erfurter Fürstenkongress 1808, Thüringen im Krieg von 1866, die Parteigründung in Eisenach 1869, Bismarcks Rede auf dem Jenaer Marktplatz 1892 und die Tagung der Nationalversammlung in Weimar 6. Februar 1919-21. Mai 1920 mit der Verabschiedung der der jungen Republik ihren Namen gebenden „Weimarer Verfassung“ am 31. Juli 1919).

Zu Fessers Ausführungen über die Jenaer Urburschenschaft (S. 51 ff.) wäre nachzutragen, dass deren ursprünglicher Wahlspruch (aus der Vandalenverfasssung) bis 1818 „Dem Biedern Ehre und Achtung“ lautete. Unter den Gründern befand sich auch der Dichtersohn Ernst von Schiller, „ein begeisterter Anhänger der burschenschaftlichen Gedanken“ (Herman Haupt), der deshalb um Ostern 1815 aus der Landsmannschaft Saxonia ausgeschlossen wurde. Die erste schmucklose rot-schwarze Fahne der Jenaischen Fahne befindet sich heute im Besitz der Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller in Jena. Die prächtigere, zum Wartburgfest 1817 mitgeführte rot-schwarz-rote Fahne mit dem „goldenen“ Eichenlaub in der Mitte (Vorbild für die deutschen Nationalfarben) befindet sich heute als gemeinsame Leihgabe der drei Traditionsburschenschaften Arminia auf dem Burgkeller, Germania und Teutonia im Stadtmuseum Jena. Eine vergrößerte Kopie schmückt heute den Festsaal der Wartburg. Goethe nahm 1817/18 auf seinen Dienstreisen mehrfach Quartier auf der „Grünen Tanne“, wo er prominente Besucher empfing, Gedichte verfasste und wetterkundliche Beobachtungen niederschrieb.

Anders als in anderen Darstellungen erwähnt Fesser zutreffend, dass auf dem Wartburgfest von 1817 (S. 59 ff.) keine Bücherverbrennung stattfand. Außerhalb des offiziellen Programms kam es am Abend des 18. Oktobers auf dem nahen Wartenberg zu der berüchtigten von Jahn-Jüngern veranstalteten sogenannten „Bücherverbrennung“ (in Wirklichkeit wurden entsprechend gekennzeichnete Makulaturballen verbrannt; Bücher wären für die Studenten viel zu teuer gewesen), auf der u. a. die „Germanomanie“ des jüdischen Schriftstellers Saul Ascher verbrannt wurde – entgegen verbreiten Darstellungen nicht weil er Jude war, sondern weil er sich erdreistete, über die deutschtümelnden Jahn-Jünger zu spotten. Wenn einer der Studenten dabei rief „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judenthum und wollen über unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen“ dann ist das allenfalls ein Beleg für den Antisemitismus einiger verirrter jugendlicher Jahn-Anhänger, aber nicht für den Antisemitismus der Urburschenschaft. Im übrigen weist der Autor zutreffend darauf  hin (S. 68), dass die „Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktober [1817]“ teilweise wörtlich in die Frankfurter Nationalversammlung von 1848, die Weimarer Verfassung von 1919 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 Eingang gefunden haben.

Zum Kapitel „Bismarcks Rede in Jena 1892“ (S. 129 ff.) wäre ein Zitat des Reichskanzlers zu ergänzen. Als diesem auf einer anschließenden Kutschfahrt durch Jena vor dem Burgkeller ein Pokal mit Bier gereicht wurde, dankte er mit den Worten: „Ich trinke Ihnen gerne zu, doch nicht aus. Ich wünsche der Burschenschaft ein fröhliches Gedeihen. Sie hat eine Vorahnung gehabt, doch zu früh. Schließlich haben Sie doch Recht bekommen! Prosit meine Herren!“

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Über Peter Kaupp 2 Artikel
Dr. phil. Peter Kaupp, 1936 in Barcelona geboren, war nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Mainz zunächst ab 1964 in der Wiesbadener Redaktion der Brockhaus Enzyklopädie, ab 1966 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Mainz, ab 1967 im Statistischen Bundesamt Wiesbaden (Öffentlichkeitsarbeit) und zuletzt 1981-2001 Prof. an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung (Abt. Post- und Fernmeldewesen) in Dieburg. Er ist Mitglied der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung, der deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde und der Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte sowie Co-Autor und Mitherausgeber des „Biographischen Lexikons der Deutschen Burschenschaft“ (9 Bde., 1996-2018). Umfangreiche publizistische Tätigkeit, zuletzt „Auf den Spuren von Mohren, Mauren und Kammertürken. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zur aktuellen Rassismusdebatte, in: Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kultur und Bildung e. V., Bd. 45 2022), S. 153-180. Nähere biographische Einzelheiten und Bibliographie s. Wikipedia.