Der kulturelle Genozid am Beispiel Tibets

Im Genozid werden Menschen auf Grund von Eigenarten, sei es Nationalität, sei es Religion, sei es Sprache oder sei es Hautfarbe ermordet. Im kulturellen Genozid werden diese Menschen nicht umgebracht, sondern dazu gebracht, ihre Eigenheiten abzulegen. Dies geschieht durch Zwang, freiwillig oder historisch-natürlich.
Das Paradebeispiel des durch Zwangsmaßnahmen erreichten kulturellen Genozids gilt die christliche Missionierung der indigenen Bevölkerung Schwarz-Afrikas und Südamerikas. Durch den christlichen Glauben verlor die ursprüngliche Bevölkerung nicht nur ihren alten Gauben, sondern zusätzlich an die Umgebung angepasste Verhaltensweisen, die ihnen das Überleben ermöglichten, zumindest erleichterten. Die ursprünglichen Sprachen verloren an Einfluss, obwohl es die Missionare waren, die die Sprachen der Einheimischen akribisch dokumentierten. Das Ergebnis des kulturellen Genozids ist in Lateinamerika und in Afrika offensichtlich. Die Indios Südamerikas sind benachteiligte Bürger im eigenen Land. Die Nachfolger der von Geburt an christlichen Kolonisatoren haben bis heute das Sagen. Langsam, sehr langsam erhalten die Indios einen Teil der politischen Macht, die ihnen demokratisch zusteht. Der alte Glaube traut sich aus dem Schatten der katholischen Kirche hervor, überladen mit zwischenzeitlich aufoktroyierten christlichen Attributen.
In Afrika haben „weiße“ Schwarze die Rolle der Kolonisatoren übernommen. Zusätzlich verloren die Einheimischen ihre kulturelle Identität durch die islamische Mission, die den kulturellen Genozid durch Massaker und durch Deportationen nach Nordamerika einen bis heute verheerenden Nachdruck verlieh.
Der freiwillige kulturelle Genozid stellt sich in der Immigration dar. Menschenmassen verlassen ihre alte Heimat, weil sie in der neuen Heimat ihr Heil erhoffen. Gerne geben sie ihre alten Gewohnheiten auf, die sie stören auf dem Weg, sich dem Lebensstandard der neuen Heimat anzupassen. Paradebeispiele sind die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, früher auch Südafrika, alles Länder mit angelsächsischer Tradition.
Doch nicht alle Einwanderer geben ihre kulturelle Identität auf, verüben freiwillig den kulturellen Genozid. Ein Teil der Türken, die sich in Deutschland nicht der neuen Umgebung anpassen wollen oder können, fühlen sich diskriminiert. Die sie umgebende indigene Gesellschaft versteht nicht ihre Motivation. Ab einer bestimmten Größe der Bevölkerung mit anderem kulturellen Hintergrund sind politische Veränderungen unausweichlich.
Der historisch-natürliche kulturelle Genozid wird im Übergang vom Lateinischen zum Italienischen deutlich. Kulturelle Veränderungen finden überall auf diesen Planeten mit wechselnden Geschwindigkeiten statt. Deshalb wird diese Art des kulturellen Genozids nicht als kultureller Genozid angesehen, sondern als Teil der menschlichen Evolution.
Der Versuch, die Kultur anzuhalten, mündet in einem Fiasko. Doch vorher müssen die Menschen unter den Kultur bewahrenden Fundamentalisten leiden.
Die verschiedenen Schattierungen des kulturellen Genozids haben dazu geführt, dass dieser Genozid selten negative Assoziationen hervorruft. Kaum ein Moslem und kaum ein gläubiger Christ werden die Segnungen ihrer Missionierung für die Missionierten in Frage stellen. Auch die Nachkommen der Missionierten selbst haben heute nichts dagegen, missioniert worden zu sein. Die kulturell-genozidale Mission in Afrika war so erfolgreich, das ein Zurück zu den Wurzeln nicht möglich erscheint.
Wie kann man denn erklären, dass der kulturelle Genozid in seiner Schlechtigkeit gleich dem offiziellen Genozid folgt? Dass beide Formen des Genozids Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind?
Abstrakt lässt es sich erklären. Wer den kulturellen Genozid akzeptiert, muss jeden kulturellen Niedergang in Kauf nehmen. Er legt somit keinen Wert auf den Erhalt jeglicher Kultur und jeglicher Zivilisation. Die Folgen dieses Denkens sind für die Menschheit verheerend, auch für ihn. Somit haben alle, die gegen den eigenen kulturellen Niedergang sind, das Recht, ja die Pflicht, den Verkünder dieser Thesen zur Verantwortung zu ziehen. Die Umsetzung der Verantwortung ist vom Grad des Verfalls der Zivilisation abhängig. Wer also den kulturellen Genozid akzeptiert, wird auch seinem eigenen kulturellen Ende nicht entkommen.
An einem konkreten literarischen Beispiel wird das Verbrechen des kulturellen Genozids aufgezeigt. Hierzu dient ein ausführlicher Bericht von Colin Goldner über Tibet, der in der iz3w Nr. 307 – Juli / August 2008 erschienen ist. Colin Goldner verteidigt in vielen öffentlichen Veranstaltungen den kulturellen Genozid. Er ist Beiratsmitglied der atheistischen Giordano Bruno Stiftung, Klinischer Psychologe, Sachbuchautor und Okkultismusexperte.
Der Titel des Artikels lautet:
Propagandainstrument Menschenrecht – Tibets feudalistisches Erbe.
Die Zeitschrift iz3w wird von der Aktion Dritte Welt in Freiburg herausgegeben. Sie beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie und Kultur zwischen Nord und Süd. Unter http://www.iz3w.org/ ist der Artikel nachzulesen.
Colin Goldner bemerkt, dass das alte Tibet keineswegs die friedvolle und harmonische Gesellschaft war, die der Dalai Lama und seine westlichen Anhänger ständig beschwören. Für die große Masse der Bevölkerung bedeutete das Leben jene Hölle auf Erden, die zu beenden die chinesische Volksbefreiungsarmee als revolutionäre Verpflichtung und legitimen Grund für den Einmarsch von 1950 ansah.
Die Zustände in Tibet vor dem Einmarsch der chinesischen Armee, genannt Volksbefreiungsarmee, waren unerträglich für die einfache Bevölkerung. Und zwar unerträglicher, als die Zustände in China für die dortige Bevölkerung. Somit war die maoistisch-kommunistische chinesische Armee revolutionär-moralisch verpflichtet, in Tibet einzumarschieren, um das höllische Leben der Tibeter zu beenden.
Kommt das bekannt vor? Der Einmarsch der USA und der NATO in den Irak und in Afghanistan wurde genau so begründet. Irgendwie zu Recht. Doch im Gegensatz zu den Chinesen haben weder die US-Amerikaner, noch die Europäer die Absicht, den Irak oder Afghanistan auf Ewig zu besetzen und die Einwohner zu naturalisieren. Was die ausländischen Truppen immer dort vorhaben mögen – sicher keinen kulturellen Genozid.
Colin Goldner schreibt, dass der Einmarsch der Truppen Maos in Tibet von 1950 mithin in diesem geschichtlich hergeleiteten Selbstverständnis der Volksrepublik China begründet ist. Aus der Sicht Pekings galt und gilt Tibet seit je und spätestens seit 1720 als untrennbarer Bestandteil des chinesischen Territoriums, was bis heute von der gesamten Staatengemeinschaft widerspruchslos akzeptiert wird: Völkerbund bzw. UNO haben sich der Frage tibetischer Souveränität zwischen 1913 und 1951 zu keinem Zeitpunkt angenommen.
Der Einmarsch der Truppen Hitlers in das Sudetenland gründet mithin in diesem geschichtlich hergeleiteten Selbstverständnis Nazideutschlands. Chamberlain hat es widerspruchslos akzeptiert. Erst nachdem Hitlerdeutschland den Weltkrieg verloren hatte, wurde der Vertrag, den Neville Chamberlain mit Adolf Hitler geschlossen hatte, als von Anfang an als ungültig erachtet.
Ob Völkerbund bzw. UNO die Souveränität eines Landes anerkennen oder nicht, ist eine machtpolitische, niemals eine ethische oder moralische Frage.
In der Resolution vom 15. Dezember 1992 stellte die EU fest, dass das tibetische Volk ein Volk im Sinne des Völkerrechts ist und ihm das Recht auf Selbstbestimmung zustehe. Weiterhin verurteilte es die militärische Besetzung Tibets durch chinesische Truppen.
Colin Goldner erwähnt, dass die Volksbefreiungsarmee von größten Teilen der Bevölkerung hochwillkommen geheißen wurde, die für sie die Befreiung aus Leibeigenschaft, Schuldverknechtung und Sklaverei bedeutete. Widerstand gegen die Chinesen gab es nur seitens der herrschenden Klasse, die ihres Grundbesitzes und ihrer Privilegien enthoben wurde.
Es ist das Los jedes Besatzers, dass er lediglich anfänglich hochwillkommen geheißen wird. Sogar die SS wurde anfangs von den Ukrainern gefeiert, nachdem sie die Rote Armee vertrieben hatte. Auch in der Ukraine gab es Widerstand von der vormals herrschenden Klasse, den Kommunisten.
Colin Goldner behauptet, dass entgegen dem Anschein, den die internationale Tibet-Unterstützerszene zu erwecken sucht, die Kulturrevolution keineswegs nur in Minderheitenregionen wie Tibet wütete, vielmehr kam es in ganz China zu unverzeihlichen Exzessen.
Entgegen dem Anschein, den die internationale Juden-Unterstützerszene zu erwecken sucht, wüteten die Nazis keineswegs nur gegen Juden, vielmehr kam es in ganz Polen zu unverzeihlichen Exzessen. – Bitte mehrmals und langsam lesen. Hat dieser Satz einen Sinn?
Der Autor bemerkt, dass insbesondere die wiederkehrend vorgebrachte Behauptung, Peking beabsichtige über die systematische Sinisierung Tibets das tibetische Volk »als eigenständige Rasse« zu vernichten, jeder Grundlage entbehrt. Von einer Überflutung des Landes durch Han-Chinesen kann keine Rede sein.
Die Schätzungen der tibetischen Exilregierung ergeben folgende Zahlen. Im Hochland von Tibet leben heute 6 Millionen Tibeter und ca. 7,5 Millionen Chinesen; in allen Städten Tibets sind heute Han-Chinesen bereits in der Mehrheit.
Die Regierung in Peking weist andere Zahlen auf: Bei 2,5 Millionen Einwohnern stellen die Tibeter 85% der Bevölkerung. Honi soit qui mal y pense.
Der Autor schreibt, dass seit Anfang der 1960er enorme Anstrengungen unternommen wurden, die tibetische Sprache, die als solche unter dem Regime der Lamas gar nicht existierte, zu einer tatsächlichen Volkssprache fortzuentwickeln.
Soll man daraus schließen, dass die Amerikaner verpflichtet sind, den Afghanen das lateinische Alphabet aufzuzwingen, zumindest das Paschtunische zurück zu drängen.
Der Autor erwähnt, dass keine der tibetischen Sprachformen sich für den Schulunterricht eignete, zumal jeder naturwissenschaftliche Begriff (aus Mathematik, Biologie, Physik usw.) fehlte.
Eine schöne Rechtfertigung für das offizielle Indonesien, wie es seinerzeit und immer noch mit den unislamischen Wilden auf entlegenen Inseln verfährt.
Der Autor behauptet, dass in Tibet der Unterricht von der Grundschule bis zur Universität völlig kostenfrei ist.
Ein Liberaler würde die Kostenfreiheit mit der Armut der Tibeter begründen.
Colin Goldner bemerkt, dass die Volksrepublik China kein Rechtsstaat und von demokratischen Verhältnissen Lichtjahre entfernt ist. Niemand bestreitet, dass es teils massive Menschenrechtsverletzungen gibt – von Einschränkungen des Rechtes auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Pressefreiheit hin zu undurchsichtigen Gerichtsverfahren, unverhältnismäßig langen Haft- und häufig verhängten Todesstrafen. Niemand bestreitet, dass auch die Tibet-Politik Pekings erheblicher Verbesserungen bedarf.
Und was schließen wir aus den Aussagen eines kulturellen Genozidleugners?
China hat Tibet annektiert. China ist eine Weltmacht und kein lauter Protest ist zu hören. China ist derart mächtig und selbstbewusst, dass es sich nicht durch westliche Unkenrufe aus der Ruhe bringen lässt. Tibet braucht keine Souveränität!
Welches Interesse können europäische Wissenschaftler und Okkultismusexperten daran haben, Tibet die Souveränität abzusprechen? Finanzielle? Kaum! Die Chinesen bezahlen keine Langnasen. Neid? Welcher Mitteleuropäer beneidet die Tibeter? Hass? Warum sollte ein Mitteleuropäer die tiefreligiösen Tibeter hassen? Etwa weil er ein überzeugter Atheist ist?
Unvorstellbar für einen Buddhisten.
Und ein weiterer erlaubter Schluss: Hitler durfte Osteuropa überfallen. Er hätte nur den Krieg gewinnen müssen.
Zum Trost ein historisches Schicksal: Große Reiche gehen zugrunde. Rom, die Sowjetunion, China. Auf ihrem Boden entstehen viele kleinere souveräne Staaten.
Noch ist Tibet nicht verloren.

Über Nathan Warszawski 535 Artikel
Dr. Nathan Warszawski (geboren 1953) studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie in Würzburg. Er arbeitet als Onkologe (Strahlentherapeut), gelegentlicher Schriftsteller und ehrenamtlicher jüdischer Vorsitzender der Christlich-Jüdischen Gesellschaft zu Aachen.

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