Der Respekt vor staatlichen Institutionen geriet „außer Mode“?

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Beleidigungen wie „Stück Scheiße“ oder „Drecksau“ werden vom Landgericht Berlin nicht als persönliche Schmähung, sondern als zulässige Sachkritik eingestuft. SUPER! Dann sollten sich die bundesdeutschen Richterinnen und Richter schnell darauf einstellen, bald – mit landgerichtlicher Äußerungs-Erlaubnis als – „Stück Scheiße „oder „Drecksau“ kritisieren lassen zu müssen. Ein Sachbezug wird sich immer finden lassen. Ob dann die Gerichte bald Ihre Prozesse in Stallungen durchführen und statt in Robe im schmutz-abweisenden Overall erscheinen, um das räumlich Ambiente dem stinkenden Denk- und Sprachniveau besser anzupassen? Da stellt sich die Frage, ob die  Richter den Verfassungs-Auftrag: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ verdrängt haben oder außer Kraft setzen wollten?

Wie ist dieser rüde Umgangsstil zu erklären? 

Respekt scheint jedenfalls für zuviele Zeitgenossen zum Fremdwort geworden zu sein. Ob gegenüber staatlichen Einrichtungen, öffentlichen Funktionsträger, mehr oder weniger in der Öffentlichkeit stehenden Personen oder dem Eigentum Anderer. Ein wertschätzender Umgang bleibt so auf der Strecke. Da hilft auch kein Fremdschämen. Viele ältere Menschen sehnen die „gute alte Zeit“ herbei, in der Höflichkeit und Achtung noch selbstverständlich war. Wie ist dieser rüde Umgangsstil zu erklären? War früher alles besser?

Nun, wer zurück blickt, wird sicher einige Anhaltpunkte dafür finden. Aber unter kritischen Vorzeichen ist darauf hinzuweisen, dass vor ca. 70 Jahren auch noch der Rohrstock bei unerwünschtem Verhalten eingesetzt wurde. Ob Lehrkräfte oder Eltern, damit verschafften sich die Handelnden jedoch keinen echten Respekt, sondern sie verbreiteten Furcht. Allerdings hatten die Menschen zu dieser Zeit mehr Respekt vor Lehrern, dem Polizisten, den Eltern, generell den Erwachsenen. Und es gab auch noch einen breiten Konsens grundlegender Anstands-Regeln. Aber in der Folge der 68er-Studenten-Revolte, welche beispielsweise mit Rufen: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ in die Öffentlichkeit drang, geriet alles Bisherige so auf den Prüfstand, dass zuviel Wichtiges dabei überrannt oder bekämpft wurde. In der Folgezeit mussten sich staatliche Institutionen dagegen verwahren, nicht ständig attackiert oder lächerlich gemacht zu werden. Das hat eine breite Respektlosigkeit ausgelöst. So wurden auch Höflichkeitsregeln oder andere wichtige, das soziale Miteinander fördernde Verhaltensweisen über Bord geworfen. „Respektiere nur dich selbst“ wurde zum Leitmotiv eines sich stark ausbreitenden Individualismus. Ob in Kitas, Schulen, Ausbildungs-Einrichtungen, im Berufsleben oder im öffentlichen Bereich, immer häufiger stoßen wir auf das Phänomen eines gravierenden Respekt-Mangels.

Der Respekt vor staatlichen Institutionen geriet „außer Mode“?

Der Staat wurden nur dann akzeptiert und genutzt, wenn es um das Durchsetzen eigener Vorteile ging – zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Anspruch auf Sozialleistungen oder nach Straftaten auf einen Pflichtverteidiger. So wurden Gerichte zu Schaubühnen provokanten Widerstandes, Richter, Polizisten und Soldaten wurden lächerlich gemacht oder angegriffen, Leistungsträger diffamiert oder ermordet. Aus dem Bundeskanzler wurde Herr X, aus Uni-Professoren wurden Herr oder Frau Y, Polizisten wurden als Bullen und Soldaten als Mörder tituliert. Autoritäten wurden bekämpft beziehungsweise außer Funktion zu setzen versucht.  So brachten die Umbrüche der 68ziger Studentenbewegung unter positivem Vorzeichen zum Beispiel eine deutliche Zäsur zur braunen Vergangenheit, die dringend notwendig war. Aber durch das Aushebeln und Bekämpfen wichtiger Umgangsregel und die Diffamierung so genannter Sekundärtugenden wurde ein durch Wertschätzung und Verantwortung geprägtes soziales Miteinander massiv torpediert. Das zeigte auch in der Kindererziehung Wirkung. Eine Folge war und ist, dass Eltern, viele Lehrkräfte und andere Erwachsene sich dem Zeitgeist-Diktat unterwarfen und Vieles daransetzten, nicht mehr als Respektperson wahrgenommen zu werden. Lehrkräfte ließen sich duzen, Väter und Mütter biederten sich ihren Kindern als Kumpeln oder Freundin an. Konsequentes Verhalten wurde gescheut und auf Konflikte oder wichtige Positionsverdeutlichungen mit Wegknicken reagiert. Dieses atypische Verhalten der eigentlich erwachsen sein sollenden Generation gegenüber der Jüngeren löste einerseits einen breiten Infantilisierungs-Prozess aus und öffnete andererseits der Respektlosigkeit Tür und Tor. 

Der Schrei nach einem kollektiven „Ich-Ich-Ich“

Die häufig vorgenommen Zuschreibung der so genannten Millennials als „Generation Ich-Ich-Ich“ verdeutlicht, sofern sie zutrifft, dass die Eltern und Älteren diese Wesensmerkmale in diese hinein gelegt und gefördert haben müssen. Schließlich entwickelt sich eine starke Ich-Bezogenheit bzw. ein exzessiver Narzissmus keinesfalls aus dem Nichts! Insofern scheinen viele Zeitgenossen – mehr oder weniger – vom Virus der Ich-Bezogenheit infiziert.

Ichbezogenen Menschen konzentrieren sich ständig darauf, ihr brüchiges Selbstwertgefühl zu kompensieren. Ob durch eine Konzentration auf den Eigennutz, eine starke Überschätzung eigener Fähigkeiten oder einer kritiklose Überzeugung der persönlichen Großartigkeit. So wird ein zwar unrealistisches, aber sehr konfliktträchtiges Selbstbild verfestigt. Die Phantasien drehen sich um Macht, Einfluss, Glanz oder Schönheit und einen möglichst leichten Super-Erfolg.

Eine häufig genutzte Strategie der schnellen ‚Ich-Aufwertung’ wird in Abwertungs-, Bekämpfungs- oder Zerstörungs-Handlungen gesucht Dieses Verhalten äußert sich im Ignorieren von Ämtern, Funktionen, erbrachten Leistungen oder dem Eigentum Anderer. So soll durch gezielte Respekt-Verweigerungen im Schnellverfahren das eigene schwache Selbstwertgefühl gepuscht werden. Konkret: Ein instabiles Ich plustert sich auf, um so optisch an Größe zu gewinnen. Fällt das Umfeld auf diese Ich-Inszenierung herein, wird der Boden dafür bereitet, dass demonstrativ Macht ausgeübt und untertäniger Respekt eingefordert wird.

Bei Gegenwind oder deutlichen Stoppmarkierungen werden viele verbale Attacken oder sprachliche Entgleisungen mit dem Recht der freien Meinungsäußerung zu legitimieren gesucht. Aber was hat ein Konglomerat aus Häme, Schwachsinn, Falschbehauptungen oder verbalen Angriffen mit dem im Grundgesetz zugestanden Recht der freien Meinungsäußerung zu gemeinsam? Denn bei solchen Selbstrechtfertigungs-Versuchen wird meist ausgeblendet, dass alle in der Folge von Artikel 1 aufgeführten Rechte dem Grundrecht der Unantastbarkeit der Menschen-Würde ungeordnet sind.

Aufgewachsen in Treibhäusern der Respektlosigkeit

Basis eines respektvollen Verhaltens ist eine angemessene Selbsteinschätzung, konkret: Sich nicht als Mittelpunkt der Welt, sondern als Teil einer Solidargemeinschaft zu sehen. Damit ist verbunden, dem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld aktiv Respekt entgegen zu bringen. Somit sind Kinder und Jugendliche zur Wertschätzung vor dem Sein anderer Lebewesen, Sachgütern oder tragender Institutionen zu erziehen. Damit ist aber unabdingbar verbunden, Kindern und Jugendlichen ebenfalls in angemessner Weise Respekt und Wertschätzung entgegen zu bringen. Viele im bürgerlichen Spektrum agierenden Vereine und Gruppierungen sind hier als kraftvolle positive Bewegung zu sehen, weil so anständiges Verhalten und höfliche Umgangsformen gelebt und eingefordert werden. Wenn jedoch Gutes zur Beliebigkeit verkommt und Negatives ohne Konsequenz bleibt, dann wird die Respektlosigkeit zur Verhaltensnorm. Jedes Hinwegsehen über Rücksichtslosigkeiten oder Gewalt im Alltag, ob es sich dabei um lautstarke Telefonate in der Öffentlichkeit, rüdes Verhalten, um Sachbeschädigungen durch ‚Graffiti-Chaoten’ oder willkürliches Zerstören handelt: Wer über respektloses Verhalten hinweg sieht, verstärkt den Vorgang. Die subtile Botschaft aus dem Umfeld lautet dann: ‚Jeder macht halt seins. Es gibt keine verbindlichen Regeln.’ Das ist auch ein Nährboden für die um sich greifende Randale-Lust, ob nun Frauen, älteren oder gehandicapten Menschen angepöbelt oder öffentliche Gebäuden oder fremde Sachgüter attackiert werden. Immer zeigen die Täter null Respekt vor der Würde oder dem  Eigentum Anderer. Im Moment der Zerstörung fühlen sie sich machtvoll. Eine Folge des Aufwachsens in Treibhäusern der Respektlosigkeit.

Zwei Alltags-Beispiel: Ein dreijähriger Junge tritt seinem Vater beim Abholen vom Kindergarten vors Schienbein. Doch der reagiert nicht und sagt der kritisch beobachtenden Erzieherin nur: „Der meint das nicht so…“  Eine Mutter wird innerhalb einer Rüge wegen mangelhaft erbrachter Hausaufgaben von ihrer 10jährigen Tochter wie folgt angegangen. „Von dir alten Fotze lasse mir nichts mehr sagen!“ Die Reaktion der  Mutter mir gegenüber: „Sie war halt sauer und weiß sicher gar nicht, was sie da gesagt hat.“  Hier ein besonders eklatantes Beispiel von fehlendem Respekt in der Öffentlichkeit: Da fordert ein Busfahrer einen circa Zwölfjährigen auf, für eine gehbehinderte alte Frau Platz zu machen. Doch dieser reagiert mit: „Für so ein Friedhofsgemüse stehe ich doch nicht auf!“ Dank der konsequenten Reaktion des Busfahrers erhielt der Schüler ein deutliches Stopp im doppelten Sinne. Der Fahrer hielt auf offener Strecke an und wies den Zwölfjährigen mit den Worten aus dem Bus: „Ein solch ungebührliches Verhalten ist ein klarer Verstoß gegen die Beförderungsbedingungen!“

Respekt als Basis der (Über)-Lebensfähigkeit einer Gesellschaft

Respektlosigkeit führt letztlich zu einer Erosion der grundlegenden Voraussetzungen eines friedlichen Zusammenwirkens. Der österreichische Professor Robert Pfaller äußerte dazu in der taz: „Demokratie beruht auf dem Prinzip, dass alle sich um das kümmern, was alle angeht.“ Dieser Dienst am Gemeinwohl benötigt starke Persönlichkeiten, welche auch Entscheidungen, die den eigenen Wünschen widersprechen können, aktiv mittragen. Basis einer solchen Grundhaltung ist, nicht, ständig auf eigene Vorteile fixiert zu sein. Statt dessen scheinen wir immer mehr auf eine Welt zuzusteuern, in der Eigennutz bzw. Partikularinteressen vor das Gemeinwohl gesetzt werden. Dies führt weg von einer demokratisch verfassten Gesellschaft hin zu politischen Strukturen wie Oligarchie, einer Wiedergeburt des Feudalismus und letztlich zum Totalitarismus.

Ohne Respekt – ob gegenüber staatlichen oder sonstigen Institutionen, Lebewesen, Sachgütern oder der Leistung anderer Menschen – ist kein friedvolles bzw. solidarischen Miteinander möglich. Demnach unterminiert jede Form von Respektlosigkeit die Menschwürde und die Stabilität einer Gesellschaft. Wenn jedoch innerhalb eines rigorosen Individualismus die Respekt-Verweigerung zum Mainstream mutiert, weil sich immer mehr Zeitgenossen an dem orientieren, was ihrem kranken Ego entspricht bzw. ihnen gezielt Vorteile verschafft, dann wird damit die Basis jeder Demokratie zerstört.

Es gibt einen Hoffnungsschimmer: Bezogen auf die landgerichtlich rechtfertigten verbalen Angriffe können jüngere Menschen dennoch gegen manche Äußerungen gerichtlich vorgehen. Denn wenn beispielsweise eine 25jährige als „alte Fotze“ beschimpft wird, müsste wenigsten ein fehlender „Sachbezug“ nachweisbar sein.

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Über Albert Wunsch 13 Artikel
Albert Wunsch ist promovierte Erziehungswissenschafter und Psychologe, Supervisor (DGSv), Konfliktcoach, Erziehungs- und Paarberater (DGSF). Seit über 10 Jahren ist er an der Hochschule für Oeconomie und Management (FOM) in Neuss und Düsseldorf tätig. Vorher leitete er ca. 25 Jahr das Katholische Jugendamt in Neuss und lehrte anschließend für 8 Jahr hauptamtlich an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen (KatHo) in Köln. Daneben hatte er über 30 Jahren einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät der Uni sowie der FH Düsseldorf und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Die Verwöhnungsfalle, Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsentwicklung oder Boxenstopp für Paare.