Die herrschenden Eliten und die Politikverdrossenheit

Bereits im Jahr 1992 ging es um – das Gespenst der Politikverdrossenheit. Und die Gesellschaft für deutsche Sprache hatte es damals zum Wort des Jahres gekürt. Auch achtzehn Jahre danach ist es weiterhin ein geflügeltes Wort, steht es doch exemplarisch und nach wie vor für die Frustration der kleinen Leute, die enttäuscht von der Politik sind, die sich aber vor allem aus dem Herrschaftsdiskurs ausgegrenzt wissen, und die sich im Gegenzug mehr direkte Demokratie in der Republik wünschen.
2002, zehn Jahre später, hatte der Historiker Arnulf Baring sein „Bürger auf die Barrikaden!“ gefordert und zugleich diagnostiziert, daß hilflose Politiker das Land verrotten lassen würden.
Und auch heute steht es um die selbsternannten Eliten, die sich mit dem Begriff der Leitkultur in den letzten Jahren so schwer getan haben, nicht besser, wie der ehemalige Ministerpräsident Günther Beckstein resigniert feststellte. „Ich bedaure, dass der Chor dürftig geworden ist. Wir sollten den Begriff Leitkultur häufiger verwenden. Unser Ziel muss sein, diese Leitkultur zu erhalten und gleichzeitig Respekt vor anderen Kulturen zu haben.“ Im Blick dabei hatte er die derzeitige und verzweifelte Profilsuche der CDU, die über ihren Wertekanon nachdenkt, und eine Kanzlerin, die die konservativen Werte – ob ihrer DDR-Vergangenheit – gar nicht ausreichend würdigen und entfalten kann, weil sie eben anders sozialisiert gewesen ist. Auch die interne Kritik der Leiteliten aus den Reihen der CDU an der Causa Sarrazin empfand Beckstein als befremdlich und erklärte. „Was ich für wichtig halte, ist, dass Sarrazin die Probleme bei der Integration anspricht.“
In einem sind sich die Leitkulturfiguren und Eliteträger in der Bundesrepublik aber mittlerweile einig: Über Leitkultur bestimmen die Eliten selbst, die politischen Eliten und die Feuilletons der großen Tageszeitungen, die in fast jakobinischer Manier ihre unfehlbare Meinung vertreten, und die die unbequemen Denker zu Todfeinden der Demokratie erklären, wobei nur noch fehlt, daß man diesen mit einem absoluten Redeverbot droht. Willkommen in der Französischen Revolution und ihren reaktionären Liberalen.
Schon der damalige Kardinal der Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger hat sich immer wieder gegen die Meinungsverwalter und –diktatur vehement gewehrt, und dies wurde ihm jahrelang nicht verziehen, von der Regensburger Rede als Papst ganz zu schweigen, denn hier hatte er höchst offiziell die Political Correctness verletzt. Die Empörung kam bemerkenswerterweise immer aus den Reihen der Elite, und dann wundersamerweise auch noch aus den Reihen der christlichen CDU-Spitze, die schon seit Jahren, wie der Publizist Martin Lohmann anmerkte, mit dem C im Namen hadert. Auch im Bundeskanzleramt muß man lernen, daß die Zeiten im FDJ-Hemd leider vorbei sind, daß gerade die Meinungsfreiheit für die vielen Bürger aus dem Osten zu den wesentlichsten Errungenschaften zählen muß, wenngleich sie mittlerweile wenig davon Gebrauch machen.
Und welch Wunder derzeit, die Unbequemen, die die sich dem großen Chor der Angepaßten verweigern, die political-incorrect-Akteure Sarrazin und Steinbach, stehen in der Gunst der kleinen Leute mittlerweile ganz oben, die Dissidenten haben eine ungeheure Mehrheit im Volk hinter sich. Des Volkes Stimme, so geben unabhängig gebliebene Umfragen zu erkennen, hat wahrscheinlich recht – doch die Maschinerie funktioniert, Rücktritt und SPD-Ausschluß für Sarrazin, ein Bundespräsident, der durch Sarrazin gleich mit unter Druck gerät, gleichwohl das Volk eben ganz anders denkt. Was, so ließe sich fragen, ist los mit der Elite im Land?
Schon Vilfredo Pareto (1848-1923), der Ingenieur, Ökonom und Soziologe, der nicht nur als Begründer der Wohlfahrtsökonomie gilt, sondern darüber hinaus auch ein Ideologiekritiker par excellence war, hatte vor hundert Jahren intensiv über die Funktion der Eliten nachgedacht und eine dazugehörige Theorie vorgelegt. Unter dem „Kreislauf der Eliten“ verstand Pareto eine zusehende Abschottung der Aristokratie (oder auch der politischen Eliten), die sich ab einem gewissen Zeitpunkt dem Zufluß an Elitequalität planmäßig verweigert und allmählich geistig verkümmert, zumindest nur noch in ewiggleichen Parametern denkt.
Wenngleich die Vorstellung des Soziologen von einem dynamischen Elitekreislaufs und der damit zusammenhängenden Verdrängung alter Eliten – von ihm stammt der Spruch „Die Geschichte ist der Friedhof der Aristokratien“ – sich bislang nicht in der Geschichte verwirklichte, denn die Eliten blieben auch in der letzten Revolution, der innerdeutschen von 1989, weitestgehend in ihren angestammten Positionen, so zeigt sich doch, daß Pareto dahingehend recht hatte, daß sich parallel zur intellektuellen Verkümmerung der Eliteträger in den unteren Bevölkerungsschichten ein Elitebewußtsein formt, das nach oben drängt, das sich gegen die Meinungsdiktatur auflehnt und an die Macht drängt. Für Pareto war es schließlich die Revolution, die letztendlich zum Austausch der Eliten führt. Dieser Elitenwechsel wurde von ihm immer wieder mit größter Präzision beschrieben, ebenso die Bedingungen dieses evolutionären oder revolutionär-politischen Herrschaftswechsels. Die Elite wird auch in den Revolutionen dabei stets nur von einer „Reserve-Elite“, niemals jedoch von der Masse ersetzt, wenngleich sich die Elite gern auf die diese beruft. Nur schwer wird es, wenn sie ihre Meinungen als des Volkes Stimme verkauft. Denn schon Pareto wußte, daß der Satz „Das Volk herrscht“ eine typische Derivation sei, also eine scheinlogische Erklärung.
Für den politisch-demokratischen Dialog hierzulande darf man hoffen, will sich die derzeitige Elite nicht abschaffen, soll es nicht zum Elitewechsel à la Pareto kommen, daß sie zumindest das Gespräch mit dem Widerpart erträgt und zum wissenschaftlich fundierten Gespräch bereit ist, denn sonst verkommt die Demokratie, deren eines ihrer wesentlichen Elemente ja der kommunikative Diskurs ist. Und darum sind Dissidenten wie Thilo Sarazzin, Wolfgang Clement, Friedrich Merz, Roland Koch und Erika Steinbach für die Gesprächskultur in diesem Land wichtig, es sei denn man wollte den von den Liberalen so geschätzten Jürgen Habermas mit seinem herrschaftsfreiem Diskurs auf den Müll der Geschichte werfen.

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2124 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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