Die Inhalte bestimmen die wechselnden Mehrheiten – Überlegungen zur Entscheidungsfindung im 7. Thüringer Landtag

deutschland fahne flagge bundesland thüringen, Quelle: jorono, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig
deutschland fahne flagge bundesland thüringen, Quelle: jorono, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Über die Zusammenarbeit im Thüringer Landtag hegt das rot-rot-grüne Bündnis für eine Minderheitsregierung eigenartige Vorstellungen. In ihrem Koalitionsvertrag heben LINKE, SPD und Grüne hervor, parlamentarische Kompromisse lediglich mit der CDU und der FDP suchen zu wollen. Die AfD fällt als vermeintlich undemokratischer Mitspieler unter den Tisch.

Die Erwartung, dass Landespolitik sich auf die Aushandlung von Kompromissen zwischen den Koalitionsfraktionen, CDU und FDP beschränkt, ist realitätsfremd. Sie mutet den umworbenen bürgerlichen Parteien zu, ihre Gestaltungsmöglichkeiten freiwillig zu beschneiden. Die beiden umworbenen Fraktionen haben mehrfach hervorgehoben, sich nicht auf eine entsprechend strukturierte Zusammenarbeit mit Rot-Rot-Grün einlassen zu wollen. Die CDU-Landtagsfraktion hat in einem einstimmigen Beschluss vom 14. Januar 2020 vielmehr betont, „alle parlamentarischen Möglichkeiten nutzen“ zu wollen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Die dort angekündigte „Korrektur von Fehlentscheidungen der vergangenen Wahlperiode“ lässt sich kaum ohne Zustimmung von Abgeordneten der AfD umsetzen.

Es zeichnet sich denn auch bereits ab, dass der linke, wie üblich antifaschistisch geadelte Rigorismus sich nicht durchhalten lassen wird. Der geschäftsführende Chef der Staatskanzlei, Benjamin Immanuel Hoff (LINKE), sieht inzwischen kein Problem mehr darin, wenn die AfD rot-rot-grünen Gesetzen zur Mehrheit verhilft, wenn sie anders nicht zu haben ist. So ausgeführt in der MDR-Sendung „Fakt ist“ am 20. Januar 2020. Im parlamentarischen Alltag sieht rot-rot-grün großzügig darüber hinweg, wenn ihr die AfD auch gegen die Stimmen von CDU und FDP Mehrheiten verschafft. Das zeugt von Realismus. Denn der Evergreen, wer mit wem was darf oder nicht wird zunehmend durch die Debatte über politische Inhalte und Ziele verdrängt. Hat der Landtag erst einmal eine Regierung gewählt, werden sich die Gewichte noch schneller verschieben.

Schon nach wenigen Landtagssitzungen zeigt sich: Die Alternativen Rot-Rot-Grün oder Stillstand ist gar keine. Der Landtag wird etwas bewegen und das Land wird sich bewegen, allerdings nur in eine Richtung, die je nach Thema bei einer Mehrheit der 90 Abgeordneten im Parlament mehrheitsfähig ist. Bereits die ersten Sitzungen des Landtags haben Rot-Rot-Grün schmerzlich daran erinnert, dass es keine parlamentarische Mehrheit hat. Weite Teile des ausgehandelten Koalitionsvertrags werden sich als Makulatur erweisen, weil die Koalitionäre noch immer der Illusion anhängen, sie könnten die in der vergangenen Wahlperiode begonnenen gesellschaftlichen Umbauprojekte vorantreiben. Sie werden lernen müssen, dass ihre Lesart von Identitätspolitik, Genderpolitik, Antidiskriminierung oder Demokratisierung eben nicht Allgemeingut sind. „Es gibt keine Mehrheit mehr für politische Projekte aus dem ideologischen Geist dieser Koalition“, hat die CDU-Fraktion in ihrem Beschluss zutreffend festgestellt.

Erste Lektionen lernt auch die CDU. Findet sie sich am Ende des Regierungsbildungsprozesses endgültig auf der Oppositionsbank wieder, muss sie sich mit zwei unangenehmen Tatsachen auseinandersetzen. Die erste: Sie ist dort nicht allein, und jede der drei Oppositionsfraktionen wird versuchen, für sich das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Der Wettbewerb darum, wer sich die politisch ergiebigsten Claims absteckt, ist mit beachtlichem Tempo bereits im vollen Gange. Angesichts der zu rund zwei Dritteln ähnlichen Programme von AfD, CDU und FDP ist das eine ernsthafte Herausforderung. Die zweite: Ein Überbietungswettbewerb, bei dem nicht zuletzt eine rot-rot-grüne Koalition kräftig mitmischt, wie zuletzt die Vorschläge zur Meisterförderung und die Zuschüsse für die Kommunen zeigen.

Die CDU versucht mit einem Vier-Säulen-Modell das Beste aus dieser Situation zu machen. Sie bietet, erstens, die Beteiligung an solchen Vorhaben an, die für das Land wichtig, aus der Natur der Sache jedoch kaum mit politischen Richtungsentscheidungen verbunden und daher in den Grundzügen weitgehend Konsens sind. Sie will, zweitens, möglichst viele Vorhaben aus ihrem Wahlprogramm umsetzen, die profilbildend sind. Bildung, Wirtschaft, innere Sicherheit sind dafür klassische Themenfelder, auf denen erhebliche Differenzen gegenüber Rot-Rot-Grün bestehen. Drittes Ziel ist die parlamentarische Vereitelung von Vorhaben, die Überzeugungen der CDU zuwider laufen. Der Koalitionsvertrag enthält sie zahlreich. Schließlich fordert die Fraktion ein Verfahren, mit dem der Landtag Einfluss auf das Abstimmverhalten Thüringens im Bundesrat nehmen kann, denn eine Minderheitsregierung würde dort nicht mehr die Mehrheit des Landtags vertreten.

Die Herangehensweise ermöglicht der CDU-Fraktion ihrer Verantwortung als konstruktive Opposition ebenso gerecht zu werden wie ihrem Ziel, Rot-Rot-Grün zu beenden. Zwar wäre dieses Dreiparteienbündnis als politische Formation nicht abgelöst, wohl aber als gesellschaftsveränderndes Projekt erfolgreich blockiert. Thüringen könnte sich nicht mehr in eine aus Sicht der CDU und ihrer Wähler falsche Richtung entwickeln. Ein Teil der konkreten Wahlversprechen ließe sich mit Rot-Rot-Grün, ein anderer Teil mit der AfD und der FDP umsetzen. Und zwar jeweils so weit, wie die politischen Inhalte deckungsgleich sind.

Genau aus diesem Grund versuchen LINKE, SPD und Grüne die vollständige Einbeziehung der AfD in die parlamentarische Sacharbeit zu verhindern. Die Erwartung wird meist abstrakt formuliert, es dürfe keine Zusammenarbeit geben. Das ist, wie bereits die ersten Monate der Wahlperiode zeigen, weltfremd und überdies undemokratisch. Die 22 Abgeordneten der AfD sind von den Thüringer Wählern genauso demokratisch legitimiert wie jene aller anderen Fraktionen auch und repräsentieren das Volk. Richtig ist daher zunächst, in der parlamentarischen Arbeit die gleichen Maßstäbe für alle gelten zu lassen. Anträge sollten nicht nach ihren Urhebern, sondern nach ihrer Qualität und Zustimmungsfähigkeit beurteilt werden.

Das schließt die klar markierte Distanz zu allem ein, was dem Rechtspopulismus Vorschub leistet. Das ist in der parlamentarischen Arbeit allerdings auch nicht sonderlich schwer. Der Weg, sich inhaltlich zu Anträgen zu verhalten, ist die Zustimmung, Ablehnung oder Änderung. Dort, wo die AfD im Parlament ihre rechtspopulistischen Steckenpferde zu reiten wünscht, sich zum Fürsprecher des vermeintlichen Volkswillens aufschwingt und die parlamentarische Demokratie verächtlich macht, ist ein klares Stopp-Signal geboten und ohne weiteres umsetzbar: durch deutliche Stellungnahmen und die Ablehnung entsprechender Anträge. Die Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene zu führen, hat überdies den unschätzbaren Vorzug, die AfD nicht in einem relativ kommoden Märtyrerstatus verharren zu lassen.

Die Gefahr, dass fundamentale Unterschiede verwischt werden, etwa im Bereich der Geschichts- und Erinnerungspolitik oder in Fragen der europäischen Integration oder der gesellschaftlichen Integration im Land selbst, besteht nicht. Der letzte Punkt sei exemplarisch herausgegriffen, da ihn die CDU durch die Vorlage eines Landesintegrationsgesetzes bereits in der letzten Wahlperiode zu einem Schwerpunktthema entwickelt hat. Die Union steht, bei konsequenter Kontrolle der Migration, für Integration auf staatsbürgerlicher Grundlage. Der Verfassungspatriotismus und die Eingewöhnung in die Alltagskultur des Landes sind dafür die Grundlage. Wer deutscher Staatsbürger werden will, soll sich vorbehaltlos mit diesen Land identifizieren, doch muss er auch ankommen können. Damit verträgt sich keine Fremdenfeindlichkeit.

Wer den Bürgern stattdessen wie Teile der AfD vorgaukelt, Zustände einer weitgehend ethnisch-kulturellen Homogenität ließen sich dauerhaft bewahren oder gar wieder herstellen, der macht die Rechnung ohne die Demographie und belügt sie. Nun ist niemand daran gehindert, irrealen Zielen zu folgen, doch die politischen Mittel müssen sich im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. So kann man etwa die Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit wieder einschränken, aber deutsche Staatsangehörige je nach Abstammung ungleich behandeln, wie es Thüringens AfD-Landes- und Fraktionschef Björn Höcke offenbar vorschwebt, kann man eben nicht.

Vor allem auf diesem Themenfeld setzen sich die Verfassungsschutzämter mit der AfD auseinander. Tatsache ist: Björn Höcke hat wesentlich Anteil daran, dass der Verfassungsschutz dem „Flügel“ bescheinigt, es gebe „stark verdichtete Anhaltspunkte“ für den Verdacht, dass es sich um eine „extremistische Bestrebung“ handele, während hinsichtlich der AfD als Ganzes lediglich „Verdachtssplitter“ vorlägen, die sich nicht verdichtet hätten. Es ist Angelegenheit des Verfassungsschutzes, diesen „Verdacht“ zügig zu klären, denn die Verdachtsberichterstattung ist ein problematisches Instrument. Am Ende ist es jedoch an der AfD selbst, diesbezüglich für Klarheit zu sorgen. Im hier zitierten Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vom 15. Januar 2019 werden auch „Distanzierungsversuche von erkennbar extremistischen Personen beziehungsweise Personenzusammenschlüssen“ gewertet. Sonderlich überzeugend sind sie vielfach nicht.

Die LINKE hat keinen Grund, sich in dieser Angelegenheit zum Richter aufzuschwingen. BfV-Präsident Thomas Haldenwang erinnerte kürzlich (FAZ 28.1.2020) daran, dass sein Amt auch extremistische Strukturen der Linkspartei im Blick habe und darüber berichte. Wörtlich: „Im Hinblick auf bestimmte Teilorganisationen ist die Situation von Linkspartei und AfD insofern ähnlich.“ Es ist nicht bekannt, dass die LINKE, in diesen Organisationen ein Problem sieht. Wie Distanzierung ohne Distanzierung geht, führte Benjamin Immanuel Hoff kürzlich mit beachtlicher Chuzpe hinsichtlich der in Teilen gewalttätigen Antifa vor: „Es gibt einen Teil der Antifa, der Militanz lebt und als politisches Konzept vertritt. Das ist nicht meine Position. Und ich lehne das ab. Aber ich bin oft auch im schwarzen Block auf Demonstrationen mit dabei gewesen und sage: Jeder von denen, die dort sind vertritt eine eigenständige politische Haltung.“ (TLZ, 18.12.2019)

Konsequent wäre, auch bei der Suche nach Regierungsoptionen vor allem über Inhalte zu reden. Rot-Rot-Grün hat die Wähler mit seinen überschaubaren Konfliktpunkten und erheblichen Schnittmengen in Summe nicht überzeugen können. Knapp 56 Prozent haben andere Parteien gewählt. Die kurzzeitig diskutierte, von Ex-Ministerpräsident Dieter Althaus ins Gespräch gebrachte Idee einer „Projekt-Regierung“ fußte auf diesem inhaltlichen Ansatz. Sie hätte umsetzen können und sollen, was politisch ohnehin weitgehend unumstritten aber für das Land notwendig ist. Doch es war nicht vermittelbar, „dass eine Koalition aus Linkspartei und CDU genau das dauerhafte Mittel ist, ein weiteres Wurschteln der rot-rot-grünen Minderheit zu unterbinden“, wie OTZ-Chefredakteur Jörg Riebartsch es treffend auf den Punkt gebracht hat.

Bereits bei diesem Vorstoß verwies die Berliner Parteizentrale der CDU vernehmbar auf einen Beschluss des 31. Bundesparteitags der CDU vom 8. Dezember 2018. Er lautet: „Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab.“ Mit „ähnlichen Formen“ dürften Tolerierungen oder Duldungen von Regierungen unter Beteiligung der CDU durch die genannten Parteien gemeint sein. Andere formulieren etwas offener. Altbundespräsident Joachim Gauck meint: „Unsere Rechtspopulisten sind noch nicht so weit, dass die anderen Parteien ihnen Mitwirkungsmöglichkeiten in Regierungsämtern zubilligen dürfen“, und riet der AfD dringend zu klären, „wofür sie eigentlich steht“ (FAZ, 9.11.2019). Auch der Bischof der EKMD, Friedrich Kramer, legt den Akzent auf die Regierungsbeteiligung. Nach den Thüringer Landtagswahlen wollte er keine Konstellation ausgeschlossen wissen, „außer einer Regierungsbeteiligung der AfD: So lange diese ihr Verhältnis zum Rechtsextremismus nicht eindeutig geklärt hat, ist diese Partei nicht regierungsfähig“, so Kramers Grenzziehung (OVZ, 7.11.2019).

Doch was ist, wenn eine Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt? Die Frage ist durch die Ankündigung der FDP Thüringen, über einen eigenen Kandidaten für die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag nachzudenken, wieder virulent geworden. Die Reaktion der LINKE-Landesvorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow war vorhersehbar: Die FDP dürfe nur einen Kandidaten aufstellen, der für die AfD nicht wählbar sei. Es geht nicht etwa darum, die AfD von einer Regierung fernzuhalten, sondern bereits die Zustimmung der AfD zum Kandidaten einer bürgerlichen Partei der Mitte zu skandalisieren. Das ist doppelzüngig, weil die LINKE zugleich nicht müde wird, andere Fraktionen zur Nominierung von Kandidaten aufzufordern. Damit soll verhindert werden, dass eine etwaige Wahl Bodo Ramelows als alleinigem Bewerber auf verfassungsrechtlich möglicherweise schwankendem Grund stattfindet. Das Ansinnen der LINKEN ist demokratisch fragwürdig, weil die Bürger Thüringens nicht durch 68 sondern durch 90 Abgeordnete präsentiert werden.

Die Erwartung beschwört zudem eine Gefahr, die es gar nicht gibt. Die Stimmabgabe zugunsten eines FDP-Kandidaten, der ohne einen Koalitionsvertrag oder sonstige politische Zusicherungen an den Start ginge, verpflichtete diesen politisch zu absolut nichts. Weder gegenüber der AfD noch irgendjemandem sonst. Bei der Zusammenstellung eines Kabinetts wäre er vollkommen frei. Nach welchen Maßgaben ein Bewerber das zu tun gedenkt, kann er außerdem vor einer Wahl klarstellen und damit für Transparenz sorgen. Sein Kabinett stünde im Parlament vor keiner größeren oder kleineren Herausforderung als jedes andere Minderheitskabinett auch. Jede Minderheitsregierung muss sich Mehrheiten suchen, weil sie keine eigene hat. Ein solcher Ministerpräsident hätte keine geringere demokratische Legitimation als ein Ministerpräsident Bodo Ramelow auch, dessen Unterstützer im Übrigen ernstlich vertreten, er könne im Zweifelsfall auch mit weniger Ja- als Nein-Stimmen ins Amt kommen.

(Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.)

Über Karl-Eckhard Hahn 22 Artikel
Karl-Eckhard Hahn, Dr. phil., Jahrgang 1960, verheiratet, vier Kinder. Historiker, Leitender Ministerialrat im Thüringer Landtag. Mitgliedschaften (Auswahl): Landesvorstand des Evangelischen Arbeitskreises der CDU Thüringen, Vorstand der Deutschen Gildenschaft, Historische Kommission für Thüringen, Ortsteilrat Stotternheim, Gemeindekirchenrat der Evangelischen Kirchengemeinde St. Peter & Paul in Stotternheim. Veröffentlichungen zu politischen Grundsatzfragen, Themen der Landespolitik und Landesgeschichte Thüringens und zur Stotternheimer Lokalgeschichte. Twitter: @KE_Hahn.