Würde oder Willkür oder Was hält Europa zusammen?

brüssel europa flagge fahne europäische kommission, Quelle: NakNakNak, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig, https://pixabay.com/de/photos/br%C3%BCssel-europa-flagge-fahne-4056171/
brüssel europa flagge fahne europäische kommission, Quelle: NakNakNak, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig, https://pixabay.com/de/photos/br%C3%BCssel-europa-flagge-fahne-4056171/

Das Buch „Würde oder Willkür – Theologische und philosophische Voraussetzungen des Grundgesetzes“, herausgegeben von Ulrich Schacht und Thomas A. Seidel, mit Beiträgen u. a. von Udo Di Fabio, Wilfried Härle, Benjamin Hasselhorn und Heinrich Oberreuter, kann man auch als Vermächtnis des Schriftstellers, dessen Tod im Herbst 2018 eine immer noch schmerzende Lücke hinterlassen hat, lesen. Gleichzeitig dokumentiert dieser Band, dass sein Mitbruder und Freund Seidel den Staffelstab würdig aufgenommen hat und weiter trägt. Demnächst mit Sebastian Kleinschmidt, der gemeinsam mit Seidel die Herausgeberschaft der Reihe „Georgiana. Neue theologische Perspektiven“ im Auftrag der von Schacht gegründeten Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden verantworten wird.

Der Band 3 der Georgiana-Reihe vereint Reden und ergänzende Schriften einer Tagung, die der Orden mit dem ihm angeschlossenen Bonhoeffer-Haus e. V. im Oktober 2016 gemeinsam mit dem Politischen Forum der Konrad-Adenauer-Stiftung im Augustinerkloster Erfurt durchgeführt hat. Was sich so dröge anlässt, ist, wenn man sich darauf einlässt, eine spannende Lektüre. Dazu möchte ich einladen!

Im Jahr des 70. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes muss man in Erinnerung rufen, dass unser Grundgesetz „erkennbar aus den entscheidenden Quellen des christlichen Abendlandes schöpft: dem Gott der Bibel und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Politik und Gesellschaft.“ (S.6). Der entscheidende Referenzpunkt am Beginn der Präambel ist nicht Mensch, sondern Gott. Dies „intoniert jene liberal-antitotalitäre Einsicht, die aus einer jüdisch-christlichen …Grundskepsis gegenüber einer vermeintlich perfekten menschlichen Handlungskraft erwächst.“ (S.7). In unseren Zeiten der Hypermoral wird dieser Gottesbezug zu einer immer rabiater bestrittenen und fanatischer relativierten Prämisse.

Dass dies keine rein deutsche Entwicklung ist zeigt, dass auch die EU, so berichtet es der ehemalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments Zdizislaw Krasnodebiski, in ihren Dokumenten keinen Gottesbezug mehr dulden möchte (Renovatio Europae, Manuscriptum 2019, S. 33). Umso wichtiger ist jeder Hinweis, dass das Christentum dazu beiträgt, das „Lebenselixier einer freiheitlichen Ordnung“ und die „selbstverantwortete Freiheitswahrnehmung des Einzelnen zu stärken.“ (S.11). Genau das tun die versammelten Autoren des Bandes, jeder an anderen Beispielen.

Heinrich Oberreuter zeichnet die Grundlinien einer abendländischen Verfassungsgeschichte nach. Er verweist in seinem Beitrag prominent darauf, dass Theodor Heuss, einer der Stimmführer bei der Grundgesetzbildung und erster Bundespräsident, auf die drei „geschichtsträchtigen Hügel als Ideenspender“ aufmerksam gemacht hat: Golgatha, die Akropolis und das Capitol. „Aus allem ist das Abendland geistig gewirkt und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen“ (S.25). Wer dem zustimmt, sollte höchst besorgt sein, dass die EU von allen drei Hügeln nichts mehr wissen will. (Renovatio Europae, S. 33).

Schon Aristoteles verwies auf die Notwendigkeit, Herrschaft zu beschränken und zu mäßigen. Solche Limitierungen war eine der Hauptforderungen der liberalen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Dafür wurde von unseren Vorfahren auf die Barrikaden gegangen. Wir leben heute in Zeiten, in denen die Opposition im Landtag von Thüringen in Erfurt, wo auch die Tagung des St. Georgs-Ordens im Augustinerkloster stattfand, es als ihre Aufgabe sieht, eine Minderheitsregierung zu stützen, statt die Interessen ihrer Wähler zu vertreten. Die heutigen Parlamente in Deutschland scheinen vergessen zu haben, dass sie dazu da sind, die Regierung zu kontrollieren, nicht, Erfüllungsgehilfe der Regierung zu sein. Insofern ist Oberreuters Erinnerung an die Gewaltenteilung hochaktuell und zugleich brisant.

Mit dem Grundgesetz von 1949 wurde eine „kopernikanische Wende“ im Verhältnis von Bürgern und Staat eingeleitet. Der Staat und die Gemeinschaft haben nun nicht mehr die Priorität, sondern die Freiheit und die vorstaatlichen Rechte des Individuums. Als Antwort auf die Vernichtung aller Werte im Nationalsozialismus, aber auch des Werterelativismus der Weimarer Verfassung, sollte den Grundrechten jetzt unmittelbare rechtliche Bindungskraft zukommen.

Die Grundrechte begrenzen die Staatsgewalt, das ist die Basis der freiheitlichen Qualität unseres Gemeinwesens.

Oberreuter weist darauf hin, dass der wissenschaftliche Fortschritt neue Fragen auf die Agenda der Öffentlichkeit und der Institutionen setzt, etwa die „nach der Erhaltung, Herstellbarkeit und Zerstörung menschlichen Lebens“ (S. 37). Er zitiert in diesem Zusammenhang Udo di Fabio, der im Gottesbezug eine Demuts- und Reflexionsformel angesichts menschlicher Hybris, Irrtumsanfälligkeit und Unvollkommenheit sieht. Gleichzeitig scheinen viele den Gott der Verfassung nicht als das zu sehen, was der Gott der Theologie und des Glaubens ist.

Eine der Pluralität angemessene Lösung bietet wohl die polnische Präambel von 1997. Sie apostrophiert diejenigen, „die an Gott als die Quelle des Wahren, Gerechten, Guten und Schönen glauben“, wie auch die anderen, „die diesen Glauben nicht teilen, aber universelle Werte respektieren, die aus anderen Quellen kommen“. Diese Formulierung ist ehrlich. Sie passt zum pluralistischen Zustand des heutigen Europa und macht ihn zugleich nicht orientierungslos.

Wilfried Härle befasst sich mit der historischen Herausbildung des Begriffs der Menschenwürde. Er sieht im alttestamentarischen Judentum, „das eine allen Menschen gleichermaßen verliehene Auszeichnung des Menschen gibt…mit Hilfe der Begriffe ‘Bild Gottes’…sowie ‘Ehre und Herrlichkeit’ den Vorläufer des Würdebegriffs”, ohne dass der selbst schon auftaucht (S. 44). Dabei handle es sich nicht um zwei selbstständige Teile oder Elemente, „sondern um wechselseitige Nähebestimmungen“ (S. 45). Luthers Übersetzung „ein Bild, das uns gleich sei“, brächte das gut zum Ausdruck (S.45). Damit gemeint ist eine Existenz des Menschen „im Gegenüber und in Relation zu Gott insgesamt“ … “fast auf gleicher Augenhöhe“ mit Gott (S. 45). Der Mensch entspricht dieser Augenhöhe, „wenn er in Gerechtigkeit d.h. in Bundestreue Gott und seinen Mitgeschöpfen gegenüber lebt“ (S. 45). Der Mensch ist „im Blick auf die Gestaltung und Verwaltung der Erde zum verantwortlichen Stellvertreter Gottes bestimmt“ (S. 46).

Friedemann Richert lobt das Grundgesetz wegen seines Verhältnisses zu Vernunft, Politik und Religion. „Denn unser Grundgesetz befördert keine Wertegemeinschaft, sondern konstituiert eine vernünftige Rechtsgemeinschaft in Form des liberalen Rechtsstaates. Dieser stattet alle seine mündigen Bürger mit den gleichen Rechten und Pflichten aus, und das unabhängig von ihren religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen, und erwartet ebenso von seinen Bürgern unbedingte Achtung und Wahrung der durch das Grundgesetz gegebenen Gesetze.“

Menschen sind zugleich schutzbedürftig und gefährlich. Deshalb wird dringend schützendes Recht gebraucht. Aufgabe der Politik ist es, „das Gut des Lebens allumfassend zu schützen“ (S.77).

Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 könne „durchaus als Geburtsstunde der säkularen, modernen Politik betrachtet werden“, denn die staatliche Neutralität wurde aus „der historischen Erfahrung der Notwendigkeit der Loslösung der Politik von der kirchlich-konfessionellen Umarmung begründet“(S. 79). „Somit setzt unser Grundgesetz mit der Trennung von Staat und Kirche einen historischen Endpunkt in der Säkularisierung“ (S.81).

Den Kirchen kommt im gesellschaftlichen Diskurs die Aufgabe eines Brückenbauers und Hermeneuten zu, „der seine Stimme über die parteipolitischen Ränkespiele hinweg zur Wohlgestalt der Gesellschaft … zu erheben hat” (S.83). Aber alle Kirchen haben sich der parteipolitischen Betätigung oder parteipolitischen Positionierung zu enthalten, denn es ist nicht ihre Aufgabe, Parteipolitik zu betreiben. Dieses Wort in das Ohr von Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx!

Richert weist ausdrücklich darauf hin, dass der Islam die Autorität des säkularen Staates nicht anerkennt. Darauf wäre die Evangelische Kirche bereits 2006 in ihrer Denkschrift „Klarheit und gute Nachbarschaft – Christen und Muslime in Deutschland“ eingegangen. Allerdings fand die nötige mediale und gesellschaftliche Diskussion dazu nicht statt.

Was das sogenannte Kirchenasyl betrifft, so begründet Richert, dass es sich um eine rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigende Handlung handelt, denn alle Religionsgemeinschaften haben sich innerhalb der geltenden Gesetze zu bewegen.

Alle Beiträge können unmöglich in dieser Rezension besprochen werden, aber die Texte der Herausgeber Seidel und Schacht sollten unbedingt betrachtet werden.

Thomas A. SeidelsIn hoc signo vices“ behandelt die Kulturgeschichte des Kreuzes, versehen mit theologischen Anmerkungen. Seine Abhandlung beginnt mit dem Verweis auf eine Videobotschaft des Islamischen Staates von 2005 „Botschaft an die Nation des Kreuzes, geschrieben mit Blut“, das die Hinrichtung von 21 koptischen Christen durch den IS zeigt. Seidel geht der Frage nach, wieso diese klare Botschaft im Westen fast unbeachtet blieb. Auch das Buch von Martin Mosebach „Reise ins Land der koptischen Märtyrer“ (2018), welches dieses Martyrium einfühlsam und eindrucksvoll beschreibt, blieb weitgehend unbeachtet. Hat das hat mit der mangelnden Empfangsbereitschaft des Westens zu tun, der sich weitgehend von seien christlichen Traditionen entkoppelt hat? Gleichzeitig versteht die westliche Gesellschaft nicht, dass andere Gesellschaften durchaus nicht atheistisch sind, sondern immer noch nach religiösen Grundsätzen leben, während sie bereit ist, die Idee des christlichen Abendlandes als nostalgisch, populistisch oder gar reaktionär zu betrachten.

Seidel erinnert daran, dass im Laufe der Jahrhunderte das Kreuz von einem brutalen Hinrichtungswerkzeug für gewöhnliche Verbrecher zu einem „Sieges- und Herrschaftszeichen eines kaiserlich protegierten und staatlich gestützten Christentums“ wurde (S. 141). Als Zentralsymbol des Christentums verbindet „das Kreuzzeichen Tod und Leben, Ermordung und Auferstehung, sowie die „zwei Naturen“ des Jesus von Nazareth und des Christus des Glaubens, als „wahrer Mensch“ und „wahrer Gott“ (S.140).

Wie weit sich der Westen von seiner Tradition entfernt hat, zeigen die Reaktionen auf den Wiederaufbau der Kathedrale Notre Dame in Paris, die im April 2019 einem verheerenden Feuer zum Opfer fiel. Da wurde tatsächlich die Frage aufgeworfen, welchen Wert der kostenträchtige Wiederaufbau im Angesicht von menschlichen Katastrophen wie Hunger und Kriege hätte. Seidel hält unmissverständlich fest: „Wer diese Alternative aufmacht, negiert (bewußt oder unbewußt) die immense kulturelle und zivilisierende Bedeutung, die das Christentum in den komplexen Werte- und Lebensraum Europas eingetragen hat und einzutragen in der Lage ist.“ (S.176). Als der Brand vorüber war „[…] leuchtete auf ganz wundersame Weise das schlichte, goldene Kreuz vom Hochaltar her. Es schien, wortlos, bildkräftig sym-bolisch, also: zusammen-bringend, auf eine simple Tatsache hinzuweisen: Nicht politische Parteien oder Ideologien, nicht Strukturen und Verwaltungen allein und auch […] nicht der Euro, sondern das Kreuz ist das einigende Zeichen des christlichen Abendlandes“, wie es Peter Gauweiler formulierte (S.179).

Ulrich Schacht trug mit einem „Reiseessay über die Wiederauferstehung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Titel „Rückkehr zur Ikone“ zum Band bei.

Er beginnt mit einer Beobachtung im Moskauer Donskoi-Kloster, wo er eine junge Frau gewahrt, die in minutenlanger Versunkenheit vor einer Ikone verharrt, in einer Haltung, die zwangsläufig zu Schmerzen führen müsste, es aber sichtlich nicht tat.

„So fremd mir die Szene war – mir, dem Christentum mitnichten fremd ist-, so radikal ergriff sie mich, radikal wie ein Gottesbeweis“ (S.192). Die religiöse Hingabe dieser jungen Frau bewies die letztendliche Vergeblichkeit bolschewistischer Bemühungen, die Religion auf dem Territorium der früheren Sowjetunion auszulöschen. Schacht erinnert an die Stationen der blutigen Christenverfolgung unter den Sowjets. Schon 1920 hatte Patriarch Tichon darauf hingewiesen, dass seit 1917 322 Bischöfe und Priester hingerichtet worden seien. Fünf Jahre später, kurz vor seinem Tod, sprach er davon, das sich 100 Bischöfe und 10 000 Priester in Gefängnissen, Lagern oder im Exil befanden (S.209). Am Beispiel der Christenverfolgung weist Schacht besonders auf die „moralische deformation professionelle des kommunistischen Politikers Lenin“ (S.205) hin, der heute noch von der Linken verehrt wird. Lenin, dem „keine Bösartigkeit fremd war“(S.205), wies mitten in einer vom ihm initiierten Hungersnot seine Exekutoren an, die heiligen Gefäße der Kirchen zu konfiszieren, um aus dem Erlös derselben, Lebensmittel für die Hungernden zu kaufen. Dabei ignorierte er ein freiwilliges Hilfsangebot der Kirche, alle profanen Wertgegenstände der Hungerhilfe zur Verfügung zu stellen. außerdem ließ er Gläubige, die ihre Kirchen verteidigten, töten. Lenin und später Stalin ließen zahllose Kirchen sprengen oder in Museen, Klubhäuser, aber auch Viehställe und Lagerhäuser umwandeln. Am Ende der Sowjetunion wurde diese Zerstörung in der Kunst und im Film thematisiert. Die Eingangssequenz des Films „Reue“ von Tengis Abuladse wird die Sprengung einer Kirche gezeigt. Der Film ist voller versteckter christlicher Symbole.

Für die Wiederauferstehung der Orthodoxen Kirche Russlands ist das überzeugendste Symbol die Rekonstruktion der von Stalin gesprengten Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Das Gebäude war samt seiner Grundmauern verschwunden. Hier wurde ein riesiges Schwimmbad errichtet, von welchem im Winter ein beheiztes Außenbecken betrieben wurde. In seinen permanenten Nebeln würde der Geist der Kirche sich verstecken und eines Tages wiederkehren. Das erzählte mir 1969 ein junger Mann, den ich beim Schwimmen in diesem Becken traf.

Heute ist die Kathedrale wieder auferstanden, so, als wäre sie nie weg gewesen. An Feiertagen versammeln sich der Patriarch Russlands, der russische Präsident Putin und die Gläubigen zur gemeinsamen Feier der heiligen Liturgie. Wer das, wie Schacht, gesehen hat, glaubt an die Worte des Vaters Sawwa aus dem Sergius-Dreifaltigkeitskloster, der in einem Interview sagte: „Wir müssen begreifen, dass die Geschichte von Gott geführt wird, nicht von Menschen. Aber wie das geschieht, bleibt sein Geheimnis.“

Würde oder Willkür

Theologische und philosophische Voraussetzungen des Grundgesetzes GEORGIANA, Neue theologische Perspektiven, 3

(Herausgegeben von Thomas A. Seidel und Ulrich Schacht im Auftrag der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden)

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019, 280 Seiten, Paperback, 20,00 Euro, ISBN 978-3-374-05607-1

Mit Beiträgen von Udo Di Fabio, Thibaut de Champris, Wilfried Härle, Benjamin Hasselhorn, Alexander Kyrleschew, Heinrich Oberreuter, Friedemann Richert, Thomas A. Seidel, Ulrich Schacht sowie einem Grußwort von Hildigund Neubert und einem Nachruf auf Ulrich Schacht von Sebastian Kleinschmidt.

NEU! Im Buchhandel erhältlich:

Quelle: Vera Lengsfeld

Finanzen