„Einer der berühmtesten Philosophen der Welt.“ – Zum 90. Geburtstag von Jürgen Habermas

Universitätssschild, Foto: Stefan Groß

Vor zehn Jahren hat der weltberühmte kanadische Philosoph Charles Taylor seinen Kollegen Jürgen Habermas wie folgt gewürdigt:

„Seit einem halben Jahrhundert ist Jürgen Habermas einer der berühmtesten Philosophen der Welt. Die Tiefgründigkeit und thematische Spannbreite seines Werkes ist beeindruckend.“ (Charles Taylor 2010).

Charles Taylor und Jürgen Habermas haben neben zahlreichen inhaltlichen Gemeinsamkeiten auch jene der großen internationalen Anerkennung: beide erhielten den angesehenen Kyoto-Preis, Jürgen Habermas im Jahr 2004, Charles Taylor im Jahr 2008. Der Kyoto-Preis gilt als der „philosophische Nobelpreis“ – er ist die höchste Auszeichnung, die ein Philosoph erhalten kann. Der Kyoto-Preis wird seit 1985 jährlich vergeben. Bislang haben weltweit sechs Philosophen diese Auszeichnung erhalten, unter anderem auch Karl Popper, Paul Ricoeur und Martha Nussbaum.

Am 18. Juni 1929 wurde Jürgen Habermas in Düsseldorf geboren. Er studierte an den Universitäten Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutsche Literatur und Ökonomie. Dieses große Themenspektrum weist darauf hin, was Charles Taylor mit der beeindruckenden thematischen Spannbreite gemeint hat. Nach seiner Promotion über den Philosophen Schelling wurde er Forschungsassistent bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Von 1961 bis 1964 war er außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg. Anschließend wurde er Nachfolger von Max Horkheimer auf dem Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt. Dort war er sieben Jahre und erlebte die turbulenten Zeiten der Studentenrevolte. Von 1971 bis 1983 war er gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker Ko-Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Nach strukturellen Änderungen dieses Instituts wechselte er zurück an die Universität Frankfurt und war dort elf Jahre lang auf dem Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Sozial- und Geschichtsphilosophie. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1994 war Jürgen Habermas weitere 25 Jahre sehr aktiv als einer der führenden Intellektuellen Deutschlands. Sein politisches Engagement intensivierte sich und er war jeweils eine wortgewaltige Stimme bei wichtigen Zeitfragen und gesellschaftlichen Themen.

Er war seiner Zeit weit voraus

Jürgen Habermas hatte jeweils ein gutes Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen und politische Trends. In seiner Arbeit „Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“ aus dem Jahr 1985 zeichnet er ein Stimmungsbild und eine Standortbestimmung, die auch heute verfasst sein könnte. Habermas schrieb sie aber vor fast 35 Jahren:

„Die Zukunft ist negativ besetzt; an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen ab: die Spirale des Wettrüstens, die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, die strukturelle Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichgewichte in den entwickelten Ländern, Probleme der Umweltbelastung, katastrophennah operierende Großtechnologien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewußtsein eingedrungen sind.“ (Habermas 1985)

Die klare und treffsichere Beschreibung dieser Phänomene verdeutlicht, dass Habermas seiner Zeit voraus war und als hervorragender Diagnostiker der Moderne gewürdigt werden darf. Eine ähnliche Aktualität drängt sich dem Leser auf, wenn er die Beiträge von Jürgen Habermas zur Asyldebatte im Jahr 1991 liest. Zukunftsweisend waren ebenso seine Analysen zu „Europas zweite Chance“ nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Eisernen Vorhang sowie der Wiedervereinigung.

Eindrucksvolles Gesamtwerk

Der erste große Paukenschlag für die deutsche Öffentlichkeit war eine aufsehenerregende Arbeit des 24-jährigen Studenten Jürgen Habermas. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien von ihm die Studie „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“ am 25. Juli 1953. Der mittlerweile neunzigjährige Jubilar kann heute auf ein umfangreiches Werk aus 65 Jahren produktiver Schaffenskraft zurückblicken. Die meisten seiner Bücher sind als Monographien im Suhrkamp-Verlag erschienen. Insgesamt sind es fast fünfzig Bände. Zu seinem 80. Geburtstag erschien im Suhrkamp-Verlag eine Studienausgabe in fünf Bänden (Umfang 1600 Seiten). Die beiden Hauptwerke sind „Erkenntnis und Interesse“ (1968) und das zweibändige Werk „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981). Seine Bücher sind mittlerweile in etwa vierzig Sprachen übersetzt. Habermas hat eine hohe Reputation in den USA und ist durch zahlreiche Vorträge und Gastprofessuren dort mit vielen Philosophen-Kolleginnen und –Kollegen persönlich bekannt. Große Resonanz hat er erstaunlicherweise in Asien, vor allem in China und Japan. In seiner Würdigung für Jürgen Habermas in den „Frankfurter Heften“ zum 90. Geburtstag schrieb Rudolf Walther:

„In Südkorea, Japan, China und im Iran wird heute über Habermas sachkundiger diskutiert als unter deutschen Konservativen und Rechten.“ (Walther 2019).

Alexander Kluge, ein langjähriger Freund von Jürgen Habermas und erfolgreiche Filmemacher und Philosoph, beschrieb im Jahr 2009 ein ähnliches Phänomen: auf die Frage, „Was schätzen Sie an Jürgen Habermas am meisten?“ antwortete Alexander Kluge:

„Er ist einer der wenigen, die Bürgerkriege im Geiste zu einem Frieden bringen können. Verblüffend, dass er in China oder in den USA die gleiche Geltung besitzt wie in Europa – und das schon seit vielen Jahren.“ (Kluge 2009).

Als Philosoph und Intellektueller, der immer wieder den Diskurs in der Öffentlichkeit suchte, ist Habermas durch richtungsweisende Zeitschriftenartikel, öffentliche Diskussionen, sowie Rundfunk- und TV-Beiträge berühmt geworden. Er ist seit vielen Jahren Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat dort zahlreiche hellsichtige Arbeiten zur Europapolitik und zu den transatlantischen Beziehungen geschrieben. In den Zeitungen „Die Zeit“ und der FAZ sind viele aktuelle Beiträge von ihm zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen zu finden.

Internationale Auszeichnungen und Preise als große Anerkennung

Wenige Philosophen haben so hochkarätige und so viele Preise und Auszeichnungen erhalten wie Jürgen Habermas. Selbst bei den Preisen und Auszeichnungen zeigt sich die große thematische Vielfalt und Spannbreite seines gewürdigtenWerkes. Der renommierteste Preis ist zweifelsohne der Kyoto-Preis, der ihm im Jahr 2004 verliehen wurde. Diesen „philosophischen Nobelpreis“ erhielten bislang nur sechs Philosophen. Für sein überragendes philosophisches Werk erhielt er außerdem 1974 den Hegel-Preis, 1980 den Adorno-Preis, 1986 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und 1995 den Karl-Jaspers-Preis. Für sein großes politisches Engagement erhielt er 1985 den Geschwister-Scholl-Preis, 1999 den Theodor-Heuss-Preis, 2001 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2005 den Bruno-Kreisky-Preis, 2008 den Europa-Preis für politische Kultur, 2013 den Erasmus-Preis und 2018 den Großen Deutsch-französischen Medienpreis.

Jürgen Habermas setzte sich viele Jahre mit der Psychoanalyse auseinander. Während seiner Frankfurter Zeit waren es vor allem die Gemeinsamkeiten von Sigmund Freud und Karl Marx, die ihn beschäftigten. Seine Freundschaft mit Alexander Mitscherlich und gemeinsame Interessen mit dem Sigmund-Freud-Institut Frankfurt vertieften seine Kenntnisse der Psychoanalyse. Sein Sohn Tilman Habermas wurde Psychoanalytiker und hat einen Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Universität Frankfurt. Für sein psychoanalytisches Engagement erhielt Jürgen Habermas im Jahr 1976 den Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und 2011 den Viktor-Frankl-Preis. Die hier genannten Preise und Auszeichnungen sind nur eine Auswahl der zahlreichen Ehrungen und Würdigungen, die Jürgen Habermas empfangen hat.

Jürgen Habermas – ein engagierter Europäer

Schon frühzeitig hat sich Jürgen Habermas als Verfechter für Freiheit und Demokratie und für die Zukunft in einem geeinten Europa präsentiert. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Deutschlands sah er die historische Chance in erster Linie als „zweite Chance für Europa“. Sein Engagement für Europa zeigt sich auch in zwei Monographien zur Zukunft Europas. Im Jahr 2008 erschien „Ach, Europa“, das aus einer Diskussion mit dem damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hervorging. Die Finanz- und Eurokrise in den Jahren 2008/2009 war Anlass für seinen Essayband „Zur Verfassung Europas“ (2011). Darin plädiert er für mehr leidenschaftlichen Diskurs und Meinungskampf in der breiten Öffentlichkeit. Im Jahr 2018 verfasste er gemeinsam mit den Politikern Hans Eichel, Roland Koch, Friedrich Merz, Bert Rürup und Brigitte Zypries einen Aufruf mit dem Thema „Für ein solidarisches Europa – machen wir Ernst mit dem Willen unseres Grundgesetzes, jetzt!“

Literatur:

Anz, Thomas (2009) Was schätzen Sie an Jürgen Habermas am meisten? Antworten auf eine Umfrage. Literaturkritik.de vom 9.6.2009

Eichel, Hans; Habermas, Jürgen; Koch, Roland; Merz, Friedrich; Rürup, Bert; Zypries, Brigitte (2018) Für ein solidarisches Europa – Machen wir Ernst mit dem Willen unsres Grundgesetzes, jetzt! Handelsblatt vom 21.10.2018

Habermas, Jürgen (1953) Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 vom 25. Juli 1953

Habermas, Jürgen (1968) Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968. Mit einem neuen Nachwort 1994

Habermas, Jürgen (1981) Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (1985) Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (1985) Die Krise des Wohlfahrtsstaates und dieErschöpfung utopischer Energien. Auszüge in: Merkur, H. 431. Januar 1985

Habermas, Jürgen (1990) Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze. Leipzig

Habermas, Jürgen (1991) Vergangenheit als Zukunft? Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, Zürich

Habermas, Jürgen (1996) Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (2008) Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt am Main

Taylor, Charles (2010) Das leuchtende Beispiel. Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas. Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010

Walther, Rudolf (2019) Philosoph, Bürger, Europäer. Jürgen Habermas zum 90. Geburtstag. Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte vom 17. Juni 2019

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. H. Csef   

Schwerpunktleiter Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Zentrum für Innere Medizin

Medizinische Klinik und Poliklinik II

Oberdürrbacher Straße 6

97080 Würzburg

E-Mail-Adresse: Csef_H@ukw.de

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Über Herbert Csef 136 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.