Gefühlsausführlichkeiten imNähe-Glück oder doch nur Dekorateure des Nichts

„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts.“ (Korinther 13,1-2)

Auf einer Feier im Schloss Bellevue anlässlich des 50. Geburtstages von Korbinian Schneilin, einem angesehenen Molekular-Biologen und Unternehmer, sitzt der renommierte Belletrist Basil Schlupp, Autor des Erfolgsbuchs „Strandhafer“, am Tisch der Frau des Bundespräsidenten. Doch nicht sie erregt sein Aufsehen, sondern die Dame auf „höchstens halb zwei“. Die 45-jährige Maja Schneilin, Professorin für Theologie und Gattin des Jubilars, mit ihrem „antiblonden“ Haar und den „zierlichen Lachexplosionen“ aus einem Mund voller „vibrierender Bereitschaft“, erscheint ihm mit einer derart weiblichen Unverwechselbarkeit, dass es um den armen Schreiberling geschehen ist. „Als man bei dem in Rebenholz geräucherten Kalbstafelspitz mit Feldthymian-Traubensauce, Spitzkohlgemüse und gefüllter Linda-Kartoffel mit Kaiserstühler Bauchspeck angelangt war und dazu den trockenen Spätburgunder von der Ahr trank, und ich an der Bundespräsidentin vorbei zu Frau Schneilin hinübergeblickt hatte, ohne auch nur einen einzigen Antwortblick zu erhalten, spürte ich, dass mein Gefühlsstau bald nicht mehr auszuhalten war.“ Schon am Tisch lässt er sich zu einer ersten Unmöglichkeit hinreißen und einen Trinkspruch der Frau Präsident mit „Das Leben ist zu kurz, um deutsche Weine zu trinken.“ parlieren. Die zweite Verrücktheit folgt zwei Wochen nach dem einschneidenden Erlebnis. Schlupp schreibt in einem Anfall von „Entblößungssucht“ der Professorin einen Brief und offeriert ihr seine „nicht bestellten Gefühlsangebote“. Maja antwortet und schnell entspinnt sich eine nicht alltägliche, ja fast zwanghaft zu nennende „Briefekstase“, auf dessen „Schreibwiese“ Schlupp Tag und Nacht grast. Obwohl beide glücklich verheiratet sind, beichten sie sich zunehmend brisantere Dinge aus ihrem intimsten Privatleben. „Es geht in uns offenbar andauernd etwas vor, was wir dem, der da ist, nicht sagen können.“
Genau dieser Umstand war Walsers energielieferndes und seine Schreibfreude aktivierendes Motiv, gesteht er in einem Interview. „Wir existieren da auf einer Frequenz, die im Alltag nicht anzubringen ist, da braucht man eine Ausdruckswelt dafür, und das habe ich ausgebeutet.“ Er statuiert bei seinen beiden Protagonisten ein Experiment, in das sie ohne es zu wollen, hineingeraten. Schlupp verführt die Theologin „von Wort zu Wort zu Wort“ zu einem „Brückenbau in Voraussetzungslose“. Ihre zunächst auf Papier geschriebenen, später als E-Mail versandten „Buchstabenketten“ entwickeln sich mehr und mehr zu einer „Hängebrücke über einem Abgrund namens Wirklichkeit“. Doch schon bald holt die Beiden die Realität ein, zudem ihre virtuelle Liaison auf so wackligen Füßen steht wie deren freischwebende „Wörterbrücke“. Erweist sich ihr „Flirt mit der Unmöglichkeit“ letztendlich gar nur als „Einbildungsgebäude“? „Wir sind die Extreme, die einander berühren. Und zwar durch nichts als ihr Extremsein. Das Extremsein als solches. Eine Art Rücksichtslosigkeit“, stellt Maja Schneilin fest.
„Jetzt schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ (Korinther 13,12)
Nicht nur der Buchtitel deutet darauf hin, sondern Martin Walsers Zeilen weisen sichtbare Bezüge zum 13. Kapitel des ersten paulinischen Korintherbriefes, auch als „Hohelied der Liebe“ gepriesen, auf. Walser sinniert über Ehe, Glaube, die Lust am Widerspruch, Fehlstellen in uns und natürlich die Liebe und was das große und manchmal ominöse Wort im Alltag bedeutet. Wie alle Bücher des im März 2012 85 Jahre alt gewordenen Meisters strotzt auch sein jüngstes Werk nur so vor Intensitäts- und Sprachenergie. Und wie fast immer bei ihm, ist es nicht der Plot, der für Spannung sorgt, sondern das Innenleben seiner Figuren. Der „Lustwandler seiner Ausdruckswelt“, wie die FAZ über Martin Walser titelt, ergeht sich erneut in großen „Gefühlsausführlichkeiten“. Dabei ist ihm keine sprachliche Erhöhung zu fremd. Sein Briefroman enthält Sätze, „die zu gut, zu wahrhaftig, zu markant sind, um nicht aufgeschrieben zu werden, (…) Formulierungen, bei denen einem mulmig werden kann“, um noch einmal die FAZ zu zitieren.
Fazit: Martin Walsers „13. Kapitel“ ist ein nachdenklich-berührendes, intelligentes Werk, das von Seite zu Seite eindringlicher wird. Wenn wir „nicht in jedem Augenblick das schreiben können, was in diesem Augenblick unser sogenanntes Dasein ausmacht, dann können wir es – das Schreiben – lassen.“, lässt der Autor Basil Schlupp an Maja Schneilin schreiben. Es bleibt zu hoffen, dass auch Martin Walser noch lange davon Gebrauch machen kann, um weitere „Sachbücher der Seele“ zu gebären. Denn: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf; sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbitten, sie rechnet das Böse nicht zu; sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.“ (Korinther 13,4-8a)

Oder um es mit Basil Schlupp alias Martin Walser zu sagen:

Wie viel mehr möchte man sein
als man ist und überall immer zugleich
in jedem Wasser fließen
die Hitze sein der Wüste
nachts das Eis
das Tannenwipfelwiegen im Wind
Freundschaftsstifter
Stromableser
Schlüssel-
Wahrer
aller Arzt
und Kranker
aller Ärzte.
Früher stieß
eins ans
andere
jetzt ist Platz
bzw. Leere
herrscht.

Martin Walser
Das dreizehnte Kapitel
Rowohlt Verlag, (September 2012)
272 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3498073826
ISBN-13: 978-3498073824
Preis: 19,95 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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