Goderdsi Tschocheli. Eine Krähe für zwei. Erzählungen

Meer, Foto: Stefan Groß

Goderdsi Tschocheli. Eine Krähe für zwei. Erzählungen. Ausgewählt von Daro Barbakadse- Aus dem Georgischen übersetzt von Maja Lisowski. Ludwigsburg (Pop-Verlag) 2019, 176 S., 16,50 EURO. ISBN  978-3-86356-232-8 (Kaukasische Bibliothek, Bd. 25)

Der Schriftsteller und Filmregisseur Goderdsi Tschocheli (1967-2007) gehört seit 1980, als sein erster Erzählband unter dem Titel „Briefwechsel mit einem  Fisch“ in Tiflis erschien, zu den wichtigsten Vertretern eines magischen Realismus, von dem auch sein filmisches Schaffen bestimmt war. Sein Dasein, so die international renommierte georgische Literaturwissenschaftlerin Bela Tsiburia in ihrem Nachwort zu dem Erzählband, werde „von dem georgischen Leser genauso selbstverständlich wahrgenommen wie das Dasein eines Berges, eines Baumes oder eines Flusses.“ Er habe die Nische im Kulturbetrieb der spätsowjetischen Ära besetzt, die seit der Jahrhundertwende von dem legendären georgischen Dichter Wascha-Pschawela (1861-1915) eingenommen wurde. Der ebenso wie Goderdsi Tschocheli aus der mythischen Bergwelt des Kaukasus stammende Wascha Pschawela habe die georgische Literatur mit seinem Schaffen in ästhetischer, religiöser und ethischer Hinsicht – ungeachtet der sowjetkommunistischen Einflußnahme – durchdrungen, indem er die Grenzen zwischen materieller und seelischer Realität aufzeichnete. Außerdem habe er die Mythologie der Bergvölker und deren Dialekte in den Diskurs der georgischen Literatur eingebracht, Eigenschaften, von denen auch die eigenwilligen und dennoch transparenten Erzählwelten des Goderdsi Tschocheli bestimmt sind.

„Die Seele hat weder einen Anfang noch ein Ende,“ sagt Gamichardei, was auf Georgisch es hat mich gefreut heißt, gleich zu Beginn der Erzählung „Briefwechsel mit einem Fisch“ dem Ich-Erzähler. Gamichardai ist in Eile. Er muss dringend mit seiner Familie seine Heuwiese mähen, ein Unternehmen, dass der Kolchose-Brigadier verhindern will. Gamichardai soll unbedingt den Kolchosbauern bei der Schafschur helfen, ein Befehl, den er verweigert und dafür von der Staatsmacht bestraft wird. Er muss fast alle Heuballen an das Kolchos abgeben und hat damit keine Futtergrundlage für seine ihm verbliebenen Kühe. Diese ungerechtfertigte Maßnahme empört Gamichardai so sehr, dass er in den nahen Fluss Aragawi steigt, bis zum Hals im Wasser ausharrt, und weder auf die verzweifelten Rufe seiner Frau und seiner Kinder noch auf die Drohungen des Kolchosvorsitzenden und der Polizei reagiert, man werde den „Nichtsnutz“ bis zu fünf Jahre im Gefängnis inhaftieren. Auch auf andere „Angebote“ reagiert er nicht. Erst als ihm der Ich-Erzähler Luka einen Brief im Fluss überreicht, schreibt er eine Antwort aus dessen Rückseite. Ab heute habe er nichts mehr mit den Menschen am Hut. Dort wo es keine Gerechtigkeit gäbe, wolle er nicht mehr ein Mensch sein. Selbst auf seine Familie verzichte er. Die habe er vor langer Zeit gehabt, als er noch ein Mensch war. Jetzt sei er ein Fisch und habe nichts mehr mit ihnen zu tun. Was dann folgt ist ein Briefwechsel zwischen Luka und Gamichardai, der in der inkarnierten Rolle eines Fisches den Menschen vorwirft, sie mögen keine Freiheit, statt dessen aber wollten sie Unterdrückung und Unterwerfung. Alle Bitten, er möge doch zur Dorfgemeinschaft zurückkehren, nützen nichts. Selbst als ein am zweiten Tag herbeieilender Oberpriester ist trotz aller Schwüre und Androhungen von Gottesstrafen hilflos. Gamichardai will ein Fisch bleiben. Und als nach einer Woche, nach heftigem Regen, der Aragawi über die Ufer steigt, verschwindet Gamichardai und die gesamte Dorfgemeinschaft sucht ihn entlang des aufgestauten Flusses, ihn, der sich in einen Fisch verwandelt hat und von dem nun gleichsam eine magische Anziehungskraft ausgeht.

Doch die freiwillige Verwandlung in ein Tier ist nicht das einzige magische Sujet in dem Erzählband. In einem anderen Text geht es um einen Stammesältesten in einem Dorf, der plötzlich an heftigen Schmerzen leidet. Aus der rechten Schulter ist ihm eine Tanne gewachsen, die er sich aber ungeachtet der lokalisierten Schmerzen nicht entfernen lassen will. Die ihn behandelnde Ärztin will ihm eine Spritze geben, doch der Patient weigert sich, weil er befürchtet, dass von deren Wirkung die Tanne verdorrt. Erst als ein weiterer Patient, ein ortsansässiger Lehrer, in die Sprechstunde kommt, scheint die Vernunft einzukehren,. Er lässt sich überzeugen, dass eine Spritze gegen die Herzschmerzen notwendiger ist. Doch zweifelt er wieder an einer möglichen Heilung und begibt sich in einen nahegelegenen Wald, wo er spürt, dass die Tanne auf seiner Schulter wächst und wächst. Da beschließt er, einen Brief an die Tannen zu schreiben, weil er feststellt, dass er in den hiesigen Wäldern das einzige Lebewesen mit einer Tanne ist. Deshalb gräbt er eine tiefe Grube und pflanzt sich selbst in den Boden ein.

Sicherlich ist manchem Leser ist eine solche von Magie und Mythologie durchdrungene fiktionale Handlung zu abgehoben. Doch die zwischen Mythos und Realität pendelnden Erzählungen von Tschocheli gewinnen vor allem dann an phantasiegeladener Anziehungskraft, wenn sie autobiografische Züge annehmen, das heißt, wenn der Autor sich ohne Verwendung von Verfremdungseffekten unmittelbar im Gespräch mit seiner Mutter befindet. Bela Tsibura hebt diese Konstellation in ihrem transparenten Nachwort unter Verweis auf die Erzählung „Die Nacht der Engel“ hervor:„Der Schriftsteller gibt klar zu erkennen, dass er von sich und seiner Mutter spricht. Die humoristischen Mittel, die er anwendet (diktiert von der echten Gestalt der Mutter) soll die Glaubwürdigkeit des Textes unterstreichen. … Die Mutter bringt dem Sohn bei, seine Wünsche Gott gebührend vorzutragen. Sie ist auch diejenige, die diese Bitten mit einem Tabu belegt, wenn der Sohn versucht, für seine irdischen Bedürfnisse die Macht der Natur zu mißbrauchen.“ (S. 167) Der Ich-Erzähler steht also im direkten Kontakt mit seiner Mutter, die „mit allem und allen: mit Bäumen, Steinen, Blumen und Vögeln (sprach).“ Mehr noch: sie ist auch augenscheinlich sogar in der Lage, mit einer Krähe zu kommunizieren, indem sie ihr bestimmte Aufträge erteilt, die der Vogel „gewissenhaft“ erfüllt. Überhaupt spielen die Krähen in diesem Erzählband eine wichtige Rolle. Kein Wunder sie sind auch im Bereich der Ornithologie als außerordentlich kluge Vögel bekannt.

Die Bewahrung alter Bräuche und mystischer Überlieferungen im Bereich des wieder belebten magischen Realismus in der georgischen Gegenwartsliteratur erweist sich als besonderes Merkmal. Die gelungene Übersetzung von Maja Lisowski erlaubt dem deutschsprachigen Lesepublikum auf diese Weise einen Einblick in eine Kulturlandschaft, die für westeuropäische Touristen immer reizvoller wird. Nicht nur  aus diesem Grund ist der Erzählband von Goderdsi Tschocheli unbedingt zu empfehlen. Die in den sechs Erzählungen auftretenden Menschen, Vögel, Berge, Fische strahlen eine Glaubwürdigkeit aus, weil sie ständig zwischen dem Materiellen und dem Nichtmateriellen pendeln und Leser/innen in einen gleichsam rauschhaften Zustand versetzen. Viel Spaß also beider Lektüre!

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