Hätte Exxon den Klimawandel abwenden können? Wir wussten alles

CO2-Messstation in München Foto: Stefan Groß

In seinem Verkaufsschlager „Ein Planet wird geplündert“ von 1975 schreibt Herbert Gruhl (1921–1993), spätere Generationen würden mit Wut und Verachtung auf uns Menschen des 20. Jahrhunderts blicken, die den Planeten in nur 100 Jahren ausplünderten.

Eine aktuelle wutgetragene Bewegung ist Fridays-for-Future. Sie prangert nicht so sehr die pauschale Ausplünderung des Planeten an, sondern eher die bevorstehende unlebenswerte Zukunft infolge der fossilen Ausplünderung des Planeten, die Klimakatastrophe. Deren Hintergrund: Binnen einem Dutzend Jahrzehnten wurden fossile Energievorräte abgefackelt, für deren Aufbau die Natur hunderte Millionen von Jahren benötigte. So ist etwa ein Liter Benzin das Verdichtungsprodukt von 20 Tonnen Biomasse. Beim Verbrennen fossiler Energieträger in Autos, Flugzeugen, Fabriken und Heizkraftwerken entsteht unter anderem das Treibhausgas Kohlendioxid. Zwar würde es ohne alles CO2 – und ohne Wasserdampf – in der Atmosphäre auf der Erde unerträglich kalt, da die einstrahlende kurzwellige Sonnenenergie als langwellige Strahlung einfach in den Weltraum zurückgestrahlt und nicht von der Atmosphäre absorbiert würde. Seit Beginn des industriellen Zeitalters jedoch passiert das Gegenteil: Der CO2-Anteil in der Atmosphäre steigt menschenbewirkt mit den bekannten Folgen bis hin zum Abschmelzen von Gletschern und Polkappen, dem Versiegen von Flüssen, Ernteausfällen, millionenfacher Flucht.

Mit Recht fragen klimabewegte Jugendliche: Warum habt ihr uns in eine solche Welt hineingesetzt und sie nicht zuallererst in Ordnung gebracht? Nach ihrem unsolidarischen Verhalten gefragt könnten Eltern antworten: Weil wir nichts davon wussten. Die Mär vom Nichtsgewussthaben gibt es in unterschiedlichen Versionen. Eine dieser Versionen lautet: Der Erdölriese Exxon hat bereits Ende der 1970er Jahre alles gewusst, aber dieses Wissen verschwiegen und sogar wider besseres Wissen Gegenpropaganda bezahlt, sodass die Elterngeneration der klimabewegten aktuellen Jugend ungehemmt Energie verbrauchte, statt zu haushalten. Im nachstehend verlinkten Enthüllungsartikel „Exxon: The Road not taken“ der Plattform insideclimatenews.org aus dem Jahr 2015 kann man detailliert nachlesen, wie Exxon bereits im Jahr 1977 gewonnene firmenintern gewonnene Einsichten und spätere Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Erdölverbrauch, CO2-Ausstoß und Klimaerwärmung zunächst zum Wohle der Menschheit einsetzen wollte, dann aber eine radikale Kehrtwende vollzog und an vorderster Front der Leugner eines Klimawandels tätig wurde. Laut diesem Artikel wurde Exxons Leitung im Juli 1977 über den klimaschädlichen Einfluss des eigenen Unternehmens informiert, lange bevor ein Großteil der Welt davon erfahren habe. Und so könnte es scheinen, als sei Exxon dafür verantwortlich, dass wir wesentlich später über den drohenden Klimawandel informiert wurden als es andernfalls der Fall gewesen wäre. Der Umweltaktivist und Publizist Bill McKibben meint sogar: „Hätten Exxon und andere Ölkonzerne ihr Wissen an die Öffentlichkeit weitergegeben, würde die Erdgeschichte heute ganz anders aussehen: Der Klimawandel wäre als Problem wohl nicht gelöst, aber die Krise würde höchstwahrscheinlich schon abklingen.“ (McKibben, Der schrumpfende Planet, Blätter für deutsche und internationale Politik, 2/2019, S. 52)

Kann es wirklich sein, dass der Grund für die sich verschärfende Klimakrise darin zu suchen ist, dass Ölkonzerne wie Exxon ihr Wissen um die drohende Erwärmung und „potentiell katastrophale Folgeereignisse“ – so eine von McKibben zitierte Exxon-interne Studie im Jahr 1982 – nicht weitergaben? Dies ist kaum plausibel: 1977, in dem Jahr in dem James F. Black, ein Wissenschaftler des Exxon-Konzerns, sein Unternehmen über den Treibhauseffekt informierte, gab der damalige US-Präsident Jimmy Carter eine Studie zum Zustand und zur Zukunft der Umwelt in Auftrag, die 1980 unter dem Titel Global 2000 erschien und allein in Deutschland 500000 Mal verkauft wurde. Allein in Deutschland hatten eine halbe Million Menschen die Befunde von Global 2000 vor Augen. Man sagt heute gern, die Ergebnisse von Global 2000 seien „längst überholt“. Aber schauen wir uns an, was dort zum Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von CO2 durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe einerseits und dem Klimawandel andererseits gesagt wird:

Es wird die Tatsache eines zurückliegenden Anstiegs des CO2-Gehalts vermerkt: „Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre hat seit der Einführung laufender Beobachtungen stetig zugenommen… In den zwanzig Jahren von 1958-78 nahm die durchschnittliche Konzentration um rund 5% zu.“

Es werden schädliche Klimaveränderungen in Aussicht gestellt und das Ausmaß des CO2-Anstiegs wird zahlenmäßig prognostiziert: „Nach übereinstimmender Ansicht der meisten Fachleute stünden die potentiell gefährlichsten Klimaveränderungen globalen Maßstabs als Folge der zunehmenden Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid und anderen ‚Treibhausgasen‘… zu erwarten.“ „… bei Anhalten der gegenwärtigen Trends eine vier- bis achtfache Erhöhung der CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre im ausgehenden 22. Jahrhundert durchaus möglich.“

Es wird in Aussicht gestellt, dass es bis Mitte dieses Jahrhunderts zu einer Erwärmung um 2–3° C kommen kann: „Eine vom amerikanischen Energieministerium einberufene Gruppe von Wissenschaftlern hat geschätzt, dass eine Verdoppelung des CO2-Gehalts der Atmosphäre bis zum Jahr 2050 zu einer Erwärmung der Erde um 2–3° führen wird.

Es wird geäußert, dass die die Erwärmung für die Polkappen besonders hoch ausfallen wird: „In der Polarregion liegt der Temperaturanstieg um den Faktor 3 oder 4 höher.“

Sicher ist es ein ungeheurer Skandal, dass Exxon seine Forschungsergebnisse und Einsichten in den von dieser Firma mitzuverantwortenden Klimawandel zurückhielt. Aber wäre die Klimageschichte anders verlaufen, wenn Exxon seine Erkenntnisse publiziert hätte? Die Antwort kann nur lauten: Nein. Denn Einsichten und Befürchtungen wie diejenigen der Exxon-Wissenschaftler wurden nur drei Jahre nach ihrer ersten konzerninternen Verbreitung (1977) und zwei Jahre vor der konzerninternen verschärften Formulierung (1982) in der Studie Global 2000 publiziert, ohne dass dies zu irgendeiner Klimawende geführt hätte. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zweifelhaft, dass eine Ehrlichkeit auf Seiten Exxons in den Jahren 1977 bis 1982 Entscheidendes bewirkt hätte. Schließlich leben wir in einer kompliziten Gesellschaft. Statt selbst verantwortungsvoll zu handeln, delegieren Bürger die Solidarität mit den eigenen Kindern an gewählte Politiker. Letztere geben die Verantwortung an Zukunftskommissionen oder Klimagipfel weiter.

Dass aber die in einer bedeutenden und aus Steuergeldern finanzierten Umweltstudie, Global 2000, publizierten Überlegungen von der Politik und Öffentlichkeit schlichtweg ignoriert wurden, ist vielleicht ein noch viel größerer Skandal als der Skandal um Exxons „geheimes“ Wissen. Umso größer sollte die „blanke Wut“ sein, die Herbert Gruhl eingangs prognostizierte. Und was soll man sagen, wenn man erfährt, dass der schwedische Chemiker Svante Arrhenius bereits im Jahr 1896 kalkuliert hatte, dass eine Verdoppelung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre zu einer Temperaturerhöhung um 4–6° C führen würde? Er veröffentlichte das Ergebnis seiner titanischen Rechenarbeit – Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine Computer – in dem Artikel „On the Influence of Carbonic Acid in the Air Upon the Temperature of the Ground.“ und korrigierte die Zahl 1906 auf 2,1° C, womit er bei einem Wert lag, der aktuell mit Großcomputern errechnet wurde.

Über Karim Akerma 75 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).