Zwei Arien mit Solo-Cello-Begleitung gehören zu den ergreifensten in der Opern-Literatur: Agathes Cavatine „Wie nahte mir der Schlummer“ aus Carl Maria von Webers „Freischütz“ und König Philipp II. Klage-Ausbruch „Ella giamai m`amó“ in Giuseppe Verdis „Don Carlo“. An der Bayerischen Staatsoper war mit diesem Glanzstück nicht etwa, wie üblich, ein schwarzer Bass, sondern ein heller Bariton zu erleben: der gebürtige Uruguayer Erwin Schrott. Ade, ihr Fricks, Böhmes, Salminens und Papes! Willkommen ein Philipp der schlanken Linie, des lässigen Understatements, der Beherztheit. Könnte ihn Regisseur und Ausstatter Jürgen Rose hören, er wäre mit Erwin Schrotts Format des unglücklichen Herrschers wohl einverstanden.
Roses fulminante Inszenierung des Münchner „Don Carlo“ ist ein 25 Jahre alt. Für den 1. Juli 2000 setzten ihn Intendant Sir Peter Jonas und sein GMD Zubin Mehta, der die musikalische Einstudierung innehatte, auf das Programm der Münchner Opernfestspiele. Ein Wunder, dass jener „Don Carlo“ noch heute aufgeführt und dabei von ungewöhnlich viel Jungvolk angeschaut und applaudiert wird. Wobei es galt, von 17 bis 21.30 Uhr durchzuhalten, inkl. 45 Minuten Pause.
In Roses Bühnenbild ist ein wuchtiger, schräg stehender Gekreuzigter allgegenwärtig. Er ist nackt. Sein Haupt scheint ein Totenkopf zu sein. Spitzhauben-Mönche treten auf und ab. Einer davon verwandelt sich im Schluss-Akt zu einem prunkvoll gewandeten Mann: König Karl V., der den Titel-Helden in die Arme schließt und mit in Karls V. Gruft hinunternimmt. Wie ist so etwas auszuhalten? Mit einem üppigen Autodafé? Man muss in Spanien die Karwoche verbracht haben, um die lebenden Figuren, die Bischöfe und engelsgleichen Kindlein, die splitternackten Ketzer auf dem Scheiterhaufen dieser Schluss-Szenerie des 4. Aktes zu begreifen. Und muss etwas mit der fatalen Rolle der Inquisition anfangen können.
Friedrich Schillers Drama um den spanischen Infanten, der auf die ihm versprochene Elisabeth von Valois verzichten muss, um Frankreich mit Spanien ins Lot zu bringen wird im Münchner Nationaltheater mit prächtigen Verdi-Stimmen verwirklicht. Unter der starken Stabführung des sorgsamen Ivan Repusic und unterstützt von einem Staatsopernchor, den Christoph Heil wohl präparierte, sangen neben Erwin Schrott Stephen Costello einen zerrissenen, heldischen Don Carlo, George Petean einen Marquis de Posa der geschmeidigen Sonderklasse, Dmitry Belosselskiy einen furios-zornigen Großinquisitor, Roman Chabaranok einen bass-samtigen Mönch, Rachel Willis-Sorensen eine innige, leuchtende Elisabetta und Ekaterina Semenchuk eine Eboli, die in dieser guten Qualität nicht leicht zu bekommen ist.
Zwei Anmerkungen zu dieser stark applaudierten Aufführung: die viel zu klein gedruckten Übertitel-Texte und das 228 Seiten schwere, mit unredigierter Hauptprobe (?)-Fotos, zu vielen überflüssigen Essays und Bildern, dazu Peter Heilkers leider wenig trefflichen „Notizen“ zu Roses Inszenierung. Die Rarität: das Cover mit dem „Don Carlo“-Plakat Pierre Mendells, des unvergesslichen und unvergleichlichen Designers der Ära Jonas-Mehta (1993 – 2006).