Heimstatt oder: „Das Leben ist völlig unvorhersehbar.“

„Ich brauche nichts weiter zu tun als zuzuschauen und glücklich zu sein – mehr wird nicht von mir verlangt. (…) Wichtig ist nur, glücklich zu sein. (…) Alles andere ist egal. (…) Du glaubst gar nicht, wie gut das tut. Nimm alles hin, und die Tragödie verschwindet. Oder sie wird jedenfalls leichter, und du bist einfach da, gehst entspannt durch die Welt.“ Ist Glück wirklich so einfach zu bekommen, wie es ein Protagonist im neuen Erzählband der frisch gekürten Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ausspricht? Oder hat dieser Satz in Wahrheit einen viel tieferen Sinn, als auf den ersten, flüchtigen Blick wahrgenommen? Vielleicht will die kanadische Autorin gar den Finger in die berühmte Wunde legen und darauf aufmerksam machen, nicht immer dem allerorts verheißenden Glück, dem „lieben Leben“ in seinen mannigfaltigen Formen ständig hinterherzurennen. Sondern einfach einmal auszuharren und seine Umgebung bewusst wahrzunehmen, um die vielfältigen, zumeist im Verborgenen schlummernden Glücksmomente zu entdecken.
Der Stil der vierzehn neuen Erzählungen fordert dazu buchstäblich auf. Munro schreibt geradlinige, ausgesprochen inhaltsverkürzte, aber trotzdem unglaublich intensive Texte. Man erfährt vielfach nur zwischen den Zeilen, dass etwas Außergewöhnliches passiert bzw. ein einschneidendes Ereignis stattgefunden hat. Und trotzdem spricht sie in zwei Zeilen mehr aus, als andere Bücher auf dreißig Seiten. „All dieses Ausweiden, das heutzutage in Familien betrieben wird…“ scheint ihr ein Graus zu sein. Fast beiläufig, scheinbar unbeteiligt, lässt sie ihre Protagonisten erzählen, so als schauten sie, mit einer Tüte Chips auf der Couch sitzend, teilnahmslos und durch eine Milchglasscheibe auf das vor ihnen vorbeiplätschernde Geschehen einer Fernsehsendung. Wie fremdgesteuerte, zumeist auch völlig emotionsarme Marionetten wirken sie dadurch.
Wirklich glücklich sind die Figuren der kanadischen Autorin allerdings nicht. Munros Geschichten handeln von Krankheit, Verlorensein und Verlust, von Betrug oder Verletzungen, vom Alter und gelebten Leben, aber auch von Liebe, Leidenschaft und Lust. Oder kurz und knapp: vom Leben. Und genau wie in jenem kann man sich auch bei Munro niemals ganz sicher sein. Die Autorin versteht es auf beeindruckende Art und Weise mit dem wirkungsvollen Stilmittel der Reduktion eine „Theorie der unguten Spannung“ aufzubauen. Ihren Texten haftet eine nebelverhangene Herbstschwere an, „eine trübe Sehnsucht, eine regnerische, träumerische Traurigkeit, eine Schwere ums Herz“. Zudem stattet sie sie mit einer „intellektuellen Ernsthaftigkeit und materiellen Unordnung“ aus. Worte wie „vielleicht“, „wer weiß“, „falls möglich“ oder „hätte“ finden sehr oft Verwendung.
Obwohl sie sich sehr gut und flüssig lesen, fliegen sie einem nicht leichtfüßig zu wie ein Schmetterling, sondern strahlen eher eine „kontrastreiche unfreundliche Düsternis“ aus. Für den Erstleser der Autorin mag dieser schnörkellose Stil zunächst etwas gewöhnungsbedürftig wirken, beinahe so wie die kahlen Äste eines winterruhenden Baumes auf einen Tropenbewohner. Auf konkrete Erklärungen wartet man vergeblich. Die „Arbeit“ des Erkennens, Verarbeitens und Wertens überlässt sie dem Leser. Doch gerade dieses Unbestimmte und Vage, das von Heidi Zerning kongenial ins Deutsche übertragen wurde, versteht die scheue Kanadierin grandios auszudrücken. Lässt man sich auf diesen Stil ein, so wird man von dieser literarischen „Nacktheit“ Seite zu Seite, von Geschichte zu Geschichte mehr gefangen. Denn ist nicht auch das reale Leben nackt und nicht wie allerorts medial vorgegaukelt eine bunt-schillernde Glimmer-Glitzerwelt?
Fazit: „Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind oder dass wir sie uns nie verzeihen werden. Aber wir tun es – wir tun es immerfort.“ Alice Munro stößt den Leser ohne Kompromisse in diese „Dinge“ hinein. „Liebes Leben“ entpuppt sich dadurch nicht als fiktive Geschichte. „Liebes Leben“ ist das Leben selbst!

Alice Munro
Liebes Leben
Aus dem Englischen von Heidi Zerning
Titel der Originalausgabe: „Dear Life“
S. Fischer Verlag (Dezember 2013)
368 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100488326
ISBN-13: 978-3100488329
Preis: 21,99 EUR

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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