In Europa ist Demokratie untrennbar mit dem Sozialstaat konnotiert!“

Europäisches Parlament in Brussel, Foto: Stefan Groß

Prof. Dr. Peter Brandt (70) ist Historiker und Professor im Ruhestand für „Neuere Deutsche und Europäische Geschichte“. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit liegen auf den Gebieten: Nationalismus und bürgerlicher Wandel seit dem 18. Jahrhundert, vergleichende europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert sowie Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach dem mit dem ältesten Sohn des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt über Sozialdemokratie, die neue Single „Deutschland“ von Rammstein und den Rückzug von Sahra Wagenknecht.

Der Historiker und Sozialdemokrat Prof. Dr. Peter Brandt | © Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg

Herr Prof. Dr. Brandt, welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Prof. Dr. Peter Brandt: Ich verstehe Demokratie nicht nur als Staats-, sondern auch als Lebensform. Sie ist im Idealfall diejenige Ordnung, in der ein Gemeinwesen friedlich und in Freiheit gemäß den Interessen der in Wahlen festgestellten Volksmehrheit gestaltet werden kann.

In Europa ist Demokratie seit längerem untrennbar mit dem Sozialstaat konnotiert!

In Europa ist Demokratie seit längerem untrennbar mit dem Sozialstaat konnotiert, was darauf zurückverweist, dass die „Demokraten“ des 19. Jahrhunderts nicht allein ein formales Regelwerk im Sinn hatten.

Vieles, was üblicherweise mit „Demokratie“ assoziiert wird, fällt aber unter die Kategorie „Rechts- und Verfassungsstaat“, ohne den Demokratie zur Willkürherrschaft würde; identisch ist beides aber nicht. Für den Einzelnen ist wichtig die Verinnerlichung eines gewissen Respekts vor anderen Auffassungen und somit vor deren Trägern einerseits, das innerliche Akzeptieren von Mehrheitsentscheidungen, die gegen die eigene Meinung betroffen werden, andererseits.

Der Populismus in Deutschland hat Konjunktur. Die AfD verzeichnete zu Jahresbeginn über 35.000 Mitglieder und Förderer. Was steht für uns auf dem Spiel, wenn sich die Populisten durchsetzen?

Prof. Dr. Peter Brandt: Mit dem Stichwort der „illiberalen Demokratie“ hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban vor Jahren ein neues Modell angedeutet: auf die Wählermehrheit gegründet, von Freund-Feind-Schema geleitet und in nationaler Selbstverherrlichung europäische und globale Verantwortung zurückweisend. Aber natürlich unterliegen Abgeordnete der AfD, solange die Partei legal ist, keinen ausgrenzenden Sonderbestimmungen, ebenso wenig die Mitglieder und Wähler der Partei, die mit ihrem – aus meiner Sicht fehlgeleiteten – Protest ernst genommen werden müssen.

Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagten Sie einmal, die Sozialdemokratie habe „ihren Standort verloren“. Was meinen Sie damit? Sind die Tage der SPD als eine der beiden großen Volksparteien gezählt?

Prof. Dr. Peter Brandt: Die SPD (und die europäische Sozialdemokratie insgesamt) war bis vor etwa einem Jahrzehnt Volkspartei nicht nur im Hinblick auf ihre Mitglieder- und Wählerstärke, also auf ihre schlichte Größe, sondern zugleich die Partei des „arbeitenden Volkes in Stadt und Land“, wie es im Görlitzer Programm von 1921 heißt.

Von dem abhängig arbeitenden „Normalo“ hat sich die SPD indessen zu weit entfernt!

Dass dieses soziale Volk – die breiten Schichten der nichtprivilegierten Arbeitnehmer und die kleinen Selbstständigen – seine Struktur verändert hat, ist offensichtlich. Es sollte aber weiterhin Subjekt und Objekt sozialdemokratischer Politik sein. Von dem abhängig arbeitenden „Normalo“ hat sich die SPD indessen über Jahrzehnte zu weit entfernt: erstens durch die Resignation vor der meist mit dem Begriff „Neoliberalismus“ beschriebenen Entgrenzung des globalen Marktkapitalismus, insbesondere des Finanzkapitals, seit den späten 1970er Jahren – Gerhard Schröders Agenda 2010 gehört in diesen Zusammenhang – und zweitens durch das unverhältnismäßige Eingehen auf die Anliegen von minoritären Rand- und Sondergruppen bis hin zu einem Kult der Diversität.

Diesen Irrweg zu korrigieren, wird bei entsprechendem Willen Jahre in Anspruch nehmen und nicht mit einigen Vorstandsbeschlüssen erledigt werden können.

Die SPD hat Katarina Barley als Spitzenkandidatin für die Europawahl nominiert. Damit steht ihr ein harter Wahlkampf bevor. Wäre das Bundesjustizministerium nicht der „sicherere Hafen“ gewesen?

Prof. Dr. Peter Brandt: Das müssen Sie Frau Barley fragen. Ich bin jedenfalls froh, dass sich eine so tüchtige und sympathische Spitzenfrau für die wichtige Aufgabe der Wahl zum Europäischen Parlament bereit gefunden hat.

Sie sind einer der Unterstützer der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Warum brauchen wir eine solche Bewegung und hat diese nach dem Rückzug von Sahra Wagenknecht überhaupt noch eine Chance?

Prof. Dr. Peter Brandt: Die Idee der Sammlungsbewegung Aufstehen ist aus dem Empfinden entstanden, dass alle drei Parteien links der Mitte nicht oder nicht mehr imstande sind, dem breit vorhandenen Unmut vor allem über die – zunehmende – soziale Ungleichheit und der drohenden ökologische Katastrophe Ausdruck zu verleihen (auch wenn der gegenwärtige Höhenflug der Grünen ein anderes Signal zu geben scheint).

Sahra Wagenknechts Rückzug aus den provisorischen Spitzengremien ist eher ein Symptom!

Vor den ca. 170.000, die sich im vergangenen Herbst bei Aufstehen meldeten, sind über drei viertel parteilos. Die Dinge könnten schneller in Bewegung kommen als die Meisten denken, diesmal nicht nach rechts. Ich muss aber einräumen, dass grundlegende Strukturprobleme von Aufstehen auf der gesamtstaatlichen Ebene nicht gelöst werden konnten. Insofern ist Sahra Wagenknechts Rückzug aus den provisorischen Spitzengremien eher ein Symptom.

Stichwort Nationalsozialismus: Im Video zur neuen Single „Deutschland“ von Rammstein sind die Bandmitglieder in KZ-Bekleidung zu sehen. Eine Grenzüberschreitung, sagen Kritiker. Stimmen Sie dem zu?

Prof. Dr. Peter Brandt: Generell sehe ich ein Problem in der Art der Auseinandersetzung des heutigen Deutschland mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, und da klammere ich die hervorragende wissenschaftliche Forschung ebenso aus wie die weit entwickelte Gedenkstättenlandschaft.

Nachdem in den 50er Jahren die Lesart dominierte, eine Art Gangsterbande habe ab 1933 die moralisch intakt gebliebene bürgerliche Gesellschaft gewissermaßen gekapert, manipuliert und zum Gehorsam gezwungen, setzte mit den großen Prozessen der mittleren 60er Jahre, dann mit der Studenten- und Jugendrevolte der späteren 60er eine Radikalisierung ein mit dem Gestus nachträglichen antifaschistischen Widerstands.

Der Blick auf die Großeltern- und Urgroßelterngeneration gerinnt zunehmend zu einer Anklage der Kollektivschuld in der Vergangenheitsform!

Dabei wurde nun auch die Frage nach dem Zusammenhang von Kapitalismus in der Existenzkrise und faschistischer Krisenlösung sowie nach der Beteiligung der gesellschaftlichen Eliten, insbesondere des Großkapitals, an dem Geschehen der NS-Zeit gestellt. Inzwischen liegt der Fokus eher auf dem vermeintlichen Konsens und der Beteiligung des Volkes insgesamt. In einer durch den zeitlichen Abstand begünstigten eigenartigen Entwirklichung des Nationalsozialismus und seiner Massenverbrechen – man kann sich die damaligen Deutschen kaum noch als normale menschliche Wesen vorstellen – trotz „Dauerpräsentation unserer Schande“ (Martin Walser) gerinnt der Blick auf die Großeltern- und Urgroßelterngeneration (weniger auf die Einzelnen) zunehmend zu einer Anklage der Kollektivschuld in der Vergangenheitsform.

Da diese ganze Problematik im Hinblick auf „richtiges“ Sprechen darüber oder den „angemessenen“ künstlerischen Ausdruck davon unvermeidlicherweise ein wahres Minenfeld hinterlassen hat, eignet es sich vorzüglich für Provokationen durch Tabu-Brüche. Dafür muss man kein Neonazi oder Rechtsradikaler sein. Die Provokationen sind meistens geschmacklos, so auch in diesem Fall, aber es ist nicht leicht zu entscheiden, wo, sofern nicht zwingend vorgeschrieben, jeweils die Polizei oder der Staatsanwalt einschreiten sollten.

Von Peter Heinemann stammt das Zitat: „Einen bekannten und einflussreichen Politiker als Vater zu haben, ist Ehre und Bürde zugleich!“ Inwieweit hat Ihr Vater Ihren Lebensweg geprägt und beeinflusst?

Prof. Dr. Peter Brandt: Dem Satz ist voll zuzustimmen. Ob ich selbst der Geeignete bin, Ihre Frage zu beantworten, weiß ich nicht; dabei geht es ja auch um Tiefenpsychologie.

Im Lauf des Lebens ist mir immer bewusster geworden, wie sehr ich durch Grundhaltungen des Vaters wie der Mutter geprägt worden bin.

Im Lauf des Lebens ist mir immer bewusster geworden, wie sehr ich durch Grundhaltungen des Vaters wie der Mutter (Gerechtigkeitsstreben, „compassion“, Altruismus, Schutz der Schwächeren, Eigensinn, Empörung gegen nicht legitimierte Machtansprüche, Toleranz, Selbstironie, Hilfsbereitschaft, grundsätzliche Achtung vor allen Mitmenschen) geprägt worden bin.

Ein besonderes Problem der Kinder herausragender Eltern besteht wohl darin, sich von der Zuschreibung dieser Nachkommenschaft innerlich frei zu machen.

Aber geprägt wird man nicht nur im Positiven (niemand hat ausschließlich positive Wesensmerkmale) und nicht allein durch die biologischen Vorfahren. Ein besonderes Problem der Kinder, namentlich der Söhne herausragender Eltern besteht wohl darin, sich von der – in jungen Jahren unvermeidlichen – Zuschreibung dieser Nachkommenschaft innerlich frei zu machen, sich also auch nicht zwanghaft davon abgrenzen zu müssen. Wenn es funktioniert, dann hat in der Regel die berufliche Leistung einen beträchtlichen Anteil daran.

Vielen Dank für das Interview Herr Prof. Dr. Brandt!

Quelle: Gesichter der Demokratie

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