Interview mit Günther H. Oettinger – „Ich wünsche mir mehr Europa“

Günther H. Oettinger, Foto: Dr. Dr. Stefan Groß

Vor einem Monat waren Europawahlen. Die EVP hat nicht so gut abgeschnitten, aber ist immer noch die stärkste Kraft. Rechtsaußen Bündnisse sind stärker geworden – wie beurteilen Sie einen Monat danach die Lage?

Erfreulich ist, dass die Wahlbeteiligung deutlich nach oben ging. Wenn sie sehen, dass wir die ersten Direktwahlen 1979 hatten und die Wahlbeteiligung damals bei 61 % lag, so ging diese über die Jahre runter auf 41 % bis 51% zurück. Dies zeigt, dass die Bürger heute wieder erkennen, dass Europa für sie und ihr Leben und ihren Alltag wichtig ist. Derzeit haben wir, vor den Neonationalisten und Populisten, eine ganz klare proeuropäische Mehrheit im neuen Europäischen Parlament. Deswegen sind nun alle demokratischen Kräfte, als Sozialisten, als Liberale, als Abgeordnete der Macron-Bewegung, als Grüne oder als Christ-Demokraten aufgerufen, sich zusammen zu finden und eine handlungsfähige Mehrheit, gerade auch bei der Wahl von wichtigen Funktionen, herzustellen.

Boris Johnson will ein neues Brexit Abkommen. Was ist das Problem, wenn Großbritannien tatsächlich unkontrolliert aus der EU austritt?

Nun warten wir ab, wer Parteivorsitzender und Premierminister wird. Sollte es Boris Johnson sein, dann müssten wir das respektieren. Die Briten haben die freie Wahl und die Tories sind alleinentscheidend, was ihren Parteichef und dem daraus sich ergebenden Premierminister angeht. Und mit Sicherheit wird Jean-Claude Juncker die Gespräche mit dem neuen Premierminister aufnehmen und darüber nachdenken, welche Ideen Johnson bezüglich des Austritts des Königreichs hat. Aber das Abkommen wurde fair verhandelt, alle Fragen wurden geklärt wie man geordnet die Europäische Union verlassen kann – und deswegen finde ich Nachverhandlungen oder eine Erwartung, dass sich alles verändert, nicht für realistisch.

Die Türkei, Serbien, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Island, Bosnien-Herzegowina und der Kosovo streben in die EU. Manfred Weber ist gegen einen Beitritt der Türkei, Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür. Ist die Türkei nach der vergangenen Wahl des Bürgermeisters von Istanbul und dem damit einhergehenden Verlust von Erdogans AKP wieder näher im Fokus von Gesprächen? Was bedeutet es für die derzeit sehr uneinige EU, wenn neue Staaten zum gespaltenen Europa hinzukommen?

Wenn sie nun sehen, dass China 1,386 Milliarden Einwohner und Indien 1,339 Milliarden hat, da könnte die EU wachsen, wie sie will. Sie wird nie mehr als halb so groß wie die größten Länder. Wenn wir die Welt von Morgen ein wenig mitgestalten wollen, dann brauchen wir ein vereinigtes Europa. Und der West-Balkan gehört dazu. Serbien, Albanien, Nord-Mazedonien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Montenegro sind europäische Kernländer. Das ehemalige Jugoslawien zwischen Griechenland und Kroatien gelegen – und die anderen Länder, werden nicht in den nächsten drei Jahren beitreten, aber vor Ende des nächsten Jahrzehnts sollten sie soweit sein – und wir sollten bereit sein, sie aufzunehmen. Auch um die Region zu stabilisieren und nicht Moskau, Ankara oder den Chinesen einen zentralen Einfluss zu geben. Die Türkei, unter Erdogan wird nicht Mitglied. Aber es gibt eine junge Generation in der Türkei, die mit Mehrheit einen Bürgermeister in Istanbul gewählt hat, und diese sollten wir nicht verprellen. Deswegen glaube ich, dass die Türkei den Kandidatenstatus für den Beitritt behalten sollte. Aber es gibt derzeit keine Fortschritte, weder in der Demokratie noch in der Marktwirtschaft, noch in Sachen Rechtsstaatlichkeit, noch in Sachen Freiheit. Und deswegen ist der Beitritt der Türkei im Eisfach. Dort bleibt er auch – dort kann er rausgeholt werden, wenn sich die politischen Verhältnisse in der Türkei ändern.

Das Spitzenkandidatenmodell steht derzeit wieder auf dem Prüfstand. Emmanuel Macron will es aushebeln und votierte nicht für EVP-Chef Weber. Letztendlich entscheiden die Regierungschef über diesen Posten. Was aber bedeutet dies für das Europäische Parlament, einen Gesichtsverlust?

Macron ist Präsident eines großen Landes und er stellt mit den Abgeordneten, die seiner Regierung angehören, und die eine beachtliche Kraft im neuen Parlament sind, eine Macht dar, die es bislang nicht gab. Wir müssen seine Linie und Strategie respektieren, aber er sollte sich nicht übernehmen. Wahlen leben von Personen. Deswegen will der Bürger vor der Wahl wissen, wer für das wichtigste Amt Europas, das Amt des Kommissionspräsidenten, in Frage kommt. Deswegen ist der Spitzenkandidat eine logische und gute Entwicklung, so wie bei der Bundestagswahl auch. Vor der Wahl muss klar sein: ist es Frau Merkel, ist es Herr Steinmeier? Wer tritt an – und dann kann der Wähler entscheiden, wem er vertraut.

Bundesbankchef Jens Weidmann wird für die Nachfolge von Mario Draghi gehandelt. Wie stehen seine Chancen?

Jens Weidmann ist ein hochbefähigter Notenbanker. Er spielt jetzt schon in der Europäischen Zentralbank eine wichtige Rolle, führt die Bundesbank sehr souverän. Er hat nach meiner Überzeugung eine klare und kluge Ordnungspolitik – und diese Aufgabe wird sicherlich im Zuge der Benennung der anderen Spitzenpositionen vergeben werden. Da kommt Jens Weidmann in Frage, aber es gibt eben auch andere Banker, in Frankreich, in Finnland, die genau so qualifiziert sind.

Europa braucht Visionäre. Was wünschen Sie sich von diesem Europa, das derzeit Zeit tief gespalten ist?

Ich wünsche mir eine weit stärkere europäische Union. Europa sollte nur die Fragen verantworten, die man besser europäisch löst. Ich träume von einer europäischen Armee, ich baue darauf, dass der West-Balkan im nächsten Jahrzehnt noch Mitglied wird – damit Europa vollendet wird. Ich traue Europa zu, durch gemeinsame Forschungsprojekte den Wettbewerb mit China zu bestehen. Europol sollte zum Europäischen FBI werden, um einen Europäischen Datenpool zu schaffen. Und auch der Klimaschutz geht nur europäisch. Nicht national.

Fragen: Stefan Groß für The European

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