Marx‘ Darm: Eine Randnotiz zum Projekt „GEGENWARTEN – PRESENCES“ in Chemnitz, 15. August bis 25. Oktober 2020

Marx Darm

Chemnitz: sächsisches Manchester, sozialistische Musterstadt

Das Public Art-Projekt GEGENWARTEN | PRESENCES findet im Sommer 2020 in Chemnitz statt. 20 Künstlerinnen, Künstler und Kollektive präsentieren sich mit ortsspezifischen Arbeiten, Skulpturen, Installationen und Performances. Dabei setzen sie sich mit der Geschichte und Gesellschaft von Chemnitz auseinander.

Im 19. sowie im frühen 20. Jahrhundert zählte Chemnitz zu den reichsten Industriestädten Deutschlands, wovon heute noch prachtvolle „Industrie-Kathedralen“ – wie etwa der Wirkbau-Turm – zeigen. Berthold Sigismund beschrieb bereits 1859 Chemnitz als „‚das sächsische Manchester‘“.

Im englischen Manchester lebte Friedrich Engels, um seine kaufmännische Ausbildung in der väterlichen Baumwollspinnerei Ermen & Engels zu beenden. Die wirtschaftlichen Verhältnisse und Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken bildeten den Hintergrund der Kapitalismuskritik, die er später gemeinsam mit seinem Weggefährden Karl Marx ausarbeitete.

Deshalb wurde wohl nicht zufälligerweise im DDR-Sozialismus gerade Chemnitz als Karl-Marx-Stadt eine sozialistische Musterstadt. Die Kunstwerke des sozialistischen Realismus dominieren bis heute das Stadtbild. Das wohl bekannteste unter ihnen ist das Karl-Marx-Monument, eine 7,1 m (mit Sockel über 13 m) hohe und ca. vierzig Tonnen schwere Plastik, die nach einem Entwurf des sowjetischen Künstlers Lew Kerbel realisiert und 1971 eingeweiht wurde.

Chemnitz: kulturell-soziales Spannungsfeld

Die Wende brachte tiefe ökonomische, bauliche, politische und sozio-kulturelle Einschnitte mit sich, was sich auch in der Rückbenennung von Karl-Marx-Stadt in Chemnitz zeigte. 2018 richtete sich nach dem Tod von Daniel H. das öffentliche Augenmerk auf Chemnitz – infolge des zwar bereits vorhandenen, nun aber virulent gewordenen Rechtextremismus, der aber keinesfalls als nur ein Problem von Chemnitz zu verstehen ist.

Abschied von der „Ikonografie“

Kunst im öffentlichen Raum von Chemnitz wird sich in diesem Spannungsfeld bewegen müssen. In diesem Sinne ist auch die Arbeit der Künstlerinnen Mona Chişa & Lucia Tkáčová zu verstehen. Ihre skulpturale Installation „Der Darm“ knüpft an das „ikonische Wahrzeichen“ der Stadt, das Marxmonument, an. Die Künstlerinnen brechen mit der traditionellen Bildnisdarstellung von Menschen als Kopf oder als Kopf mit Teilen von Schulter und Brust. Sie persiflieren quasi die patriachale „Heldendarstellung“ im öffentlichen Raum. Mit dem im gleichen Größenverhältnis wie Marx’ Kopf rekonstruierten Darm rücken sie ein lebenswichtiges Organ in den öffentlichen Fokus.

Sie verorten den Sitz des Bewusstseins nicht nur um Kopf, sondern auch in den Händen, den Innereien – Herz und Darm. Interessanterweise wird heute gerade der Darm häufig als Spiegel unserer Seele bezeichnet. Er hat wichtige Bedeutung für das Wohlbefinden des Menschen. Vieles lässt sich mit dem Zusammenspiel von Darm und Gehirn erklären. Der Darm reagiert empfindlich auf veränderte Umgebungsbedingungen und auf Emotionen. Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes sind heute fast zum Synonym einer ganzen Reihe von Erkrankungen der modernen Wohlstandsgesellschaft geworden. Gerät die Verdauung ins Stocken, tritt Unwohlsein auf, uns geht es psychisch schlechter. Wenn wir anderseits unsere Darmflora stärken, geht es auch unserer Psyche besser. Darm und Psyche hängen eng zusammen. Stress – die Grundstimmung der modernen Leistungsgesellschaft – schlägt auf den Magen oder auf die Verdauung. Wenn „der Kopf versagt“, hören wir auf unser Bauchgefühl.

Während der Kopf häufig mit der ratio (Vernunft, Verstand) assoziiert wird, steht der Darm im engen Zusammenhang mit der emotio (Gefühl). Der Darm wird zum ausgleichenden Gegengewicht des Kopfes, wofür symbolisch die verschiedenen Formen der beiden Kunstwerke stehen könnten: Den schroffen und starren Formen der kühlen Rationalität des Marxkopfes stehen die weichen, fließenden, organischen und warmen Formen des Darmes gegenüber. Im Hinblick auf das Verhältnis von Kopf und Darm des menschlichen Körpers könnte man gemäß Marx’scher Dialektik formulieren: Das eine kann nicht ohne das andere, beide stehen einander entgegen und bedingen einander zugleich. Damit stellt sich die Installation von Mona Chişa & Lucia Tkáčová auch gegen die polarisierenden Entgegensetzungen, die sowohl die alte Philosophie als auch das moderne Denken durchziehen: wie etwa Vernunft – Gefühl, Seele – Leib, Mann – Frau, öffentlich – privat.

Basis und Überbau / Leib und Geist

Im Zentrum des Materialismus’ von Marx stehen die konkreten Lebensverhältnisse: Rechtsverhältnisse und Staatsformen wurzeln demnach in den materiellen Lebensverhältnissen (vgl. MEW Bd. 13, S. 8). Der Mensch ist in diese von seinem Willen unabhängigen materiellen Lebensverhältnisse hineingestellt. Die Gesamtheit der materiellen Lebensverhältnisse bildet für Marx die reale Basis, auf der sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt (vgl. MEW Bd. 13, S. 8). So ist es für Marx also letztlich das Leben, das das Bewusstsein bestimmt (vgl. MEW Bd. 3, S. 27). Der Geist wird somit zum Epiphänomen der Materie. Wenn es die Materie nicht mehr gibt, gibt es auch den Geist nicht mehr.

Das Individuum ist bei Marx wesentlich ein gesellschaftliches Wesen, es wird in seiner Wirklichkeit als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW Bd. 3, S. 6) gedacht.

Mit diesem holistischen Ansatz hat Marx sehr genau herausgearbeitet, wie stark bereits bestehende Lebensverhältnisse und institutionelle Strukturen die Handlungen und Motive des Menschen beeinflussen können. Die Erkenntnis, dass die Wirtschaft alle Lebensbereiche durchdringt und im engen Zusammenhang mit Philosophie, Wissenschaft und anderen Bereichen des kulturell-geistigen Lebens steht, ist gewiss als sein bleibendes Verdienst zu betrachten (vgl. Petersen/Faber, S. 119). Daraus schließt Marx, dass der Mensch nur Freiheit erlangen könne, wenn er alle Verhältnisse umwerfe, innerhalb derer er „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW Bd. 1, S. 385).

Aber in dem Versuch, das Wesen des Menschen in ökonomische Strukturen aufzulösen, geht der Bezug zur konkreten Leiblichkeit des Menschen (für die gerade der Darm stehen mag) verloren, damit bleiben die Ideen von Marx abstrakt, rational und „unleiblich“; wofür keine bessere Metapher als der überdimensionale Kopf des Marxmonuments stehen könnte.

Mit Schopenhauer und Nietzsche avanciert der Leib zu einem zentralen philosophischen Begriff. Er behält diese Stellung in der Anthropologie des 20. Jh. bei. Merleau-Ponty führt den Leib als „eigenen Leib“ (corps propre) ein. Als fungierender und lebendiger Leib bringt er Erfahrungen zustande und ist dabei in der Erfahrung selbst mit gegenwärtig. Für Merleau-Ponty ist die Leiblichkeit die verbindende Stelle zwischen sich selbst und dem anderen. (https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/leib-leiblichkeit/1203).

Der Leib manifestiert sich in einer Außen- und einer Innengegebenheit. Nach Außen ist der Leib das Ausdrucksfeld des Lebendigseins, des Verhaltens und der Gefühle, nach Innen ist er das Feld des Welterlebens (vgl. Diemer, S. 89 f.). Gerade der Darm erscheint als Inbegriff des Leiblichen und dessen Außen- und Innengegebenheit: Er stellt dem Körper einerseits die zum Leben notwendigen Bausteine bereit, andererseits ist er innerer Ort des Empfindens und Reagierens auf äußere Einflüsse und innere Stimmungen. Leibliches und Geistig-Seelisches kommen im Darm zusammen.

Exkremente und üble Gerüche

„Der Darm“ lässt eine weitere Deutungsdimension zu: Er mag auch für die unverdaulichen Reste und üblen Gerüche stehen, die im Verdauungskanal der sozialistischen Diktatur aus den Marx’schen Ideen geworden sind: Absolutheitsansprüche, Beschneidung von Freiheitsrechten und neue Knechtschaften. Heute wird der Darm zum warnenden Symbol dafür, dass wir wieder in einer Zeit leben, in der Begriffe wie „Freiheit“, „Bürger“, „Demokratie“, „Volk“ unter dem Einfluss demokratiefeindlicher und absolutistischer Ideologien zu pervertieren beginnen.

Der Metabolismus

Nicht zuletzt gelingt es den Künstlerinnen, die Kunst vom „Sockel herabzuholen“. Im Unterschied zum thronartigen Marxmonument, das im öffentlichen Raum zwar eine hohe Präsenz hat, sich aber ansonsten den Zugriffen der Öffentlichkeit entzieht, kann „Der Darm“ von Besucherinnen und Besuchern, vor allem aber von Kindern, als Liege-, Sitz- und Spielfläche genutzt werden: Es „kömmt“ eben auch in der Kunst darauf an, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern.

Literatur

Diemer, A.: Elementarkurs Philosophie. Philosophische Anthropologie. Düsseldorf und Wien 1978.

Marx, K., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. in: MEW, Bd. 1, S. 201–391.

Marx, K., Thesen über Feuerbach. in: MEW, Bd. 3, S. 5–7.

Marx, K., Zur Kritik der Politischen Oekonomie. Erstes Heft. Berlin 1859. in: MEW, Bd. 13, S. 1–160.

Petersen, Th. / Faber, M., Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft. Bestandaufnahme – Überprüfung – Neubewertung. Freiburg / München 2014.

Internetquellen

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/leib-leiblichkeit/1203

Über Kay Herrmann 9 Artikel
Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann. Studium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.