Morbus DDR oder: „Welch Glück, dass wir das hinter uns haben.“ (G. de Bruyn an S. Berg)

Unsere inneren Einstellungen, diese tief im Unterbewusstsein verwurzelten Bewertungen von Menschen, Situationen, Ideen etc., prägen unser Denken und Fühlen. Sie dienen der schnellen Orientierung im „Chaos“ des alltäglichen Lebens und steuern das Verhalten (mehr oder weniger bewusst). Entstanden durch Prägung und Konditionierung bastelt sich jeder seine ureigene Welt zusammen und lebt sie auch. In kritischen Momenten, an Wegscheiden oder Wendepunkten, setzt man sich zuweilen ganz bewusst mit ihnen auseinander. Man schaut in sein Innerstes und sucht nach möglichen, eigenen Kraftquellen. Das können Kindheitserinnerungen sein, Entwicklungsverläufe, aber auch individuelle Brüche. Genau so ging es Stefan Berg, als man ihn mit der Diagnose „Morbus Parkinson“ konfrontierte. Das Wissen um diese Krankheit, die in ihm schlummert, setzte bei ihm eben jenen zuvor beschriebenen Motor in Gang. Dessen Ergebnis liegt nun in gedruckter Form vor. Seine Korrespondenz als Siebzehn- bis Achtzehnjähriger mit dem damals 55-jährigen Schriftsteller Günter de Bruyn aus den Jahren 1982 bis 1983 weist dabei für ihn eine erstaunliche Analogie auf. „Beim Erinnern, Nachlesen und Nachfühlen wurden mir allmählich die Parallelen bewusst: das Gefühl der Bedrohung damals und heute, die Erfahrung von Verlust damals und heute.Die gelegentliche Verzweiflung über die mir auferlegte Beschränkung verbindet mich mit dieser Zeit, der Versuch der Abwehr, des Widerspruchs und Widerstands. Gegen den Morbus DDR. (…)Aus dieser Perspektive verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, verlieren die äußeren Umstände an Bedeutung, werden zu Hüllen, die man abstreifen kann und hinter denen ich mich selbst erkenne: Prägungen, Ängste, Hoffnungen, Verhaltensmuster.“
Abgedruckt sind neben den Briefen und Karten, die sich Berg und de Bruyn schrieben, auch Stasiprotokolle und -berichte, die von einer permanenten Observierung der beiden Autoren zwecks „rechtzeitigem Erkennen und Verhindern von feindlich-negativen Aktivitäten“ Zeugnis ablegen. Ein einleitendes Vorwort von Stefan Berg und ein Nachwort von Günter de Bruyn ergänzen diesen bemerkenswerten schmalen Band. Vor allem der Korrespondenz des jungen Kasernierten, das Ausbreiten seiner Sorgen und Fragen vor dem Älteren, wohnt tatsächlich so etwas wie ein Landgang inne: Ein persönliches „Leerschreiben“, das ihn nach „stürmischer See“ wieder aufrichtet. Immer wieder bittet der hochintelligente Berg Günter de Bruyn um Nachdenkenswertes,um der kulturellen Verarmung entgegenzuwirken und um seiner aufgezwungenen Enge und Muffigkeit neue Inhalte und Formen zu geben. Der Schriftsteller versorgt ihn mit Kurzgeschichten und gibt ihm väterliche Ratschläge: „Ein bisschen Sturheit möchte ich Ihnen wünschen, seelische Hornhaut, Gleichgültigkeit – aber ich weiß nicht recht, ob das wünschenswert ist. Denn so ein Normal-Anpasser, mit dem man machen kann, was man will, sollen Sie ja auch nicht werden.“
Entstanden ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis über die Grauzone mit Namen DDR im Allgemeinen und die der Bausoldaten im Besonderen: „Einen Zivildienst – wie im Westen Deutschlands – gibt es nicht in der DDR. Wer die Wehrpflicht von 18 Monaten verweigert, der landet im Gefängnis. Es sei denn, er lässt sich auf einen Kompromiss ein und wird Bausoldat.“ Das Buch offenbart nicht nur das schwer belastete Verhältnis der Staatspartei SED zu den Künstlern des Landes und den Unruhefaktor, zu dem Literatur damals avancierte, sondern auch die zunehmende Angst und Lähmung der politischen Obrigkeit gegenüber der neuen Generation, „die angstfrei diskutiert und sich nicht länger mit Phrasen abspeisen lassen will.“ Und letztendlich ist es auch ein sehr intimer Blick in den Reifeprozess von Stefan Berg, der abschließend feststellt: „Hätte mir vor der Armeezeit jemand gesagt, daß auch diese Zeit mir etwas gegeben wird – ich hätte ihn doch etwas skeptisch betrachtet. Nun aber lässt sich das doch eindeutig feststellen. (…) Ich merke: Trotz Gefangenschaft – Entwicklung ist nicht aufhaltbar. Das Leben macht dir Spaß.“

Fazit: „In der Rückschau ist diese Armeezeit wie eine erste schwere Krankheit, und diese Briefe sind eine Medizin, nach der jeder bedrohte Mensch dürstet – Briefe, für die das Gefühl der Dankbarkeit nicht nachlässt.“ „Landgang“ entpuppt sich als kleines, aber intensives Leseerlebnis, das vor allem einen unglaublich reifen jungen Menschen zeigt: Stefan Berg, „der den Anpassungsdruck der Schule offensichtlich widerstanden hatte, setzte den Mitläufern und Nachbetern, die ihm überall im Leben begegneten, sein Verlangen nach Ehrlichkeit entgegen, dass ihnen in meinen Augen natürlich ehrte, ihn aber auch gefährdete.“ So steht der Auszug aus dem Lied „Ermutigung“ des 1976 aus der DDR ausgewiesenen Liedermachers Wolf Biermann zugleich für den Inhalt des Textes, als auch für den ganz persönlichen Werdegang von Stefan Berg:

„Wir wolln es nicht verschweigen
In dieser Schweigezeit
Das Grün bricht aus den Zweigen
Wir wolln das allen zeigen
Dann wissen sie Bescheid.“

Stefan Berg, Günter de Bruyn
Landgang. Ein Briefwechsel
S. Fischer Verlag (August 2014)
144 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100001567
ISBN-13: 978-3100001566
Preis: 17,99 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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