Robert Seethaler – Das Feld – „Erst war ich Mensch, jetzt bin ich Welt.“ oder: Erinnerst du dich?

Friedhof Rom, Foto: Stefan Groß

Friedhöfe haben sich im Laufe der letzten Jahrhunderte neben ihrer Funktion als Stätte der Ruhe immer mehr auch zu einem Ort der Besinnung entwickelt. Gerade größere Anlagen dehnten sich zunehmend in Richtung einer Parklandschaft und erfüllen dadurch immer stärker auch Erholungsfunktion. Mangels anderer Grünflächen sind sie oft die einzigen Naturoasen, in denen sich gestresste Städter von der Alltagshektik erholen und im Grünen zu sich selbst finden können.
Auch Robert Seestädters neues Buch ist auf eben solch einer Ruhestätte angesiedelt, die auf einmal sehr lebendig und aktiv wird. Denn die Stimmen der Toten beginnen zu erzählen…

Ein Mann sitzt bei schönem Wetter jeden Tag auf einer Bank unter einer Birke auf dem Friedhof von Paulstädt. „Das Feld“ nennen die Einwohner den ältesten Teil dieser Ruhestätte. Er mag diesen Ort, an dem er seine Gedanken schweifen lassen und über die Toten nachdenken kann. „Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. Natürlich würden sie vom Leben sprechen. Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.“ Und genau das tun sie auch. Der österreichische Autor lässt 28 bereits Begrabenen zu Wort kommen, bevor am Ende Nummer 29, Harry Stevens, der Einleitende, selbst das Wort ergreift… nicht mehr auf der Bank unter der Birke sitzend, sondern von unten wie all die anderen.

So als könnten sie auf einmal wieder sprechen, erheben die ehemaligen Paulstädter ihr Wort. Flüsternd der eine, fordernd die andere. Sie heißen Hanna Heim, Gerd Ingerland, Louise Trattner oder Heribert Kraus. Selbst der ehemalige Bürgermeister Heiner Joseph Landmann und Pfarrer Hoberg, der seine eigene Kirche anzündete, haben etwas zu sagen. Doch worüber „plaudern“ sie? „Ihn überkam der Verdacht, dass die Toten genau wie die Lebenden nur Belanglosigkeiten von sich geben würden, weinerliches Zeug und Angebereien. Sie würden Beschwerde führen und Erinnerungen verklären. Sie würden quengeln, zetern und verleumden. Und natürlich würden sie über Krankheiten reden, vielleicht würden sie sogar ausschließlich über ihre Krankheiten reden, über Siechtum und Sterben.“ Mitnichten! Genau das tun sie kurioserweise nicht. Ihre Berichte kommen eher Lebensanalysen gleich. „Wer war ich? Wer wollte ich sein? Wer konnte ich sein?“ Es hat den Anschein, dass sie in ihrem dunklen Nichtstun der Wahrheit auf der Spur wären, die sie zu Lebzeiten entweder nie fanden, nicht finden wollten oder es mit ihr nicht so genau nahmen. „Die Welt wandelte sich, die Wahrheit blieb stets hinter Wirklichkeit zurück und die Empörung wich einem gar nicht unangenehmen Gefühl von Resignation.“, kann man hören.

Manche reden viel, ausufernd und ausführlich. Ihre Berichte dehnen sich über mehrere Seiten. Andere wiederum bleiben kurz und knapp mit nur wenigen Sätzen und Worten. Die eine erzählt ihren Bericht wie durch einen Schleier von Traurigkeit, mit verblassten Bildern, aus „Namen und Daten, die sich nicht mehr mit Leben füllen ließen“, der andere berichtet voller Enthusiasmus vom „Gerümpel“ seines Lebens. Wieder andere halten Zwiesprache mit dem ehemaligen Ehepartner. Ehrlich sind sie geworden: „Im Tod liegt die Wahrheit, doch man darf sie nicht sagen. Lügen ist natürlich erlaubt, aber das will ich nicht.“ Philosophisch auch: „Ganz unmerklich verwandelt sich die Sehnsucht nach den ersten Malen in die Hoffnung auf die letzten.“ Sophie Breyer fasst sich am kürzesten und bringt vielleicht gerade dadurch alles auf den Punkt. Nur ein Wort ruft sie nach oben: „Idioten.“

„Es sind die Gesichter, die bleiben, heißt es. Aber das stimmt nicht. Keines bleibt. Nicht einmal das eigenen. Gerade das eigene nicht.“, ist zu lesen. Robert Seethaler hat sie den Toten zurückgegeben. In 29 einfühlsamen Porträts restauriert er sie und zeichnet sie dadurch unglaublich lebendig. Sein ungewöhnliches Romankonstrukt gestaltet sich als sehr einfühlsam, substantiell und tiefgreifend. „Durch die offenen Fenster, an der Wäsche vorbei, atmen die Häuser die Reste der Nacht aus. Darunter liegen die ausgeschüttelten Träume im Gras.“ Träume, die auf jeden von uns passen könnten. Und so kann sich letztendlich auch Harry Stevens, der ehemals stille Zuhörer auf seiner Bank unter Birke die Frage beantworten: „Als Lebender über den Tod nachdenken. Als Toter vom Leben reden. Was soll das? Die einen verstehen vom anderen nichts. Es gibt Ahnungen. Es gibt Erinnerungen. Beide können täuschen. (…) Aber immerhin habe ich jetzt vom Sterben eine Ahnung: Es beendet die Sehnsucht, und wenn man stillhält, tut es gar nicht weh.“

Robert Seethaler
Das Feld
Hanser Berlin (4. Juni 2018)
239 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446260382
ISBN-13: 978-3446260382
Preis: 22,00 EURO

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.