Stefan Groß triftt Ursula Männle zum Interview – Wir müssen weiter an Europa bauen

Prof. Dr. Ursula Männle, Foto: Dr. Dr. Stefan Groß

Frau Professor Männle, wenn Sie politisch in Ihrem Leben zurückblicken, was war das Ereignis, das Ihnen im Gedächtnis als Schlüsselerlebnis bleibt?

Das Ereignis, das mich am meisten ergriffen hat, war die Öffnung der Mauer. Ich war damals Bundestagsabgeordnete und saß gerade im Haushaltsausschuss. Wir wurden ins Plenum gerufen, dem ehemaligen Wasserwerk in Bonn. Als wir dann dort angekommen waren, sangen alle, sogar die Grünen, die Nationalhymne. Der Gesang war stimmlich furchtbar, weil alle vor Rührung kaum singen konnten. Also für mich war das Anstimmen der Nationalhymne in dem kleinen Wasserwerk, das gerammelt voll war, das wohl beeindruckendste Ereignis meiner politischen Laufbahn. Später habe ich viele große Ereignisse erlebt, und es war immer spannend in der Politik, aber so spannend wie 1989 war es nicht mehr. Ich bin wirklich dankbar, dass ich den Mauerfall und die Wiedervereinigung erleben durfte. Aber nach wie vor, so scheint es mir, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist die Integration noch nicht wirklich gelungen. Aber mit Blick auf die Jubiläums-Tage im November freue ich mich auf die weiteren Anstrengungen zur Aufarbeitung dieses Teil der innerdeutschen Geschichte.

Nun bedeutet Politik Veränderung, auch in der Demokratie. Vor welchen politisch-neuen Herausforderungen steht die Bundesrepublik im Jahr 2019?

Ich sehe eine große Herausforderung im Aufkommen der neuen Rechten, auch der AFD. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich sein könnte, dass 70 Jahre nach der Einführung des Grundgesetzes, derartige populistische Gruppen wieder im Deutschen Bundestag vertreten sind. Und noch dazu so viele Anhänger und Akzeptanz haben. Um hier wieder mehr Demokratie zu wagen, müssen wir gut argumentieren und überzeugen. Nie war die Demokratie mehr herausgefordert als in diesen Tagen. Und das ist auch kein Vergleich beispielsweise zu den 1960er Jahren. Wir müssen wieder über die grundlegenden Werte unserer Demokratie aufklären. Auch in unserer Stiftung besteht daran ein nachhaltiges Interesse. Also wir müssen immer wieder erklären, was das Besondere unserer Demokratie ist, warum diese schützenswert ist. Und dies gilt es gerade vor den neuen Herausforderungen von Islamismus und Zuwanderung zu tun. Aus diesem Grund bemüht sich die Hanns-Seidel-Stiftung um nachhaltige Aufklärung in Zeiten, in denen die Menschen verunsichert sind und die demokratische Ordnung sogar in Frage stellen. Und dass an unserer Demokratie Interesse bei der Bevölkerung besteht, zeigt der Zulauf zu unseren Veranstaltungen, die sich genau mit diesen Demokratisierungsfragen beschäftigen. Die Hauptfrage bleibt aber die der Integration – nicht nur die Integration der Flüchtlinge aus Afrika, Afghanistan, dem Kongo oder Nigeria, sondern auch die der vielen Menschen, die bedingt durch die Freizügigkeit der EU zu uns kommen. Während die Integration sicherlich eine innenpolitische Hauptaufgabe bleibt, sind die außenpolitischen Herausforderungen ebenso sehr komplex. Wie gestaltet sich das Verhältnis der EU zu Amerika und China, wie geht es mit Russland weiter? Die Frage bleibt, wie sich Europa so aufstellen kann, um weiter handlungsfähig zu agieren. Früher war Deutschland ein Vorbild für viele Länder, die die Bundesrepublik nachahmten, heute ist es schwieriger, weil uns aus dem Ausland auch Misstrauen entgegengebracht wird. Frieden, Demokratie, Entwicklung – das hatte früher eine Anziehungskraft. Heute wird die Arbeit der Stiftung in einigen Ländern eher skeptisch als ausländische Einflussnahme betrachtet.

Frau Professor Männle: Was halten Sie vom Brexit-Durcheinander? Macht es da wirklich Sinn, den Termin für den Austritt immer wieder zu verschieben?

Die Volksabstimmung und der damit einhergehende Diskussionsprozess waren überflüssig. Ich bin da ratlos, weil ein geregelter Brexit bereits schlimm genug ist, ein ungeordneter noch schlimmer wäre. Diese ständigen Verschiebungen führen zu Politikverdrossenheit. Gerade in der Demokratie muss man immer die Fakten auf den Tisch legen und darf nicht zulassen, dass Brunnenvergiftung stattfindet. Ein seriöser Diskussionsprozess hat beim Brexit einfach nicht stattgefunden. Wenn man nur kurzfristig, populistisch und mit falschen Fakten hantiert wie das die Brexit-Befürworter getan haben, um die Abstimmung für sich zu entscheiden, aber die möglichen Folgen nicht bedenkt, ist dies einfach unverantwortlich. Und das Ergebnis sehen wir jetzt: Misstrauen überall. Anhand des Brexits sehen wir auf der anderen Seite doch allzu gut, was uns allen Europa bringt: Aus Feinden wurden Freunde. Europa muss jetzt als geschlossene Einheit auftreten, nicht nur um andere Austritte zu verhindern, sondern sich auch ganz entschlossen gegen die Populisten in Stellung zu bringen, die diese großartige europäische Idee vergiften wollen. Darin sehe ich auch eine große Chance am 26. Mai, wenn in Europa gewählt wird, das großartige europäische Projekt weiter nach vorn zu treiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich das europäische Parlament weiter zersplittert, deshalb müssen wir uns gegen die europafeindlichen Kräfte zusammenschließen. Ich hoffe, dass die EVP die Mehrheit bekommt und verspreche mir auch durch den besonnen, sehr argumentativen Kurs von Manfred Weber, dass er Kommissionspräsident werden kann. Aber dazu gehört auch wieder eine riesige Überzeugungsarbeit und Motivationskampagne, um die Menschen zu den Urnen zu bringen. In diesem Zusammenhang fand ich es sehr interessant, dass in München ansässige Generalkonsulate aus Ländern der Europäischen Union auf uns zugekommen sind und gefragt haben, ob wir nicht gemeinsam aufklären können, dass auch ihre jeweiligen Bürger, die in Deutschland leben, hier wählen dürfen und sollen.

Warum haben es Frauen in einer demokratischen Gesellschaft weiterhin so schwer, in die richtigen, verantwortungsvollen Positionen zu bekommen? Sie kritisieren immer wieder, dass zu wenige Frauen in der Politik agieren. Wenn man derzeit in den Deutschen Bundestag blickt, liegt der Frauenanteil bei 32 Prozent. Das ist Ihnen aber immer noch zu wenig, oder?

Der Prozentsatz war früher auch schon einmal höher. Wir haben erst seit hundert Jahren ein Frauenwahlrecht, da gilt es, noch vieles nachzuholen. In der Nachkriegszeit wurde die Rolle der Frau in der Gesellschaft anders definiert. Ein Grund für den geringen Anteil von Frauen in der Politik mag darin liegen, dass für viele Frauen der Beitritt zu einer politischen Partei nicht unbedingt Priorität genießt. Frauen wahren Distanz, Machtbewusstsein ist nicht prioritär. Hannah Arendt gab eine eigene, weibliche Definition von Macht: Es geht nicht darum, den eigenen Willen gegen den Willen anderer durchzusetzen, vielmehr gilt es, das für richtig Erkannte gemeinsam zu vertreten. Frauen sehen aber, dass Macht oft egoistische Maximen verfolgt. Es ist für viele Frauen schwierig, in Positionen einzutreten, die männlich besetzt sind. Jedoch hat sich seit dem Beginn meiner politischen Karriere gerade in den letzten Jahren sehr viel getan; früher war die Stellung der Frau in einer Männerdomäne viel schwieriger, denn es bedurfte viel Durchsetzungskraft. Nur mit einem unbedingten Gestaltungswillen, dem Willen der Veränderung, konnte man alte Strukturen durchbrechen. In den konservativen Parteien war es schwieriger, sich als Frau zu behaupten, aber auch hier hat sich vieles zum Guten verändert. In einer Partei wie der CSU, in der die Direktmandate bisher aller meistens in Wahlkreisen gewonnen wurden, hat man in diesen ungern Frauen kandidieren lassen. Nur wenn der Gewinn eines Mandats von vorneherein als überwiegend erfolglos eingestuft wurde, war das anders. Ansonsten verwies man die Frauen auf die Listen. Aber nur wenige Mandate wurden für die CSU über die Liste vergeben. Inzwischen hat die CSU-Parteispitze deutlich erkannt, wie wichtig Frauen in der Politik sind, an der Basis setzt sich dies aber nur langsam durch. Es wäre blauäugig zu sagen, wir regeln die Vertretung der Frauen in den Parlamenten über eine Quotierung. Es bedürfte eine Änderung des Aufstellungsverfahrens oder sogar des Wahlrechts, um Gleichstellung zu erreichen. Frauen müssen zuerst lernen, zu kämpfen, sich die Macht aktiv zu erobern.

Nun haben wir Greta Thunberg und eine neue Klimabewegung. Was sagt die Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung dazu? Schulstreit in der Schulzeit korrekt?

Rechtliche Regelungen werden schnell obsolet, wenn man sich nicht daranhält. Und die Schulpflicht gehört dazu. Ich finde die Diskussion ein bisschen scheinheilig, gleichwohl ich es gut finde, dass demonstriert wird und die Öffentlichkeit weiß, was die jungen Leute wollen. Doch es bleibt dabei, die Schulpflicht kann deswegen nicht ausgehebelt werden. Demonstrationen sind in Ordnung, aber nicht die Verletzung von Recht. Also wären Demonstrationen außerhalb der Schulzeit das Mittel der Wahl gewesen. Dann wäre aber wohl der mediale Hype nicht so groß gewesen.

Die Hanns-Seidel-Stiftung berichtet seit vielen Jahren aus den verschiedensten Regionen der Welt, aber nicht unbedingt aus den Zentren, wo politisch etwas geschieht. Die Außensektionen sollen deshalb verändert werden! Was haben Sie vor?

Bei der Hanns-Seidel-Stiftung haben wir den Umstrukturierungsprozess dahingehend begonnen, dass wir zum Beispiel die Betreuung der osteuropäischen EU-Länder aus unserem eigentlichen, großen und vorher zuständigen Bereich Entwicklungspolitik herausgenommen und eine eigene Abteilung für den Europäischen Dialog gegründet haben. Weil eine Arbeit heute in Ungarn, Rumänien, aber auch manchmal in der Ukraine oder Albanien einen anderen Stellenwert hat, andere Akzente setzen muss als eine Arbeit im Kongo oder in Indien. Das habe ich sehr forciert und in Gang gebracht, obwohl der Demokratisierungsprozess in diesen europäischen Ländern noch nicht abgeschlossen ist. Wir hatten in den vergangenen 30 Jahren unseren Fokus nach der Wende ja sehr stark nach Osteuropa gelegt, Westeuropa als „sichere Bank“ betrachtet. Das haben wir nun dahingehend geändert, dass wir auch in Westeuropa den Dialog verstärkt fördern. Natürlich sind wir in Brüssel, Washington und Moskau vertreten. Nun haben wir zusätzlich Frankreich und England im Fokus. Leider sind wir unter den Politischen Stiftungen eher eine kleine und verfügen daher nicht über große finanzielle Mittel, um überall schnell Verbindungsbüros zu eröffnen. Aber unser neuer Ansatz besteht darin, Ost- und Westeuropa näher zusammenzubringen. Und damit hoffen wir, die künftige Europäische Einigung und Einheit ein Stück weiter voranzubringen.

Fragen: Stefan Groß