Zeitzeuge des Jahrhunderts – Martin Riedlinger

Dr. Martin Riedlinger

Martin Riedlinger, Historiker und langjähriger Chefredakteur der katholischen „Neuen Bildpost“ feiert am 7. November 2020 in Wien seinen hundertsten Geburtstag

Wien  –  „Grüß Gott, ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise“. Mit Wiener Charme begrüßt der 99-Jährige seinen Gast. In wenigen Tagen feiert Martin Riedlinger seinen hundertsten Geburtstag. Erst heute Morgen war sein Sohn da, ein Internist, hat den Vater untersucht und mal wieder nichts festgestellt. Riedlinger ist gesund, von kleineren Wehwehchen mal abgesehen. Im Wohnzimmer der mondänen Citywohnung unweit der Wiener Hofburg, in der Riedlinger und seine Frau leben, stehen Obst, Gebäck und ein guter Kaffee bereit.

„Wo sollen wir anfangen, wo aufhören?“, fragt Riedlinger. Wenn das so einfach wäre. Schließlich geht es um ein langes Leben, sein Leben, die Arbeit als stellvertretender Redaktionsleiter der Wiener Kirchenzeitung, als Chefredakteur der katholischen Neuen Bildpost im westfälischen Lippstadt und vor allem Riedlingers Engagement für die Missionsarbeit der Kirche rund um den Globus. Umgerechnet rund 35 Millionen Euro hat er dafür zusammengetragen und vielen, vor allem jungen Katholiken eine Ausbildung, ein Studium oder einfach nur den Start in ein besseres Leben ermöglicht. Bis heute ist Riedlingers Stiftung Neue Bildpost e.V. Sachwalter für in Not geratene Katholiken, ob in Afrika, Lateinamerika oder auf den Philippinen, wo das Leben nicht selten einer Gratwanderung zwischen wenig, noch-weniger und gar-nichts-haben gleicht.

Student statt Soldat

Sein eigenes Leben war mit Stolpersteinen gepflastert, sagt Riedlinger, und doch habe er auch „großes Glück“ gehabt. Zwei Kinder und mehrere Enkelkinder haben er und seine Frau, und gemeinsam genießen sie ihren wohl verdienten Ruhestand. Nach der Matura, dem österreichischen Abitur an einem katholischen Internatsgymnasium im ungarischen Nagyvejke ging Riedlinger kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Berlin, um dort Geschichte zu studieren. Sein Glück: Der ungarische Pass bewahrte den damals 19-Jährigen vor der Einberufung in die Wehrmacht, derweil die ungarischen Behörden ebenfalls keinen Zugriff auf ihn hatten. Während seine deutschen Kommilitonen an die Front mussten, besuchte Riedlinger Geschichtsvorlesungen, schrieb Seminararbeiten und verbrachte viel Zeit in Bibliotheken und Archiven. „In den ersten Kriegsjahren war das Leben in Berlin noch relativ ruhig“, erinnert sich Riedlinger. Nur hin und wieder kam es zu  Bombenangriffen, und wenn, dann waren die Spuren meist schnell beseitigt, auch dank zahlreicher Häftlinge aus dem nahen Lager Sachsenhausen, die zu Aufräumarbeiten anrücken mussten.

Riedlinger war in seinen Berliner Jahren nicht nur Student, sondern auch Zeitzeuge einer dunklen Epoche, jemand, der das Leben in Nazideutschland aus verschiedenen Blickwinkeln wahrnahm und schon vor Kriegsende im Mai 1945 „vieles von dem wusste“, was die meisten Deutschen später nicht wahrhaben wollten.

Informantin aus Goebbels‘ Ministerium

Riedlinger, damals ein junger Mann war in den vierziger Jahren auch gern gesehener Gast auf privaten Studentenpartys, wo er eine Sekretärin aus Joseph Goebbels` Propagandaministerium kennen lernte. Die erzählte ihm, was andere nicht wissen wollten, von Massenerschießungen im Osten und wilden Konzentrationslagern, die es damals überall in Europa gab. Das Angebot in die SS einzutreten, schlug Riedlinger höflich aus, da er vom kriminellen Charakter dieser Organisation wusste. „Dieses Mädel hat mir die Augen für das geöffnet, was in Deutschland damals wirklich vor sich ging“, erinnert sich Riedlinger, der nach Kriegsende zu Fuß von Berlin nach Wien marschierte, dort drei Jahre später sein Geschichtsstudium mit dem „Dr. phil.“ abschloss und sich als Autor und katholischer Redaktionsmanager einen Namen machte.


Dr. Martin Riedlinger mit Doktorarbeit und Ehefrau, in seiner Eigentumswohnung in Wien, nahe der Hofburg.
Über Benedikt Vallendar 75 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.