Verschollener Roman Siegfried PitschmannsEin Schlesier im Kombinat „Schwarze Pumpe“

Die Geschichte der DDR-Literatur ist, so scheint es, auch ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des SED-Staates, noch nicht abgeschlossen. Die drei Bände mit Tagebüchern und sieben Bände mit Briefen der frühverstorbenen Brigitte Reimann (1933-1973), die seit 1993 erschienen sind und einen seltenen Einblick in das nichtöffentliche Literaturgeschehen vermitteln, zeigen es. Der letzte Briefband „Wär schön gewesen“ (2013) versammelt die Korrespondenz mit ihrem zweiten Ehemann Siegfried Pitschmann (1930-2002), aus dessen Nachlass jetzt der Roman „Erziehung eines Helden“ veröffentlicht wurde.
Briefband und Roman wurden von Kristina Stella ediert, die in Kronberg/Taunus lebt und in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main arbeitet. Von ihr stammt auch das kluge Nachwort (Seite 203-229) zu Siegfried Pitschmanns verschollen geglaubtem Roman, der nun 55 Jahre nach seiner Entstehung in Bielefeld erschienen ist. Sein Verfasser wurde als Sohn eines Tischlers 1930 in Grünberg/Schlesien geboren, besuchte für wenige Jahre das dortige Gymnasium und floh mit seinen Eltern und Geschwistern 1945 vor der „Roten Armee“ ins thüringische Mühlhausen, wo er das Uhrmacherhandwerk erlernte. Damals wurde er auch Mitglied des „Arbeitskreises Junger Autoren Thüringens“ und arbeitete 1957/58, noch vor Ausrufung des „Bitterfelder Wegs“ am 24. April 1959, als Betonarbeiter und Maschinist im 1955 gegründeten Kombinat „Schwarze Pumpe“ bei Hoyerswerda.
Die Knochenarbeit, die Siegfried Pitschmann für ein halbes Jahr beim Aufbau des Kombinats „Schwarze Pumpe“ verrichtete, war aber keineswegs, wie in der Sekundärliteratur mitunter behauptet wird, eine Vorwegnahme des „Bitterfelder Wegs“ von 1959, sie war vielmehr die Folge einer Lebenskrise, einer gescheiterten Liebesbeziehung zu einer jungen Lehrerin in Hopfengarten bei Weimar. Immerhin ist er 1957 nicht als angehender Schriftsteller nach Hoyerswerda-Neustadt gezogen, sondern hat sich als unbekannter Arbeiter über die „Zentrale Arbeitskräftelenkung“ vermitteln lassen. Über seinen Lektor Günter Caspar (1924-1999) vom Berliner Aufbau-Verlag bekam er dann am 24. Februar 1958 einen Arbeitsvertrag für ein Romanmanuskript übermittelt, das bis zum 31. Mai abzuliefern gewesen wäre. Hierfür wurde ihm ein ruhiges Arbeitszimmer im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow am Schwielowsee zugewiesen, wo er den Roman mit dem Arbeitstitel „Schwarze Pumpe“ schreiben sollte. Doch wurden diese Pläne mit einem Schlag zunichte gemacht, als der 28jährige Autor am 29. März im Schriftstellerheim auf die Kollegin Brigitte Reimann traf, deren Ausstrahlung er sofort erlag. Sie hatte damals schon drei Erzählungen veröffentlicht und galt mit ihren knapp 25 Jahren als aufstrebende Begabung der noch jungen DDR-Literatur. Das Paar heiratete 1959 und zog 1960 nach Hoyerswerda, wo es einen Vertrag mit dem Kombinat „Schwarze Pumpe“ schloss, der es verpflichtete, über den Aufbau des Kombinats zu schreiben, Lesungen in den Brigaden abzuhalten und einen „Zirkel schreibender Arbeiter“ zu leiten. Produkt dieser Kulturarbeit vor Ort waren Brigitte Reimanns Erzählungen „Ankunft im Alltag“ (1961) und „Die Geschwister“ (1963).
Aber die beiden Autoren, die 1960 ihren gemütlichen Schreibtisch verlassen und den „Bitterfelder Weg“ eingeschlagen hatten, merkten rasch, dass die harte Wirklichkeit „an der Basis“ nicht mit der geschönten Wirklichkeit, wie sie in den DDR-Zeitungen beschrieben wurde, übereinstimmte. Brigitte Reimann hat ihre Betroffenheit darüber, was sie bei der Arbeit in „Schwarze Pumpe“ erfuhr, in einem „Offenen Brief“ an die SED-Zeitung NEUES DEUTSCHLAND ausgesprochen, der dann am 8. Dezember 1962 unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ auch gedruckt wurde
Da das schreibende Ehepaar Brigitte Reimann/Siegfried Pitschmann seine Erfahrungen an der „ökonomischen Basis“ in Hoyerswerda während der Jahre 1960/64 gemeinsam gemacht hat, werden dem „Umsiedler“ aus Schlesien diese Gedanken seiner Ehefrau auch vertraut gewesen sein. Von Bedeutung für die Literaturentwicklung nach dem 13. August 1961 war freilich, dass der „Bitterfelder Weg“ von 1959 unter dem Ansturm der Wirklichkeit so ganz anders verlief als er geplant war. In den beiden Erzählungen Christa Wolfs und Brigitte Reimanns „Der geteilte Himmel“ (1963) und „Die Geschwister“ (1963), die durch ihr Personal an den „Bauplätzen der Republik“ angesiedelt waren und die in ihrer äußeren Form dem Bitterfelder Muster („Schriftsteller in die Betriebe!“) folgten, wurde aber zugleich ein Thema aufgegriffen, das die DDR-Leser weit mehr interessierte: „Republikflucht“, die 1963 schon nicht mehr möglich war! Nicht Normerfüllung, ständige Überstunden für den Frieden und sozialistische Brigadefeiern erregten die Leser, sondern das Verschwinden Zehntausender von DDR-Bürgern über die innerdeutsche Grenze und die Gründe dafür.
Ganz anders verfasst aber war das Romanmanuskript Siegfried Pitschmanns, in dem das Thema „Republikflucht“ nirgendwo vorkam. Er war so tief auf die konfliktgesättigte DDR-Realität eingeschworen, dass er aufschrieb, was er bei den Bauarbeitern im Kombinat gehört und gesehen hatte. Dass er aber seine Erfahrungen nicht ideologisch zu verkleiden wusste, das wurde seinem Manuskript zum Verhängnis. Man konnte, dafür gibt es Belege, in DDR-Romanen fast alles über den Zustand der DDR-Gesellschaft schreiben, wenn man eine politische Perspektive aufzeigte, die es dem Leser ermöglichte, die „Keime des Morgen“ im Heute zu entdecken. Schönstes Beispiel dafür ist Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“ (1964), wo auf 912 Seiten alle Schattenseiten im eingemauerten SED-Staat nach 1961 geschildert wurden, wobei freilich am Horizont immer die Morgenröte der „klassenlosen Gesellschaft“ heraufdämmerte. Für diese Art zu schreiben aber war der junge Schriftsteller Siegfried Pitschmann zu ehrlich, sein Manuskript wurde nie gedruckt, blieb ein halbes Jahrhundert verschollen, bis es jetzt im Literarturzentrum Neubrandenburg, wo sein Nachlass aufbewahrt wird, gefunden wurde.
Das seiner Ehefrau Brigitte Reimann und den „ungezählten Lehrmeistern im Kombinat Schwarze Pumpe“ gewidmete Buch besteht aus sieben Kapiteln, von denen eins, das fünfte, unvollendet geblieben ist. Es ist die Geschichte eines jungen, im Roman namenlosen Pianisten, der nach einer gescheiterten Liebesbeziehung als Bauarbeiter ins Industriekombinat „Schwarze Pumpe“ gegangen ist, das seit zwei Jahren aufgebaut wird. Hier fährt er zunächst in schweißtreibender Arbeit Fertigbauteile zum Lastenaufzug, später nimmt er in schwindelerregender Höhe auf dem Dach die Fertigteile entgegen und wird dann an der Betonmischmaschine in Zwölf-Stunden-Schichten eingesetzt. Die ihm ungewohnte Arbeit ist hart und erschöpft ihn, das Zimmer im Neubaugebiet am Bahnhof von Hoyerswerda teilt er mit einem älteren Arbeiter. Seine neuen Kollegen, die von seinem Vorleben als Klavierspieler nichts wissen, kennt er nur mit ihren Vor- und Spitznamen, er selbst wird zuerst „Der Lange“ genannt, später, als er nach der Schicht in einer Kneipe am Klavier sein musikalisches Können vorgeführt hat, nur noch „King Klavier“.
Beim flüchtigen Lesen wird man dieses Buch kaum für einen DDR-Roman halten, zu versteckt sind die Hinweise auf den Ort der Entstehung: Von Sozialismus und Planerfüllung wird fast nie gesprochen, einmal werden „Wettbewerb“ und „Prämie“ (S.104) erwähnt, einmal auch „höhere Norm“ (S.105). Als sozialistischer Aufbauroman, der die Arbeiter zu höheren Leistungen anspornt, wäre dieses Buch nicht anerkannt worden! Im Grunde ist das, was Siegfried Pitschmann hier an Selbsterlebtem in fiktionaler Form vorträgt, völlig unpolitisch! Jeder Leser, der einmal auf dem Bau gearbeitet hat, wird feststellen, dass alles stimmt, was hier erzählt wird: Der Ablauf des Frühstücks (S.57/58) am ersten Arbeitstag, vorzüglich beobachtet vom Autor, oder der endlosen Regenstunden (S.74-90), als aus Langeweile über alles Mögliche gequatscht (auch über das Soldatenleben 1942 im besetzten Frankreich) und schließlich ein Kasten Bier geholt wird.
Das stärkste und eindringlichste Kapitel ist das letzte „King Klaviers Etüde in Beton“ (S.127-182), wo beschrieben wird, wie der namenlose Pianist, der diese Schwerarbeit nicht gewohnt ist, Nacht für Nacht an der Betonmischmaschine steht. Allein die Schilderung der aufkommenden Morgendämmerung (S.165/66), die das Schichtende ankündigt, ist ein Glanzstück dieser Prosa. Einmal in der Nacht fällt der Kompressor aus, das Ventil ist gerissen, und „King Klavier“, völlig unsolidarisch mit dem sozialistischen Aufbauwerk, freut sich über diese unerwartete Pause, zugleich aber ist er innerlich zerknirscht über seine Schadenfreude und bezichtigt sich der „psychologischen Sabotage“. Ein weiterer Höhepunkt in diesem Kapitel ist die unerhört genau beobachtete Heimfahrt am Morgen nach der Schicht mit dem Bus und der Weg durch das Neubauviertel zu seinem Zimmer.
Während der stumpfsinnigen Arbeit, während der eintönigen Pausen im Frühstücksraum, während der einschläfernden Heimfahrt nach der Schicht mit dem Bus nach Hoyerswerda ins Neubaugebiet schweifen die Gedanken des einstige Kaffeehauspianisten ständig ab in seine früheres Leben. In diesen Rückblenden erfährt man, dass der Vater im Zweiten Weltkrieg irgendwo am Ladoga-See gefallen und die Mutter früh verstorben ist. Er selbst wurde zum Trinker, als er seinen Traum, eine Karriere als Konzertpianist einzuschlagen, aufgeben musste. Seit zwei Jahren aber ist er „trocken“ und hat eine neue Lebensperspektive als Bauarbeiter.
Ein unglaublicher Stoff wäre das gewesen für einen DDR-Schriftsteller, der hier hätte darstellen können, wie ein gestrauchelter Mensch durch die Arbeit im Kollektiv zurückfindet ins geordnete Leben! So ähnlich war auch der Ansatz in Karl Heinz Jakobs` Roman „Beschreibung eines Sommers“ (1961), in dem der Held Tom Breitsprecher, auch er ein Trinker, durch das sozialistische Kollektiv auf der Baustelle in Wartha (gemeint ist Schwedt an der Oder) erzogen werden soll, dann aber der Liebe zur verheirateten Genossin Margit Marduk verfällt!
Einen sozialistischen Erziehungsroman, obwohl das der Titel vermuten lässt, wollte Siegfried Pitschmann freilich nicht schreiben, das hätte ihm zu viel an Verstellung abverlangt. Nach dem halben Jahr, das er 1957/58 in „Schwarze Pumpe“ verbracht hatte, war ihm sicher bewusst geworden, dass er Grenzen überschritte, wenn er lediglich aufschrieb, was er erlebt hatte, ohne ideologische Einkleidung. Die Zugeständnisse aber, zu denen er sich genötigt sah, sind selten. „Aber, zum Teufel, wir bauen den Sozialismus auf, wir können gar nicht anders, und wir wären unglücklich, wenn wir es nicht könnten. Nenn ruhig das Kind beim Namen: dieser Riesenklotz hier ist ein Stück Sozialismus, und diesen Riesenklotz stellen wir hin, und wir legen ganz schönes Tempo vor.“
Der Roman war noch nicht abgeschlossen, als er im Privatarchiv des Autors verschwand und erst zwölf Jahre nach seinem Tod entdeckt wurde. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Überarbeitung des Manuskripts abgebrochen wurde, nachdem es unvermutet in die Hände von Literaturideologen wie Erwin Strittmatter (1912-1994) gefallen war, die den Autor, ohne seinen Namen zu nennen, vernichteten, was 1959 bis zum Selbstmordversuch führte. Es fällt auf, dass Siegfried Pitschmann mehrmals beim Erzählen von der dritten in die erste Person wechselt und umgekehrt. Das ist kein spezielles Stilmittel des Autors, was auch denkbar wäre, sondern das ist ihm während des ungestümen Schreibvorgangs einfach unterlaufen. Vermutlich war das Manuskript ursprünglich in der ersten Person geschrieben und wurde dann in die dritte umgesetzt, in der man über sich selbst ungezwungener und hemmungsloser schreiben kann.
Mehrmals wird auch erzählt, wie die Arbeiter die abgehobenen „Herren von der Bauleitung“ einschätzen und dass „gestern zwei Leute vom mittleren Schornstein abgestürzt“ und verstorben seien. Das kommt vor auf Baustellen, auch im Sozialismus, aber man schreibt nicht darüber! Im Roman „Beschreibung eines Sommers“ (1961), der ungefähr um die gleiche Zeit, unmittelbar vor dem Mauerbau 1961, entstanden ist, werden Akte von Sabotage auf der Baustelle in Wartha erwähnt, die freilich Agenten des „Klassenfeinds“ in Westdeutschland verübt haben. In „Schwarze Pumpe“ sind es offensichtlich mangelnde Sicherheitsvorkehrungen, die zum Unfalltod zweier Arbeiter geführt haben.
Das Verhängnis, das dazu führte, dass dieser Roman zu DDR-Zeiten nie erscheinen durfte und dann auch erst ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des SED-Staats, begann damit, dass der Autor Siegfried Pitschmann beim Schriftstellerverband, dessen Magdeburger Sektion er angehörte, um eine „Arbeitshilfe“, eine Art Stipendium, nachsuchte. Angeraten hatte ihm das Walther Victor (1895-1971), ein rühriger Literaturfunktionär, der schon 1947 einen „Arbeitskreis junger Autoren“ gegründet hatte und der seit dem Goethe-Jahr 1949 für die Reihe „Lesebücher für unsere Zeit“ im Berliner Aufbau-Verlag (neun Bände 1949/61) verantwortlich zeichnete. Ihm war wohl der junge, etwas unbeholfene Autor, der freiwillig die schwere Arbeit in „Schwarze Pumpe“ auf sich genommen hatte, sympathisch, weshalb er ihn drängte, mit dem Ministerium für Kultur, das war Bedingung, wenn das Stipendium gewährt werden sollte (Minister 1958/61 war Alexander Abusch) , einen Vertrag zu schließen. Durch diesen Vertrag aber waren Ministerium und Schriftstellerverband berechtigt, Einblick in das Manuskript zu nehmen. Und so geriet es denn auch 1959 an Erwin Strittmatter, damals schon zweifacher Nationalpreisträger und 1959/61 unter Verbandspräsidentin Anna Seghers (1900-1983) Erster Sekretär des Verbandes.
Die Nachwortverfasserin Kristina Stella ist sich nicht sicher, ob der Schriftstellerverband damals, als die ersten Werke der DDR-Literatur wie Brigitte Reimanns Erzählung „Ankunft im Alltag“ (1961) gerade entstanden, gezielt nach Manuskripten junger Autoren gesucht hat, die dem vorgegebenen Bild einer sozialistischen Gegenwartsliteratur nicht entsprachen und somit als abschreckendes Lehrbeispiel dienen konnten. Sicher ist nur, dass dem neuen Verbandsfunktionär Erwin Strittmatter, der durch seine Romane „Ochsenkutscher“ (1950), „Tinko“ (1954) und „Der Wundertäter“ (1957) schon 1959 ein angesehener DDR-Schriftsteller war, das Manuskript eines unbekannten Autors mit dem Titel „Schwarze Pumpe“ gerade recht kam.
Er war auf der ersten „Bitterfelder Konferenz“, die am 24. April 1959 im Kulturpalast des „Elektrochemischen Kombinats“ in Bitterfeld stattfand, zweiter Redner nach dem SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht (1893-1973), der die politischen Ziele der neuen Literaturbewegung vorgegeben hatte. Erwin Strittmatter sprach zum Thema „An die Basis – gegen Selbstzufriedenheit“, seine Rede konnte man vier Tage später, am 28. April, in der SED-Zeitung NEUES DEUTSCHLAND nachlesen. Dabei ging es ihm vornehmlich um zwei Dinge: um die angeblich von amerikanischen Autoren übernommene „harte Schreibweise“ und um die sozialismusgerechte Gestaltung von Arbeitern beim Aufbau.
Mit der „harten Schreibweise“ war die stilistische Eigenart amerikanischer Autoren wie Ernest Hemingway (1899-1961) in seinen Kurzgeschichten und James Jones (1921-1977) und Norman Mailer (1923-2007) in ihren Romanen „Die Nackten und die Toten“ (1948) und „Verdammt in alle Ewigkeit“ (1951) gemeint. Sie verfassten ihre sozialkritische Prosa in einem knappen, lakonisch zugespitzten Stil und bezeichneten sich selbst als „lost generation“ (Gertrude Stein). Ob freilich der im Schreiben noch unerfahrene Siegfried Pitschmann diese Autoren kannte und ihren Stil nachzuahmen suchte, ist kaum nachweisbar. Eher noch kann man Einflüsse des „imperialistischen“ Lyrikers Gottfried Benn (1886-1956) in den Gedichten Franz Fühmanns (1922-1984) nachweisen. Erwin Strittmatter hatte in seiner Bitterfelder Philippika wohl eine Gruppe jüngerer DDR-Autoren im Visier, die sich dieser Schreibweise bedienten, um sich auf diese Weise ihre erschütternden Kriegserlebnisse von der Seele zu schreiben. So entstanden Harry Thürks (1927-2005) Roman „Die Stunde der toten Augen“ (1957) mit 446 Seiten und eine Reihe von Erzählungen wie die von Karl Mundstock (1915-2008) „Bis zum letzten Mann“ (1957) und „Die Stunde des Dietrich Conradi“ (1958) und die von Egon Günther (1927) „Dem Erdboden gleich“ (1957).
Alle diese Autoren nannte der staatlich verordnete Literaturkritiker Erwin Strittmatter aber nicht, als er die Vertreter der „harten Schreibweise“ angriff, er nannte auch den Namen des Nachwuchsautors Siegfried Pitschmann nicht, dessen Manuskript mit dem Arbeitstitel „Schwarze Pumpe“ er beim Schriftstellerverband in Berlin ausgeliehen und auf sein Gestüt nach Schulzenhof bei Dollgow im Ruppiner Land mitgenommen hatte. Zunächst lobte, als er am Podium in Bitterfeld mit seiner Rede begann, die angeblich aufregende DDR-Wirklichkeit, die von den Schriftstellern erst noch entdeckt werden müsste: „Täglich werden im Gedröhne der Fabriken, im Staub der Bauplätze und auf den Felderweiten der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Heldentaten vollbracht…Wer Kontakt mit unserer Wirklichkeit, mit unseren Menschen…hat, der brauchte nicht krampfhaft nach Themen und Entwürfen für ein neues Werk zu suchen.“ Die Berufsschriftsteller wären also selbst schuld daran, wenn sie sich Themen am häuslichen Schreibtisch ausdächten, wo sie doch im sozialistischen Alltag überall zu finden wären. Nichts anders ist Siegfried Pitschmann vorgegangen als Bauarbeiter bei der „Schwarzen Pumpe“ und beim Schreiben darüber, und er ist an dieser vorgefundenen Wirklichkeit, über die er nicht schreiben durfte, gescheitert.
Es ist möglich, dass Erwin Strittmatter das Manuskript des entstehenden Roman Siegfried Pitschmanns am 24. April 1959, als er in Bitterfeld am Podium stand, überhaupt noch nicht gesehen und gelesen hatte, dass er nur im Sekretariat des Schriftstellerbands vage darüber unterrichtet worden ist, aber dass er den jungen Kollegen in Hoyerswerda meinte, als er von der „harten Schreibweise“ sprach, ist offensichtlich, auch wenn er seine vernichtende Meinung ohne Begründung durch Textstellen äußert: „Aber es gibt noch andere Gründe, die die wirklich schöpferische und vorwärtstreibende Diskussion im Verband hemmen. Wir sind soeben dabei, eine Diskussion über die sogenannte `harte Schreibweise` vorzubereiten. Einige unserer jungen und einige unserer nicht mehr ganz jungen Autoren haben sich diese Schreibweise von nicht sehr fortschrittlichen amerikanischen oder westdeutschen Autoren abgeguckt. Sie sagen etwa so: Was faselt ihr davon, dass die Helden unseres Werktages poetische und liebenswerte Menschen sind? Die Realität ist hart. Das Kombinat `Schwarze Pumpe` wird nicht von weißen Lämmern aufgebaut. Na, das gewiss nicht! Es wird aber nicht nur von Radaubrüdern, Säufern, Glücksrittern und von solchen Arbeitern aufgebaut, die ihre Kräfte um der dicken Lohntüte willen verdoppeln und verdreifachen…Und doch gibt es bei uns ein solch literarisches liebloses Herangehen an die Arbeit unserer Werktätigen: Alles Poetisieren der Arbeiter und der Arbeit ist streng verpönt; nackt und kalt wird über Vorgänge und Menschen geschrieben, als seien die Arbeiter Maschinenteile, die zufällig auch denken können. So etwas Ähnliches drückt sich meines Erachtens auch in der sogenannten `harten Schreibweise` aus.“
Man sieht, dass Erwin Strittmatter das Manuskript, wenn überhaupt, nur oberflächlich kennt und keine Belege beibringen kann für seine Behauptungen. Siegfried Pitschmann hat von diesen „Radaubrüdern, Säufern, Glücksrittern“ nirgendwo geschrieben. Was man ihm vorwerfen könnte, ist lediglich, dass er die in „Schwarze Pumpe“ vorgefundene Wirklichkeit angenommen und in Literatur umgesetzt hat. Einmal schreibt er davon, dass zwei Arbeiter in einer vom Dauerregen bestimmten Zwangspause einen Kasten Bier holen, einmal auch von einem „stets besoffenen Brigadier“, einmal schreibt er über einen Kollegen an der Betonmischmaschine: „Er roch seinen Schnapsatem.“, und einmal auch, in der Rückblende, erzählt er davon, wie er in der Dorfkneipe von Hopfengarten bei Weimar vor Jahren einige Schnäpse getrunken hat. Mehr ist in diesem Manuskript nicht zu finden, worauf Erwin Strittmatter seine Anwürfe aufbaut. Aber der eifrige Verbandsfunktionär, der sich neben Walter Ulbricht profilieren möchte, konstruiert aus diesen dürftigen Textstellen eine asoziale Szenerie von „Radaubrüdern, Säufern, Glücksrittern“, die da auf einem „Bauplatz der Republik“ arbeiteten, während die klassenbewussten Arbeiter, das ist der Vorwurf, in diesem Roman überhaupt nicht vorkämen.
Siegfried Pitschmann, der am 24. April 1959 nach Bitterfeld nicht eingeladen war und offensichtlich auch nicht die Ausgabe der SED-Zeitung NEUES DEUTASCHLAND vom 28. April kannte, erfuhr zunächst nichts von dieser öffentlichen Vernichtung seines Manuskripts. In einem Brief an Günter Caspar, den Cheflektor des Aufbau-Verlags und langjährigen Freund, geschrieben am 13. Mai 1959, wehrte er sich vehement gegen die mit scharfen Argumenten vorgetragene Ablehnung zweier Manuskripte durch das Lektorat: das eine „Zehn Jahre nach einem Tod“ stammte von Brigitte Reimann und ist bis heute verschollen, das andere war sein „Schwarze-Pumpe“-Roman „Erziehung eines Helden“, der bis 2014 auch verschollen war. Er, der schließlich schon 1957/58 praktische Erfahrungen als Bauarbeiter in Hoyerswerda gesammelt hatte, erhob gegen die beiden Lektoren Günter Caspar und Joachim Schreck den Vorwurf sie hätten „gewisse Vorstellungen vom Leben ringsum…, die erheblich von unseren eigenen Beobachtungen abweichen, und man kann ganz gewiss nicht sagen, dass wir die ganze Zeit im Elfenbeinturm gesessen hätten. So, wie manche Leute die Helden in Büchern gern sehen möchten (und nicht nur in Büchern), sind sie leider nirgends anzutreffen.“
Später in seiner Rede sprach Erwin Strittmatter davon, dass „unsere Werktätigen instinktiv, aber zuweilen auch schon sehr bewusst merken, dass man auf diese Weise schlecht von ihnen spricht, schlecht von ihnen schreibt. All ihr Denken und Fühlen wird unterschlagen. Man manipuliert ihr Herz in die Lohntüte hinein.“ Beweise für diese kühne These bot der Bitterfelder Redner aber nicht an. Es gab sie nicht, und es konnte sie auch nicht geben! Und warum nicht? Erwin Strittmatter hat keinen einzigen DDR-Arbeiter darüber befragen können, ob er sich von Siegfried Pitschmanns Roman gekränkt und beleidigt fühlt. Und warum nicht? Das Buch, nur als Manuskript vorhanden bis zum Untergang des SED-Staats 1989/90, war nur wenigen Literaturfunktionären aus dem Aufbau-Verlag und dem Vorstand des Schriftstellerverbands zugänglich, es ist nie im Buchhandel erschienen, konnte also auch von niemandem gelesen werden. Und wenn es doch noch, um die entscheidenden Szenen gekürzt, erschienen wäre, ist fraglich, ob es die Arbeiter überhaupt gelesen hätten. Kann man von einem Arbeiter erwarten, wenn er abends erschöpft nach Hause kommt und die Beine hochlegt, dass er nach einem Buch greift, wo nur über Arbeit, Normerfüllung und sozialistische Zukunft geschrieben wird? Das Westfernsehen wird er einschalten und in eine bunte Welt flüchten, die ihm unerreichbar bleiben wird bis zum 9. November 1989. Es war dieselbe Situation wie im Herbst 1976 nach der Ausbürgerung des oppositionellen „Liedermachers“ Wolf Biermann (16. November 1976), als in den DDR-Betrieben Unterschriftenlisten auslagen, worin die Arbeiter aufgefordert wurden, sich vom „Staatsfeind“ Wolf Biermann (1936) zu distanzieren, von dem sie kein einziges Gedicht gelesen und kein einziges Lied gehört hatten!
Dabei haben Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann in ihrer gemeinsamen Zeit in Hoyerswerda 1960/64 genau dieses aus SED-Sicht „kritikwürdige“ Verhalten der Arbeiter in „Schwarze Pumpe“ erlebt, wie es der erfahrungsarme Erwin Strittmatter in seiner Bitterfeld Rede dreieinhalb Jahre zuvor bestritten hatte. Noch einmal sei hier an Brigitte Reimanns Brief „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“, abgedruckt im NEUEN DEUTSCHLAND vom 8. Dezember 1962, erinnert: „Ich fand das Heldentum, das ich erwartet hatte, in ihrer Arbeit, in den acht oder mehr Stunden in der Werkhalle oder auf dem Gelände. Allmählich merkte ich aber, dass viele nicht über ihre Lohntüte hinausblickten, dass es Streit wegen der Prämien gab, dass Solidaritätsmarken ganz gedankenlos geklebt wurden…,dass Tüftler, von denen ich glaubte, sie opferten ihre Abende um der Sache willen, in Wahrheit auf den materiellen Gewinn spekulierten, dass auf Versammlungen anders geredet wird als unter vier Augwen, und…dass die Wünsche und Ziele sich bei vielen in der Ansammlung von unerlässlichen Requisiten eines gehobenen Lebensstandards erschöpften. Der Fernsehapparat muss sein, der Kühlschrank und, als Krone des Ganzen, der Trabant. Wie ist es möglich, dass Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Haus die Filzlatschen anziehen und sich begnügen?“
Hier stießen offensichtlich zwei Welten aufeinander, die sich gegenseitig ausschlossen: die der Realität und die der Ideologie! Was Siegfried Pitschmann bei den Arbeitern in „Schwarze Pumpe“ erfahren hatte, war aus SED-Sicht „kleinbürgerlich“, fast schon „konterrevolutionär“. Ideologen wie Erwin Strittmatter, die vermutlich nie eine Baustelle betreten hatten, wussten aber genau, dass in Hoyerswerda und anderswo nur „klassenbewusste“ Arbeiter den Sozialismus aufbauten, allein aus diesem Grund war das Manuskript eines unbekannten Nachwuchsautors unerwünscht, wenn nicht schädlich und keineswegs zur Veröffentlichung geeignet.
Davon freilich, wie hier, durch Strittmatters Bitterfelder Rede, ein Manuskript durch tödliche Kritik vernichtet und das Leben eines jungen Schriftstellers zerstört wurde, erfuhr Siegfried Pitschmann erst nach drei Wochen, am 15. Juni 1959, durch Wolf Dieter Brennecke (1922-2002), den Vorsitzenden des Schriftstellerverbands im Bezirk Magdeburg. Der hatte ihm erzählt, dass in Berlin jetzt die von Erwin Strittmatter schon in Bitterfeld angekündigte Diskussion über die „harte Schreibweise“ stattgefunden hätte, wo es vornehmlich um sein unveröffentlichtes Buch gegangen wäre. Vier Tage später, am 19. Juni, schrieb Siegfried Pitschmann, völlig verwirrt, an Günter Caspar nach Berlin und bat um Aufklärung: „Auf der Diskussion trat ein Herr Gerhard Baumert vom Verbandssekretariat auf, welchen mein Buch als warnendes Beispiel für den `harten Stil` hinstellte. Er sagte zu Brennecke, der Aufbau-Verlag habe mein Manuskript dem Verband gegeben, weil er, der Verlag, nicht damit einverstanden sei und weil er es in dieser Form nicht veröffentlichen werde. Der Verband sei mit dem Verlag der gleichen Meinung, dass es sich um ein kleinbürgerliches Buch handle…“.
Elf Tage nach diesem Brief sollte es noch schlimmer kommen: Die BERLINER ZEITUNG veröffentlichte am 26. Juni unter dem Titel „Die harte Schreibweise“ den Artikel eines ungenannten Autors, der, wiederum, ohne den Namen zu nennen, Siegfried Pitschmann heftig angriff: „Einer unserer jungen Autoren arbeitet an einem Werk, das den Aufbau der `Schwarzen Pumpe` zum Inhalt hat. Die Menschen, die hier arbeiten, werden als ständig betrunken, geldgierig und ohne moralischen Halt geschildert…Zu den großartigen Leistungen, wie sie täglich beim Aufbau des Sozialismus vollbracht werden, befähigt unsere Arbeiter nicht die Geldgier, sondern ihr Bewusstsein.“
Nichts von dem, was hier geschrieben steht, stimmt! Aber für den jungen Autor, der zunehmend verstört war durch die unerwarteten Angriffe aus dem Verband, hatten diese nicht bewiesenen Behauptungen unübersehbare Folgen! Am 29. Juni 1959 schrieb er an Günter Caspar, dass am Wochenende zuvor in Halberstadt eine Verbandstagung stattgefunden hätte, zu der auch Erwin Strittmatter angereist gewesen wäre: „Mein Manuskript, das er nicht kannte, erbat er sich von mir, und er wird es mir in Berlin wiedergeben.“ Dort aber, in den Räumen des Schriftstellerbands, war eine „Aussprache“ über Siegfried Pitschmanns „anrüchiges“ Manuskript angesetzt, auf der neben Erwin Strittmatter auch die beiden Verbandsfunktionäre Gerhard Holtz-Baumert (1927-1996) und Eduard Klein (1923-1999) auftraten, um den Autor und sein Buch als „nicht sozialistisch“ niederzumachen. Brigitte Reimann kommentierte den Vorfall in ihren nachgelassenen Tagebüchern so: „Sie kennen die Theorie, aber sie kennen die Praxis nicht, und wo die Praxis nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmt, muss sie umgelogen und zurechtgerückt werden.“ (1983). Noch Jahrzehnte später, wenige Jahre vor seinem Tod, hat Siegfried Pitschmann der befreundeten Pfarrerin Marie-Elisabeth Lüdde aus Weimar von seinen Erinnerungen an diese „Aussprache“ berichtet: „Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach. Denn ich hatte meine nächste überschaubare Lebensspanne mit der Hoffnung auf dieses Buch und mit der Hoffnung auf mich selbst als Schriftsteller verbunden. Und ich dachte, damit trete ich mit einem Paukenschlag in die Literatur ein, und dann müsse man mich als Autor ernst nehmen.“ So nachzulesen in dem Nachlassband „Verlustanzeige“ (2004).
Mit seinem zu DDR-Zeiten nie erschienenen Roman reiht sich Siegfried Pitschmann ein in die Gruppe jener DDR-Autoren, deren Manuskripte aus ideologischen Gründen in „Aussprachen“ und polemischen Zeitungsartikeln zerfetzt und deren Autoren als warnendes Beispiel an den Pranger gestellt wurden. Ein anderer Autor, dem es ähnlich ging, war Werner Bräunig (1934-1976) mit seinem Wismut-Roman „Rummelplatz“ (2007), der in den Nachkriegsjahren im Uranbergbau im Erzgebirge spielt und mit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 endet. Nachdem im Herbst 1965 ein Vorabdruck aus dem Romanmanuskript erschienen war, wurde der 31jährige Autor hart bedrängtes Opfer des berüchtigten Dezemberplenums. Unter dem Titel „Das Erz des Lebens und der Literatur“ warfen ihm angebliche „Wismut-Kumpel“ in der SED-Zeitung NEUES DEUTSCHLAND vor, die Arbeiterklasse und „unsere sowjetischen Freunde und Genossen“ verleumdet zu haben. Der Roman von 768 Seiten durfte zu DDR-Zeiten nie erscheinen, wie Siegfried Pitschmann begann Werner Bräunig zu trinken und starb mit 42 Jahren.

Über Jörg Bernhard Bilke 251 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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