Der Mann, der der andere ist – Joyce Carol Oates – Der Mann ohne Schatten

Sonnenuntergang am Mittelmeer, Foto: Stefan Groß

„Wir sind Gedächtnis“ heißt ein Buch des Hirnforschers Martin Korte, in welchem er den Leser auf eine Reise ins Epizentrum des Ich-Bewusstseins mitnimmt. Unser Gedächtnis ist zweifelsohne eine Meisterleistung der Natur. Oder wie Cicero schrieb: „Das Gedächtnis ist der Schatzmeister und Hüter aller Dinge.“ Es bestimmt auf unglaublich vielfältige Art und Weise unser Denken und Handeln und damit unsere ganze Persönlichkeit: „Wir Menschen sind unser Gedächtnis – und unser Gedächtnis sind wir.“ Und es „zeichnet“ maßgeblich unseren Schatten, wie die analytische Psychologie nach Carl Gustav Jung einen der wichtigsten Persönlichkeitsanteile des Menschen bezeichnet. Der spanisch-mexikanische Filmemacher Luis Buñuel hat es vielleicht am Treffendsten ausgedrückt: „Man muss beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, wenn auch nur in Teilen, um zu erkennen, dass das Gedächtnis alles ist, was unser Leben ausmacht. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Verstand, unser Gefühl, sogar unsere Handlung. Ohne es sind wir nichts.“

Was aber, wenn es komplett verloren geht? So geschehen dem Amerikaner Henry Molaison. Am 1. September 1953, im Alter von 27 Jahren, wurde er durch eine Operation der Fähigkeit beraubt, neue Erinnerungen zu formen. Die Hirnforschung hingegen gewann ihren berühmtesten Patienten – genannt: H.M. Die britisch-kanadische Neuropsychologin Brenda Milner arbeitete jahrzehntelang – bis zu seinem Tod im Jahr 2008 – mit H.M. und wurde zur Pionierin der kognitiven Neurowissenschaften.
Aus dieser medizinischen Beziehung strickt Joyce Carol Oates ihren Roman „Der Mann ohne Schatten“. Bei ihr heißt der Patient Elihu Hoopes oder E.H. und seine kognitive Begleitperson wird die Neurowissenschaftlerin Margot.

„Er ist, was andere ihm sagen. Was er ist, hat sich verflüchtigt wie Rauch, der aufsteigt und abzieht.“

Durch eine besonders virulente Form der Herpes-simplex-Enzephalitis infiziert sich Elihu. Die daraus resultierende Gehirnschwellung wird zu spät erkannt. Nur ganze 70 Sekunden beträgt fortan sein Gedächtnis. Der 37-Jährige lebt ab sofort in grenzenloser Gegenwart. „In einer Zeitschleife sozusagen, einem Möbiusband, das unendlich in sich zurückläuft.“ Er ist nicht fähig, gedanklich durch die Zeit zu reisen und kann die Zukunft nicht ins Auge fassen. „Alles, was er sieht, verliert nach und nach seine Farbe – die Monarchen sind zu Geistermotten geworden. (…) Das Gehirn des Amnesiekranken gleicht einem Sieb, durch das ständig Wasser fließt, sich aber nie sammelt; die Zeit vor der Erkrankung des Mannes, die den Großteil seines achtunddreißig Jahre währenden Lebens ausmacht, ähnelt einem stillen, durch dichtes Laub erspähten fernen Gewässer in einer halluzinatorischen Landschaft von Cézanne.“

Die junge, emporstrebende Neurowissenschaftlerin, die in einer unguten Abhängigkeit zu ihrem Mentor Professor Milton Ferris steht und heftig für den angesehenen Wissenschaftler
schwärmt, macht aus E. H. eine Lebensaufgabe und generiert letztendlich dadurch ihre Karriere. Doch nicht nur das. Margot ist zwar physisch gesund, aber ihre Psyche eher verkümmert. Sie entwickelt sich von der unterwürfigen Jungwissenschaftlerin zu einer „Frau, über die man schon nach flüchtigem Blick weiß: berufstätig, unverheiratet, hart zu sich und zu anderen, von Kollegen und Untergebenen respektiert, allerdings widerwillig.“ Die Arbeit wird ihre Sucht und E.H. ihre stille “Rettung“ auf dem Dampfer beider Einsamkeit. Denn auch Margots Schatten ist – trotz intakten Gedächtnisses – eher unscheinbar und verkümmert. Zunehmend verliert sie die wissenschaftliche Distanz, wacht argusäugig über den Mann und schirmt ihn zunehmend „vor der komplizierten und (zuweilen) unaufrichtigen Welt der stark umkämpften wissenschaftlichen Forschung“ ab. In ihrem krankhaft zu nennenden, stark begrenzten Lebenskreis gefangen, wird Margot Elis Hoopes Pflegerin und entwickelt eine leidenschaftliche und verhängnisvoll gestörte Liebe zu dem Mann. „E. H.s Glück ist Margots heimliches Glück. Margot kennt kein Glück, das (insgeheim) nicht an sein Glück gebunden wäre.“

Literaturnobelpreisanwärterin Joyce Carol Oates hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Virtuos verwebt die Achtzigjährige US-Autorin Neurowissenschaft sowie reale und fiktive Bezüge miteinander. Hinzu setzt sie kriminologische Sentenzen, die aus E.H.s kindlicher Vergangenheit rühren und mit dem gewaltsamen Tod seiner Cousine Gretchen korrelieren. Ihr Text kann als Liebesroman gelesen werden und doch wieder nicht. Er enthält eine Unmenge an neurowissenschaftlichen Bezügen, die sie sicher aus dem Erfahrungsschatz ihres Ehemannes – einem Neurowissenschaftler – generierte. Die Figuren der klugen Erzählerin sind äußerst feinfühlig und sensibel gezeichnet „Aus der Vergangenheit eines Amnesiekranken steigen Inseln der Erinnerung auf, unvorhersehbar.“, ist im Buch zu lesen. Dies könnte auch für den gesamten Plot stehen. Ein Roman mit ungeheuer sprachlicher Wucht, ohne Brüche von Silvia Morawetz ins Deutsche übertragen. Mit einem Wort: Großartig!

„So lange waren sie durch die Gegenwart getrieben. So lange waren sie jeder ohne Schatten unterwegs.“ Doch „in seiner Nähe hält man ängstlich Ausschau nach dem eigenen Schatten: nicht, dass man ihn verloren hat!“

Joyce Carol Oates
Der Mann ohne Schatten
Originaltitel: The Man without a Shadow
Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main (23. Mai 2018)
381 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3103972768
ISBN-13: 978-3103972764
Preis: 24,00 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.